Ein Gespräch mit dem Philosophen Jürgen Habermas über die Notwendigkeit einer internationalen Weltordnung
Der Privatisierungswahn ist an sein Ende gekommen. Nicht der Markt, sondern die Politik ist für das Gemeinwohl zuständig: Ein Gespräch mit dem Philosophen Jürgen Habermas über die Notwendigkeit einer internationalen Weltordnung
DIE ZEIT: Herr Habermas, das internationale Finanzsystem ist kollabiert, es droht eine Weltwirtschaftskrise. Was beunruhigt Sie am meisten?
Jürgen Habermas: Was mich am meisten beunruhigt, ist die himmelschreiende soziale Ungerechtigkeit, die darin besteht, dass die sozialisierten Kosten des Systemversagens die verletzbarsten sozialen Gruppen am härtesten treffen. Nun wird die Masse derer, die ohnehin nicht zu den Globalisierungsgewinnern gehören, für die realwirtschaftlichen Folgen einer vorhersehbaren Funktionsstörung des Finanzsystems noch einmal zur Kasse gebeten. Und dies nicht wie die Aktienbesitzer in Geldwerten, sondern in der harten Währung ihrer alltäglichen Existenz. Auch im globalen Maßstab vollzieht sich dieses strafende Schicksal an den ökonomisch schwächsten Ländern. Das ist der politische Skandal. Jetzt mit dem Finger auf Sündenböcke zu zeigen, halte ich allerdings für Heuchelei. Auch die Spekulanten haben sich im Rahmen der Gesetze konsequent nach der gesellschaftlich anerkannten Logik der Gewinnmaximierung verhalten. Die Politik macht sich lächerlich, wenn sie moralisiert, statt sich auf das Zwangsrecht des demokratischen Gesetzgebers zu stützen. Sie und nicht der Kapitalismus ist für die Gemeinwohlorientierung zuständig.
ZEIT: Sie haben gerade Vorlesungen an der Universität Yale gehalten. Was waren für Sie die eindrücklichsten Bilder dieser Krise?
Habermas: Über die Bildschirme flimmerte die hoppersche Melancholie der Endlosschleife langer Reihen verlassener Häuschen in Florida und anderswo – mit dem Schild »Foreclosure« im Vorgarten. Anschließend die Busse mit den neugierigen Kaufinteressenten aus Europa und den Reichen aus Lateinamerika, und dann der Makler, der ihnen im Schlafzimmer die aus Wut und Verzweiflung zerstörten Wandschränke zeigt. Nach meiner Rückkehr hat mich überrascht, wie sehr sich die aufgeregte Stimmung in den USA vom gleichmütigen business as usual hierzulande unterscheidet. Dort verbanden sich die höchst realen wirtschaftlichen Ängste mit der heißen Endphase eines der folgenreichsten Wahlkämpfe. Die Krise hat auch den breiten Wählerschichten ihre persönliche Interessenlage schärfer zu Bewusstsein gebracht. Sie nötigte die Leute nicht notwendig zu vernünftigeren, aber zu rationaleren Entscheidungen – jedenfalls im Vergleich zur letzten, durch Nine-Eleven ideologisch aufgeputschten Präsidentschaftswahl. Diesem zufälligen Zusammentreffen wird Amerika, wie ich unmittelbar vor der Wahl anzunehmen wage, den ersten schwarzen Präsidenten verdanken – und damit einen tiefen historischen Einschnitt in der Geschichte seiner politischen Kultur. Darüber hinaus könnte aber die Krise auch in Europa einen Wechsel der politischen Großwetterlage ankündigen.
ZEIT: Was meinen Sie damit?
