Nach der Schlichtungvon Stuttgart

Die Wochen der Schlichtungsdiskurse sind vorbei und mit ihnen auch die Illusionen, die zu ihrer Einrichtung führte. Die zivilgesellschaftliche Unruhe-Situation nach der Schlichtung ist dieselbe wie davor, und noch nicht einmal mit dem Schein eines Verstehenszuwachses.
Woran liegt das? Womöglich in einer tiefverwurzelten aufgeklärten Einbildung von Selbstbestimmung? – Was heißt das? Der gegenwärtige, prima vista poltik-verdrossene und protestierende (grün-pietistische) Mittelklasse-Mensch hat offenbar ein Selbstverständnis, das sich aus folgendem Dreisatz deduziert: da das Volk – konstitutionell – der Souverän ist und er selber sich als souverän versteht, läge es doch nahe, das er das Volk sei … Dazu wird eine magische Selektionsrhetorik – Wir-sind-das-[Stuttarter]Volk – intoniert. Und die ‚anderen’? Denen braucht man wohl keine Träne nachzuweinen …
Ist das womöglich ein Anzeiger künftiger Umgestaltung der (formal-)demokratischen Herrschaftskultur? Denn all die Projekte, die die Volksseele zum Kochen bringt, sind allesamt nach den Formen & Regeln der parlamentarischen – repräsentativen – Demokratie in Gang gesetzt worden, und sie werden dennoch alle vom Grund auf abgelehnt. Ist dieser außerparlamentarische direkte Widerstand gegen (momentan zunächst nur) Hochtechnologieprojekte der Überschritt hin zur direkten Demokratie? Zur wahren VolksDemokratie? Die erscheint zuerst und wirksam als hinhaltender passiver Widerstand und landfriedensbrüchiger Krawall. Das zieht dann eine Schlichtung nach sich! Die konnte über Wochen mitverfolgt werden. Klärten sich dabei die Fronten? Was wurde denn ‚versachlicht’, da der Schlichter doch nur zwei Monologe (mit je eigenen Sachverständigen) moderiert? Hätte man nicht vom alten Kants (aus dem Streit der Fakultäten) lernen können: Streit kann und soll nicht durch friedliche Übereinkunft beigelegt werden, sondern bedarf des rechtskräftigen Spruchs eines Richters der Vernunft. Die aber ist nie selbsternannt oder direkt evident (egal, ob deus vult, natura vult oderdemos vult), sondern regel- & formlegitimiert.
Wird es aber nicht bald, schon wegen der unaufhaltsamen Selbstbestimmungsdynamik, auch eine Pluralität von Schlichtungen geben müssen? Wieso denn nur dieser (nicht unparteiische!?) Schlichter und nicht ein anderer? Auf welche Schlichtung müßte dann gehört werden? Kann es überhaupt einen Kompromiß zwischen guter Natur- & Kulturbewahrung und der schlechten innovationsversessenen Politik geben?
Wird da im Ganzen nicht eine alte Königsberger Kontroverse (zwischen Kant & Hamann) zur Aufklärung zugespitzt: der aufklärerische Impetus besteht wohl derzeit ebensosehr darin, sich aus seiner selbstverschuldeten Unmündigkeit zu lösen (also Mut zum Selbstdenken), als dann auch darin, selbsternannte Vormünder namhaft zu machen (sich aus selbstverschuldeter Vormundschaft zu begeben) – also Aufklärung der Aufklärer! Kurzum: Wir sind, wie Nicolás Gómez Dávila bemerkte, Zeugen des „ewigen Vorgangs, der jede Doktrin in der Hand des Volkes zu einer Dummheit entarten lässt.“

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Über Steffen Dietzsch 18 Artikel
Steffen Dietzsch ist Professor für Philosophie und Wissenschaftlicher Mitarbeiter am Institut für Philosophie der Humboldt-Universität Berlin. Er ist Direktor des Kondylis-Instituts für Kulturanalyse und Alterationsforschung (Kondiaf). Seine Forschungsschwerpunkte liegen in den Bereichen Kantforschung und -biographik, Philosophie des Deutschen Idealismus und europäische Nietzsche-Rezeption. Zuletzt erschien: "Wandel der Welt, Gedankenexperimente", Heidelberg 2010.

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