Matthias Galle
Interessenvertretung startet bundesweite Aktionswoche – Lockdown verstärkt die Bedrohung in den betroffenen Familien
Mehr Geld für die Online-Beratung von Kindern und Jugendlichen aus suchtbelasteten Familien sowie ein insgesamt verbessertes und dauerhaft finanziertes Netz der Hilfe fordert Nacoa Deutschland. Die Zeit des Lockdowns bedeutet eine stärkere Bedrohung der Kinder und Jugendlichen in den betroffenen Familien. Die Online-Beratung wurde stärker nachgefragt als je zuvor. Das Hilfesystem muss nun „krisenfest“ gemacht werden, forderte die Interessenvertretung für Kinder aus suchbelasteten Familien in einer gemeinsamen Pressekonferenz mit dem Paritätischen Wohlfahrtsverband zum Auftakt einer bundesweiten Aktionswoche vom 14. bis zum 20. Februar.
Knapp drei Millionen Kinder und Jugendliche in Deutschland leben mit mindestens einem suchtkranken Elternteil zusammen. Auf ihre Situation und die besondere Gefährdung dieser Kinder und Jugendlichen in der Pandemie macht Nacoa Deutschland in einer Aktionswoche vom 14. bis zum 20. Februar aufmerksam. „Die Lockdowns und Kontaktbeschränkungen der vergangenen Monate haben die Lage der betroffenen Kinder noch einmal verschärft“, sagte Corinna Oswald, Vorstandsmitglied bei Nacoa Deutschland, auf einer Pressekonferenz am Freitag. Der Stress in den Familien und somit oft auch der Alkohol- und Drogenkonsum der Eltern sei gestiegen. „Für die Kinder aus Suchtfamilien bedeutet dies eine noch stärkere Bedrohung durch die Folgeerscheinungen der Sucht“, sagte Oswald. Als Beispiele nannte sie, dass Kinder häusliche Gewalt erleiden und erleben oder vernachlässigt werden, wenn beispielsweise bei geschlossenen Schulen und Kindergärten auch die Essensversorgung wegfällt.
Zugleich verstärkt die Schließung von Bildungs- und Freizeiteinrichtungen und die Beschränkung von Kontakten die Isolation der betroffenen Kinder und Jugendlichen. Viele suchen Hilfe im Internet. Das Online-Beratungsteam von NACOA wurde in den vergangenen zwölf Monaten so stark nachgefragt, wie noch nie. „Von Februar bis Mai 2020 erreichten uns insgesamt über 1.000 Anfragen per E-Mail, etwa doppelt so viele wie im Jahr davor“, sagte Stephanie Bosch von der Nacoa-Online-Beratung. In den Sommermonaten sei die Zahl geringfügig mit der Lockerung der Maßnahmen gesunken, im Herbst aber wieder deutlich gestiegen. Die Pandemiesituation wirke wie ein Brennglas auf die strukturellen Probleme in suchtbelasteten Familien mit ihren spezifischen Gefahren und Nöten für die betroffenen Kinder.
Als Konsequenz aus dieser Erfahrung fordert Nacoa mehr Geld für spezielle Online-Beratungsangebote für Kinder- und Jugendliche suchtkranker Eltern. „Das Hilfeangebot muss krisenfest gemacht werden, damit mehr fachliche Kapazitäten für diese Arbeit vorgehalten werden können“, sagte Bosch. „Wir müssen weg von dem System einer unsicheren Projektförderung, hin zu einer Regelfinanzierung.“
Auch Rolf Rosenbrock, Vorstandsvorsitzender des Paritätischen Gesamtverbandes, forderte mehr Geld für die Arbeit mit Kindern und Jugendlichen aus suchtbelasteten Familien. „Präventions- und Hilfestrukturen müssen unter echter Beteiligung der Zivilgesellschaft aufgebaut und dabei auch bestehende Strukturen und Netzwerke genutzt werden. Ziel muss es dabei sein, die vielen jetzt schon hervorragend arbeitenden Projekte dauerhaft zu finanzieren und in die Fläche zu bringen.“
Rosenbrock verwies zudem auf das neue Kinder- und Jugendstärkungsgesetz (SGB VIII Novelle), das derzeit im Bundestag debattiert wird. Für dieses hat eine interministerielle Arbeitsgruppe auch unter Beteiligung von Nacoa und dem Paritätischen Wohlfahrtsverband Empfehlungen zur Verbesserung der Situation von Kindern mit psychisch oder suchtkranken Eltern erarbeitet. „Lediglich ein Teil der 19 empfohlenen Einzelmaßnahmen wurde bisher zumindest angegangen. Beschlossen oder umgesetzt ist jedoch bisher noch immer nichts“, kritisierte Rosenbrock. „Es kann nicht sein, dass Politik sich weitere Jahre Zeit lässt, die stille Not der betroffenen Kinder und Jugendlichen zu lindern.“
Rosenbrock forderte die Bundesregierung unter anderem dazu auf, die vom Parlament beschlossenen Aufklärungsmaßnahmen sowie die geplante Entstigmatisierungskampagne bundesweit zu starten. Auch für Corinna Oswald von Nacoa stellt die Entstigmatisierung von Suchtkranken und ihren Angehörigen eine äußerst wichtige Aufgabe dar. „Nur wenn klar wird, dass es sich bei der Sucht um eine Erkrankung handelt, kann ohne Schuld- und Schamgefühle um Hilfe nachgesucht bzw. diese vorurteilsfrei gewährt werden“. Insofern gehöre das Thema in die Öffentlichkeit und unbedingt in die Ausbildungspläne von pädagogischen und medizinischen Berufen.
Mit der Aktionswoche, die am Sonntag (14. Februar) beginnt und zeitgleich auch von NACOA in anderen Ländern, wie im Vereinigten Königreich, Korea und später auch in der Schweiz veranstaltet wird, widmet sich Nacoa Deutschland dieser Aufgabe. Bundesweit bieten in den kommenden Tagen Hilfseinrichtungen und Organisationen aus über 50 Städten mehr als 90 Veranstaltungen und Aktionen an. Pandemiebedingt überwiegend in digitalen Formaten organisieren sie in der kommenden Woche Webinare, Diskussionen, Interviews und kreative Angebote für Betroffene und Fachkräfte. Mit vielen Angeboten werden Kinder und Jugendliche direkt angesprochen. „Auch wenn die Form diesmal eine andere ist, das Ziel bleibt dasselbe: Wir möchten den vergessenen Kindern eine Stimme geben!“
Eine detaillierte Liste mit allen Veranstaltungen und weiteren Informationen zur Aktionswoche finden Sie unter www.coa-aktionswoche.de. Über die Situation von Kindern und Jugendlichen aus suchtbelasteten Familien und die Arbeit von Nacoa informieren Sie unsere Website www.nacoa.desowie unsere Social-Media-Angebote auf Facebook, Instagram und Youtube. Dort finden sie auch ab dem kommenden Sonntag zur Mittagszeit ein tägliches „Lunchtime-Interview“ mit Betroffenen oder Experten zum Thema.
PM: Der Paritätische