Habermas: Solche Gezeitenwechsel verändern die Parameter der öffentlichen Diskussion; damit verschiebt sich das Spektrum der für möglich gehaltenen politischen Alternativen. Mit dem Koreakrieg ging die Periode des New Deal zu Ende, mit Reagan und Thatcher und dem Abflauen des Kalten Krieges die Zeit der sozialstaatlichen Programme. Und heute ist mit dem Ende der Bush-Ära und dem Zerplatzen der letzten neoliberalen Sprechblasen auch die Programmatik von Clinton und New Labour ausgelaufen. Was kommt jetzt? Ich hoffe, dass die neoliberale Agenda nicht mehr für bare Münze genommen, sondern zur Disposition gestellt wird. Das ganze Programm einer hemmungslosen Unterwerfung der Lebenswelt unter Imperative des Marktes muss auf den Prüfstand.
ZEIT: Für Neoliberale ist der Staat nur ein Mitspieler auf dem ökonomischen Feld. Er soll sich kleinmachen. Ist dieses Denken nun diskreditiert?
Habermas: Das hängt vom Verlauf der Krise ab, von der Wahrnehmungsfähigkeit der politischen Parteien, von den öffentlichen Themen. In der Bundesrepublik herrscht ja noch eine eigentümliche Windstille. Blamiert hat sich die Agenda, die Anlegerinteressen eine rücksichtslose Dominanz einräumt, die ungerührt wachsende soziale Ungleichheit, das Entstehen eines Prekariats, Kinderarmut, Niedriglöhne und so weiter in Kauf nimmt, die mit ihrem Privatisierungswahn Kernfunktionen des Staates aushöhlt, die die deliberativen Reste der politischen Öffentlichkeit an renditesteigernde Finanzinvestoren verscherbelt, Kultur und Bildung von den Interessen und Launen konjunkturempfindlicher Sponsoren abhängig macht.
ZEIT: Und nun, in der Finanzkrise, werden die Folgen des Privatisierungswahns sichtbar?
Habermas: In den USA verschärft die Krise die schon jetzt sichtbaren materiellen und moralischen, sozialen und kulturellen Schäden einer von Bush auf die Spitze getriebenen Politik der Entstaatlichung. Die Privatisierung der Alters- und Gesundheitsvorsorge, des öffentlichen Verkehrs, der Energieversorgung, des Strafvollzuges, militärischer Sicherungsaufgaben, weiter Bereiche der Schul- und Universitätsausbildung und das Ausliefern der kulturellen Infrastruktur von Städten und Gemeinden an das Engagement und die Großherzigkeit privater Stifter gehören zu einem Gesellschaftsdesign, das in seinen Risiken und Auswirkungen mit den egalitären Grundsätzen eines sozialen und demokratischen Rechtsstaates schlecht zusammenpasst.
ZEIT: Staatliche Bürokratien können einfach nicht rentabel wirtschaften.
Habermas: Aber es gibt verletzbare Lebensbereiche, die wir den Risiken der Börsenspekulation nicht aussetzen dürfen; dem widerspricht die Umstellung der Altersversorgung auf Aktien. Im demokratischen Verfassungsstaat gibt es auch öffentliche Güter wie die unverzerrte politische Kommunikation, die nicht auf die Renditeerwartungen von Finanzinvestoren zugeschnitten werden dürfen. Das Informationsbedürfnis von Staatsbürgern kann nicht von der konsumreifen Häppchenkultur eines flächendeckenden Privatfernsehens befriedigt werden.
ZEIT: Haben wir es, um ein kontrovers diskutiertes Buch von Ihnen zu zitieren, mit einer »Legitimationskrise des Kapitalismus« zu tun?
Habermas: Seit 1989/90 gibt es kein Ausbrechen mehr aus dem Universum des Kapitalismus; es kann nur um eine Zivilisierung und Zähmung der kapitalistischen Dynamik von innen gehen. Schon während der Nachkriegszeit war die Sowjetunion für die Masse der westeuropäischen Linken keine Alternative. Deswegen habe ich 1973 von Legitimationsproblemen »im« Kapitalismus gesprochen. Und die stehen wieder, je nach nationalem Kontext mehr oder weniger dringlich, auf der Tagesordnung. Ein Symptom sind die Forderungen nach Begrenzung der Managergehälter oder nach Abschaffung der golden parachutes, der unsäglichen Abfindungen und Bonuszahlungen.
