Mystisch, biblisch und liturgisch Kent Naganos besonnene Deutung von Wagner, Strawinsky und Bruckner

Gäb`s jenes beliebte BR-TV-Quiz „Was bin ich?“ noch, der Dirigent Kent Nagano hätte da die rätselvolle Handbewegung machen können, die Robert Lemke als Erkennungszeichen vom Stargast einforderte, mit der er, mehrmals bei Anton Bruckners f-Moll-Messe, die er an den liturgischen Schluss eines sakral gestimmten Gasteig-Konzerts setzte, den Philharmonischen Chor zum Aufstehen aufrief. So fein und rund und herzlich wie diese zarte Handdrehung gerieten dem in München gottlob wieder einmal gastierenden Ex-Staatsopern-GMD seine besonnenen Einstudierungen mit den Münchner Philharmonikern: Vor dem wuchtigen, gut strukturierten und klanglich spannenden Bruckner ließ Nagano Richard Wagners „Parsifal“-Vorspiel (breit, fast zu gedehnt, düster, mystisch und drückend) und darauf Igor Strawinskys berühmte, kurz so genannte „Psalmensinfonie“ folgen.
Die lange nicht mehr gehörte „Symphonie de Psaumes“ in der revidierten Fassung von 1948 kommt ganz ohne die Weichheit der hohen Streicher aus, überantwortet zwei Klavieren rhythmische Vorgaben, gewährt dem Holz – neben den angepassten Bläsern – viel Raum und lässt vor allem den – hier sehr gut in seiner Massigkeit passenden – Chor sprechen: „Alleluja“, „Laudate Dominum“ (diesen Herrenlobpreis in wechselnder Silbenbetonung, einer höchst raffinierten Volte des russisch-orthodox gläubigen Komponisten). Andreas Herrmann, nun schon fast 20 Jahrzehnte Chor-Leiter, darf die Vorbereitung dieses Konzerts zu den Pluspunkten seines Wirkens rechnen. Gleichwohl mochte sich der alttestamentliche „Schauer“ der drei panischen Strawinsky-Sätze beim vielleicht nicht ganz „anwesenden“ Zuhörer nicht einstellen, was er sich auf das Soll-Konto des wohl ganz auf den nach der Pause folgenden Bruckner eingestellten Dirigenten zu schieben erlaubt.
Bilderreich, versunken und tief im Katholischen wurzelnd: der Linzer mit seiner teils anmutigen, teils himmelstürmend gestylten, 1867 erst-skizzierten, 1893 letztmals überarbeiteten f-Moll-Messe WAB 28. Nagano gab sich den ja charakterlich so unterschiedlich konzipierten Teilen voll und ganz hin, forderte den Chor zu grandios sich türmenden Wogen des vertrauenden Bittens (Kyrie, Agnus Dei), des Hymnischen (Gloria, Benedictus) und des opernhaft Ausladenden (Credo) auf. Hier kam allerdings das viel zu hochkarätig besetzte Solisten-Quartett nur mühsam durch – Nagano war da rücksichtslos an manchen Stellen und überdeckte gnadenlos selbst den hellen Sopran der Anne Schwanewilms mit zu viel Verve. Alt (Mihoko Fujimura) und Bass (René Pape) waren markant in ihren spärlichen Einwürfen. Der diese Bruckner-Messe, das ließ er mimisch-gestisch merken, im Schlaf kennende Tenor Michael Schade glänzte bei seinem Alleingang („Et in carnatus est“) als noch immer verlässlicher, kerniger Ensemble-Sänger.

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Kent Nagano mit dem viel zu hochkarätig besetzten Solistenquartett, dem Philharmonischen Chor und den Münchner Philharmonikern (Foto: Hans Gärtner) am 2. Juli 2015 im Münchner Gasteig

Über Hans Gärtner 502 Artikel
Prof. Dr. Hans Gärtner, Heimat I: Böhmen (Reichenberg, 1939), Heimat II: Brandenburg (nach Vertreibung, `45 – `48), Heimat III: Südostbayern (nach Flucht, seit `48), Abi in Freising, Studium I (Lehrer, 5 J. Schuldienst), Wiss. Ass. (PH München), Studium II (Päd., Psych., Theo., German., LMU, Dr. phil. `70), PH-Dozent, Univ.-Prof. (seit `80) für Grundschul-Päd., Lehrstuhl Kath. Univ. Eichstätt (bis `97). Publikationen: Schul- u. Fachbücher (Leseerziehung), Kulturgeschichtliche Monographien, Essays, Kindertexte, Feuilletons.

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