ZEIT: Das ist doch Politik fürs Schaufenster. Im nächsten Jahr sind Wahlen.
Habermas: Stimmt, das ist natürlich symbolische Politik und eignet sich zum Ablenken vom Versagen der Politiker und ihrer wirtschaftswissenschaftlichen Berater. Die wussten seit Langem über den Regelungsbedarf der Finanzmärkte Bescheid. Ich habe mir gerade Helmut Schmidts glasklaren Artikel Beaufsichtigt die neuen Großspekulanten! vom Februar 2007 noch einmal durchgelesen (ZEIT Nr. 6/07). Alle wussten es. Aber in Amerika und Großbritannien haben die politischen Eliten die ungezügelte Spekulation, solange es eben gut ging, für nützlich gehalten. Und auf dem europäischen Kontinent hat man sich dem Washington-Konsens gebeugt. Auch hier gab es eine breite Koalition der Willigen, für die Herr Rumsfeld nicht zu werben brauchte.
ZEIT: Der Washington-Konsens war das berühmt-berüchtigte Wirtschaftskonzept von IWF und Weltbank aus dem Jahr 1990, mit dem zuerst Lateinamerika und dann die halbe Welt reformiert werden sollte. Seine zentrale Botschaft lautete: Trickle down. Lasst die Reichen reicher werden, dann sickert der Wohlstand schon zu den Armen.
Habermas: Seit vielen Jahren häufen sich die empirischen Belege dafür, dass diese Prognose falsch ist. Die Effekte der Wohlstandssteigerung sind national und weltweit so asymmetrisch verteilt, dass sich die Armutszonen vor unser aller Augen ausgebreitet haben.
ZEIT: Um etwas Vergangenheitsbewältigung zu betreiben: Warum ist der Wohlstand so ungleich verteilt? Hat das Ende der kommunistischen Bedrohung den westlichen Kapitalismus enthemmt?
Habermas: Mit dem nationalstaatlich beherrschten, durch keynesianische Wirtschaftspolitiken eingehegten Kapitalismus, der ja den OECD-Ländern einen aus historischer Sicht unvergleichlichen Wohlstand beschert hat, war es schon früher am Ende – nach der Preisgabe des Systems der festen Wechselkurse und dem Ölschock. Die ökonomische Lehre der Chicago-Schule ist bereits unter Reagan und Thatcher zur praktischen Gewalt geworden. Das hat sich unter Clinton und New Labour – auch während der Ministerzeit unseres jüngsten Helden Gordon Brown – nur fortgesetzt. Allerdings hat der Zusammenbruch der Sowjetunion im Westen einen fatalen Triumphalismus ausgelöst. Das Gefühl, weltgeschichtlich recht bekommen zu haben, übt eine verführerische Wirkung aus. In diesem Fall hat es eine wirtschaftspolitische Lehre zu einer Weltanschauung aufgebläht, die alle Lebensbereiche penetriert.
ZEIT: Der Neoliberalismus ist eine Lebensform. Alle Bürger sollen zu Unternehmern und zu Kunden werden…
Habermas: …und zu Konkurrenten. Der Stärkere, der sich in der freien Wildbahn der Konkurrenzgesellschaft durchsetzt, darf sich diesen Erfolg als persönliches Verdienst anrechnen lassen. Es ist von abgründiger Komik, wie Wirtschaftsmanager – und nicht nur die – dem Elitegeschwätz unserer Talkrunden auf den Leim gehen, sich allen Ernstes als Vorbilder feiern lassen und mental den Rest der Gesellschaft unter sich lassen. Als könnten sie nicht mehr unterscheiden zwischen funktionalen und ehrpusselig-ständegesellschaftlichen Eliten. Was, bitte, soll am Charakter von Leuten in Führungspositionen, die ihre Arbeit halbwegs ordentlich tun, exemplarisch sein? Ein weiteres Alarmzeichen war die Bush-Doktrin vom Herbst 2002, die die Irakinvasion vorbereitet hat. Das sozialdarwinistische Potenzial des Marktfundamentalismus hat sich seitdem nicht mehr nur in der Gesellschaftspolitik, sondern auch in der Außenpolitik entfaltet.
ZEIT: Aber es war ja nicht Bush allein. Ihm stand eine erstaunliche Schar einflussreicher Intellektueller zur Seite.
Habermas: Und viele haben nichts hinzugelernt. Bei Vordenkern wie Robert Kagan tritt nach dem Irakdesaster das Denken in Carl Schmittschen Wolfs-Kategorien noch deutlicher hervor. Den regressiven Absturz der Weltpolitik in ein atomar bewaffnetes, hochbrisantes Machtgerangel kommentiert er heute mit den Worten: »Die Welt ist wieder normal geworden.«
ZEIT: Aber noch einmal zurück: Was wurde nach 1989 versäumt? Ist das Kapital schlicht zu mächtig geworden gegenüber der Politik?
Habermas: Mir ist im Laufe der neunziger Jahre klar geworden, dass die politischen Handlungskapazitäten den Märkten auf supranationaler Ebene nachwachsen müssen. Danach sah es ja auch in den frühen neunziger Jahren zunächst aus. George Bush der Ältere sprach programmatisch von einer Neuen Weltordnung und schien auch die lange Zeit blockierten – und verächtlich gemachten! – Vereinten Nationen in Anspruch nehmen zu wollen. Die vom Sicherheitsrat beschlossenen humanitären Interventionen stiegen zunächst sprunghaft an. Der politisch gewollten wirtschaftlichen Globalisierung hätten eine weltweite politische Koordination und die weitere Verrechtlichung der internationalen Beziehungen folgen sollen. Aber die ersten ambivalenten Ansätze sind schon unter Clinton stecken geblieben. Dieses Defizit bringt die gegenwärtige Krise wieder zu Bewusstsein. Seit den Anfängen der Moderne müssen Markt und Politik immer wieder so ausbalanciert werden, dass das Netz der solidarischen Beziehungen zwischen den Mitgliedern einer politischen Gemeinschaft nicht reißt. Eine Spannung zwischen Kapitalismus und Demokratie bleibt immer bestehen, weil Markt und Politik auf gegensätzlichen Prinzipien beruhen. Auch nach dem letzten Globalisierungsschub verlangt die Flut der in komplexer gewordenen Netzwerken freigesetzten dezentralisierten Wahlentscheidungen nach Regelungen, die es ohne eine entsprechende Erweiterung von politischen Verfahren der Interessenverallgemeinerung nicht geben kann.
ZEIT: Aber was heißt das? Sie halten an Kants Kosmopolitismus fest und nehmen die von Carl Friedrich von Weizsäcker ins Spiel gebrachte Idee einer Weltinnenpolitik auf. Mit Verlaub, das klingt ziemlich illusionär. Man muss sich doch nur den Zustand der Vereinten Nationen anschauen.
Habermas: Selbst eine gründliche Reform der Kerninstitutionen der Vereinten Nationen wäre nicht ausreichend. Gewiss, der Sicherheitsrat, das Sekretariat, die Gerichtshöfe, überhaupt die Kompetenzen und Verfahren dieser Institutionen müssten dringend für eine globale Durchsetzung des Gewaltverbots und der Menschenrechte fit gemacht werden – für sich genommen schon eine immense Aufgabe. Aber selbst wenn sich die UN-Charta zu einer Art Verfassung der internationalen Gemeinschaft entwickeln ließe, fehlte in diesem Rahmen immer noch ein Forum, auf dem sich die bewaffnete Machtpolitik der Weltmächte in institutionalisierte Verhandlungen über die regelungsbedürftigen Probleme der Weltwirtschaft, der Klima- und Umweltpolitik, der Verteilung umkämpfter Energieressourcen, knapper Trinkwasserbestände und so weiter verwandelt. Auf dieser transnationalen Ebene entstehen Verteilungsprobleme, die nicht in derselben Art wie Menschenrechtsverstöße oder Verletzungen der internationalen Sicherheit – letztlich als Straftatbestände – entschieden werden können, sondern politisch ausgehandelt werden müssen.
ZEIT: Dafür gibt es doch schon eine bewährte Einrichtung: die G8.
Habermas: Das ist ein exklusiver Club, in dem einige dieser Fragen unverbindlich besprochen werden. Zwischen den überspannten Erwartungen, die sich an diese Inszenierungen knüpfen, und dem dürftigen Ertrag der folgenlosen Medienspektakel besteht übrigens ein verräterisches Missverhältnis. Der illusionäre Erwartungsdruck zeigt, dass die Bevölkerungen die ungelösten Probleme einer künftigen Weltinnenpolitik sehr wohl wahrnehmen – und vielleicht stärker empfinden als ihre Regierungen.
ZEIT: Die Rede von »Weltinnenpolitik« klingt eher nach den Träumen eines Geistersehers.
Habermas: Noch gestern hätten es die meisten für unrealistisch gehalten, was heute passiert: Die europäischen und asiatischen Regierungen überbieten sich im Hinblick auf die fehlende Institutionalisierung der Finanzmärkte mit Regulierungsvorschlägen. Auch SPD und CDU machen Vorschläge zu Bilanzpflicht und Eigenkapitalbildung, zur persönlichen Haftung der Manager, zur Verbesserung der Transparenz, der Börsenaufsicht und so weiter. Von einer Börsenumsatzsteuer, die schon ein Stück globaler Steuerpolitik wäre, ist freilich nur gelegentlich die Rede. Die vollmundig angestrebte neue »Architektur des Finanzsystems« wird gegen Widerstände aus den USA ohnehin nicht einfach durchzusetzen sein. Aber ob sie angesichts der Komplexität dieser Märkte und der weltweiten Interdependenz der wichtigsten Funktionssysteme überhaupt genügen würde? Völkerrechtliche Verträge, an die die Parteien heute denken, können jederzeit aufgekündigt werden. Daraus entsteht noch kein wetterfestes Regime.
ZEIT: Selbst wenn dem Weltwährungsfonds neue Kompetenzen übertragen würden, wäre das noch keine Weltinnenpolitik.
Habermas: Ich will keine Voraussagen machen. Angesichts der Probleme können wir bestenfalls konstruktive Überlegungen anstellen. Die Nationalstaaten müssten sich zunehmend, und zwar im eigenen Interesse, als Mitglieder der internationalen Gemeinschaft verstehen. Das ist das dickste Brett, das in den nächsten Jahrzehnten zu bohren wäre. Wenn wir mit dem Blick auf diese Bühne von »Politik« reden, meinen wir oft noch das Handeln von Regierungen, die das Selbstverständnis von souverän entscheidenden kollektiven Akteuren geerbt haben. Doch dieses Selbstverständnis eines Leviathan, das sich seit dem 17. Jahrhundert zusammen mit dem europäischen Staatensystem entwickelt hat, ist schon heute nicht mehr ungebrochen. Was wir bis gestern »Politik« nannten, ändert täglich seinen Aggregatzustand.
ZEIT: Aber wie passt das zum Sozialdarwinismus, der sich, wie Sie sagen, seit Nine-Eleven in der Weltpolitik wieder breitmacht?
Habermas: Vielleicht sollte man einen Schritt zurücktreten und auf einen größeren Zusammenhang schauen. Seit dem späten 18. Jahrhundert haben Recht und Gesetz die politisch verfasste Regierungsgewalt durchdrungen und ihr im Binnenverkehr den substanziellen Charakter einer bloßen »Gewalt« abgestreift. Nach außen hat sie sich von dieser Substanz allerdings genug bewahrt – trotz des wuchernden Geflechts von internationalen Organisationen und der zunehmenden Bindungskraft des internationalen Rechts. Dennoch ist der nationalstaatlich geprägte Begriff des »Politischen« im Fluss. Innerhalb der Europäischen Union haben beispielsweise die Mitgliedstaaten nach wie vor das Gewaltmonopol inne und setzen gleichwohl das Recht, das auf supranationaler Ebene beschlossen wird, mehr oder weniger klaglos um. Dieser Formwandel von Recht und Politik hängt auch mit einer kapitalistischen Dynamik zusammen, die sich als ein Wechselspiel von funktional erzwungener Öffnung und sozialintegrativer Schließung auf jeweils höherem Niveau beschreiben lässt.
ZEIT: Der Markt sprengt die Gesellschaft auf, und der Sozialstaat schließt sie wieder?
Habermas: Der Sozialstaat ist eine späte und, wie wir erfahren, fragile Errungenschaft. Die expandierenden Märkte und Kommunikationsnetze hatten immer schon eine aufsprengende, für den einzelnen Bürger zugleich individualisierende und befreiende Kraft; darauf ist aber stets eine Reorganisation der alten Solidarverhältnisse in einem erweiterten institutionellen Rahmen erfolgt. Dieser Prozess hat in der frühen Moderne begonnen, als die hochmittelalterlichen Herrschaftsstände in den neuen Territorialstaaten schrittweise parlamentarisiert – Beispiel England – oder – Beispiel Frankreich – durch absolutistische Könige mediatisiert worden sind. Der Vorgang hat sich im Gefolge der Verfassungsrevolutionen des 18. und 19. Jahrhunderts und der Sozialstaatsgesetzgebungen des 20. Jahrhunderts fortgesetzt. Diese rechtliche Zähmung des Leviathan und des Klassenantagonismus war keine einfache Sache. Aber aus denselben funktionalen Gründen weist die gelungene Konstitutionalisierung von Staat und Gesellschaft heute, nach dem weiteren Schub der wirtschaftlichen Globalisierung, in die Richtung einer Konstitutionalisierung des Völkerrechts und der zerrissenen Weltgesellschaft.
ZEIT: Welche Rolle spielt Europa in diesem optimistischen Szenario?
Habermas: Eine andere als die, die es in der Krise tatsächlich gespielt hat. Ich verstehe nicht ganz, warum das Krisenmanagement der Europäischen Union so gelobt wird. Gordon Brown konnte mit seiner denkwürdigen Entscheidung den amerikanischen Finanzminister Paulson zu einer Kehrtwende in der Interpretation des mühsam beschlossenen bailout bewegen, weil er über den französischen Präsidenten und gegen das anfängliche Widerstreben von Merkel und Steinbrück die wichtigsten Spieler der Euro-Zone an Bord geholt hat. Man muss sich diesen Verhandlungsprozess und dessen Ergebnis nur genau anschauen. Es waren doch die drei mächtigsten in der EU vereinten Nationalstaaten, die als souverän handelnde Akteure vereinbart haben, ihre jeweils verschiedenen, aber gleichgerichteten Maßnahmen zu koordinieren. Trotz der Anwesenheit der Herren Juncker und Barroso hat das Zustandekommen dieser internationalen Vereinbarung klassischen Stils kaum etwas mit einer gemeinsamen politischen Willensbildung der Europäischen Union zu tun. Die New York Times hat denn auch die europäische Unfähigkeit zu einer gemeinsamen Wirtschaftspolitik nicht ohne eine gewisse Häme registriert.
ZEIT: Und worauf führen Sie diese Unfähigkeit zurück?
Habermas: Der weitere Verlauf der Krise macht ja den Makel der europäischen Konstruktion offenbar: Jedes Land reagiert mit eigenen wirtschaftspolitischen Maßnahmen. Weil die Kompetenzen in der Union, vereinfacht gesagt, so verteilt sind, dass Brüssel und der Europäische Gerichtshof die Wirtschaftsfreiheiten durchsetzen, während die dadurch entstehenden externen Kosten auf die Mitgliedsländer abgewälzt werden, gibt es heute keine gemeinsame wirtschaftspolitische Willensbildung. Die wichtigsten Mitgliedstaaten sind schon über die Grundsätze, wie viel Staat und wie viel Markt man überhaupt will, zerstritten. Und jedes Land betreibt seine eigene Außenpolitik, allen voran die Bundesrepublik. Die Berliner Republik vergisst bei aller sanften Diplomatie die Lehren, die die alte Bundesrepublik aus der Geschichte gezogen hatte. Die Regierung reckt sich mit Wohlgefallen in ihrem seit 1989/90 erweiterten außenpolitischen Handlungsspielraum und fällt zurück ins bekannte Muster der nationalen Machtspiele zwischen Staaten, die doch längst auf das Format von Duodezfürstentümern geschrumpft sind.
ZEIT: Und was sollten diese Duodezfürsten tun?
Habermas: Sie fragen mich nach meiner Wunschliste? Da ich die abgestufte Integration nach Lage der Dinge für den einzig möglichen Weg zu einer handlungsfähigen Europäischen Union halte, bietet sich Sarkozys Vorschlag zu einer Wirtschaftsregierung der Euro-Zone als Anknüpfungspunkt an. Das bedeutet ja nicht, dass man sich damit schon auf die etatistischen Hintergrundannahmen und protektionistischen Absichten ihres Initiators einlassen würde. Verfahren und politische Ergebnisse sind zweierlei. Der »engeren Zusammenarbeit« auf wirtschaftspolitischem Gebiet würde dann eine in der Außenpolitik folgen müssen. Und beides könnte nicht länger über die Köpfe der Bevölkerungen hinweg ausgekungelt werden.
ZEIT: Das unterstützt ja nicht einmal die SPD.
Habermas: Die SPD-Führung überlässt es dem Christdemokraten Jürgen Rüttgers, dem »Arbeiterführer« an Rhein und Ruhr, in diese Richtung zu denken. In ganz Europa stehen die sozialdemokratischen Parteien mit dem Rücken zur Wand, weil sie bei schrumpfenden Einsätzen Nullsummenspiele betreiben müssen. Warum ergreifen sie nicht die Chance, aus ihren nationalstaatlichen Käfigen auszubrechen und sich auf europäischer Ebene neue Handlungsspielräume zu erschließen? Auch gegenüber einer regressiven Konkurrenz von links könnten sie sich so profilieren. Was immer heute »links« und »rechts« bedeuten mag, nur gemeinsam könnten die Euro-Länder ein weltpolitisches Gewicht erlangen, das ihnen eine vernünftige Einflussnahme auf die Agenda der Weltwirtschaft erlaubt. Sonst liefern sie sich als Onkel Sams Pudel an eine ebenso gefährliche wie chaotische Weltlage aus.
ZEIT: Stichwort Onkel Sam – Sie müssten doch von den USA tief enttäuscht sein. Für Sie waren die USA das Zugpferd der neuen Weltordnung.
Habermas: Was bleibt uns anderes übrig, als auf dieses Zugpferd zu setzen? Die USA werden aus der jetzigen Doppelkrise geschwächt hervorgehen. Aber sie bleiben einstweilen die liberale Supermacht und befinden sich in einer Lage, die es ihnen nahelegt, das neokonservative Selbstverständnis des paternalistischen Weltbeglückers gründlich zu revidieren. Der weltweite Export der eigenen Lebensform entsprang dem falschen, dem zentrierten Universalismus alter Reiche. Die Moderne zehrt demgegenüber von dem dezentrierten Universalismus der gleichen Achtung für jeden. Es liegt im eigenen Interesse der USA, nicht nur ihre kontraproduktive Einstellung gegenüber den Vereinten Nationen aufzugeben, sondern sich an die Spitze der Reformbewegung zu setzen. Historisch gesehen, bietet das Zusammentreffen von vier Faktoren – Supermacht, älteste Demokratie auf Erden, Amtsantritt eines, wie ich hoffe, liberalen und visionären Präsidenten sowie eine politische Kultur, in der normative Orientierungen einen bemerkenswerten Resonanzboden finden – eine unwahrscheinliche Konstellation. Amerika ist heute tief verunsichert durch das Scheitern des unilateralistischen Abenteuers, durch die Selbstzerstörung des Neoliberalismus und den Missbrauch seines exzeptionalistischen Bewusstseins. Warum sollte sich diese Nation nicht, wie so oft, wieder aufrappeln und versuchen, die konkurrierenden Großmächte von heute – die Weltmächte von morgen – rechtzeitig in eine internationale Ordnung einzubinden, die keine Supermacht mehr nötig hat? Warum sollte ein Präsident, der – aus einer Schicksalswahl hervorgegangen – im Inneren nur noch einen minimalen Handlungsspielraum vorfindet, nicht wenigstens außenpolitisch diese vernünftige Chance, diese Chance der Vernunft ergreifen wollen?
ZEIT: Sogenannten Realisten würden Sie damit nur ein müdes Lächeln entlocken.
Habermas: Ich weiß, dass vieles dagegen spricht. Der neue amerikanische Präsident müsste sich gegen die von der Wall Street abhängigen Eliten in der eigenen Partei durchsetzen; er müsste wohl auch von den naheliegenden Reflexen eines neuen Protektionismus abgehalten werden. Und die USA würden für eine derart radikale Kehrtwende den freundschaftlichen Antrieb eines loyalen, aber selbstbewussten Bündnispartners brauchen. Einen im kreativen Sinne »bipolaren« Westen kann es freilich nur geben, wenn die EU lernt, nach außen mit einer Stimme zu sprechen und, tja, das international angesparte Vertrauenskapital zu nutzen, um selber weitsichtig zu handeln. Das »Ja, aber…« liegt auf der Hand. In Krisenzeiten braucht man vielleicht eher eine etwas weiter ausgreifende Perspektive als den Rat des Mainstreams und das Klein-Klein des bloßen Durchwurschtelns.
Das Gespräch führte Thomas Assheuer
Portrait
Jürgen Habermas
Er ist der wohl einflussreichste deutsche Philosoph und findet weltweit Gehör. Wie kein Zweiter prägt der 79-Jährige die Debatten der Gegenwart. Habermas studierte in Göttingen, Zürich und Bonn unter anderem Philosophie, Geschichte, Psychologie und Ökonomie. Nach seiner Promotion über Schellings »Weltalterphilosophie« kam er als Assistent von Theodor W. Adorno in Kontakt mit der Frankfurter Schule. Erstes Aufsehen erregte Habermas mit einem 1953 in der »FAZ« publizierten Angriff auf Martin Heidegger, dem er die Rehabilitierung des Nationalsozialismus vorwarf. Ein breites Echo löste auch seine Habilitationsschrift »Strukturwandel der Öffentlichkeit«aus. 1964 folgte Habermas dem Philosophen Max Horkheimer auf den Frankfurter Lehrstuhl und wurde zu einem intellektuellen Anreger der 68er-Bewegung, mit deren radikalen Vertretern er sich aber rasch überwarf. Sein Hauptwerk, die »Theorie des kommunikativen Handelns« (1981),beschreibt das Ideal einer Demokratie, deren kritischer Maßstab das verständigungsorientierte Gespräch aller Bürger ist. Die Öffentlichkeit, das diskursive Herz dieser Gesellschaft, dürfe von keinem Systemimperativ »kolonisiert« werden – auch nicht von der Wirtschaft.
Der Nachdruck des Interviews von Thomas Assheuer und Jürgen Habermas erfolgt durch freundliche Genehmigung von Professor Dr. Habermas und Thomas Brackvogel. (Quelle: DIE ZEIT, 06.11.2008 Nr. 46)
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