Mord aus reinen Begriffen?

Wir sind immer noch ziemlich irritiert über die augenscheinlich gänzlich emotionslosen Tötungsabläufe des jungen Massenmörders von Oslo. Was in jener Stunde dort die mit Bosheit unerfahrenen, wehrlosen Kindern und Jugendlichen über sich ergehen lassen mussten, ist in Europa beispiellos. Es ist nicht vergleichbar mit der sexuellen Explosion des Serienmörders Haarmann (der vor 80 Jahren zwei Dutzend Knaben zerfleischte), wohl auch nicht mit den schulpflichtigen Amokläufern von heute. So ist man massenmedial fast dankbar, dass von ihm ein paar Begründungselaborate die Runde machen. Doch hier scheiden sich dann die Geister. Wer danach – ‚da-haben-wir-ja-Tatdenkzeuge’ –-: wie nach einem ‚hermeneutischen’ Strohhalm greift, könnte eigentlich sicher sein, das ihm der Hintergrund dieses Verbrechens verschlossen bleibt. Schon weil Theorie & Praxis natürlich nie auf solch naturalistisch-milieutheoretische Weise zusammenhängen. Daraus ergeben sich höchstens – als Kollateralschäden jener Tat – diverse Denunziationsvorwürfe an die üblichen, politisch-inkorrekten Verdächtigen.
Dieser Kindermord von Oslo lässt sich letztlich überhaupt nicht aus naheliegenden politisch-extremistischen Motivlagen ‚erklären’, obwohl es natürlich eine extremistische Tat par excellence war. Die, so könnte man es nennen, Gegen-Gesinnung des Täters (die ihn seine Opfer finden lässt) hat wohl ‚tiefere’, nicht mehr verhandelbare Überzeugungsgründe. Die sind ihrerseits allerdings gar nicht so neu. Die verkörpern ein Typus von Abwendung gegenüber der jeweiligen (sozialen, kulturellen, Lebens-)Gegenwart, den es immer in der Moderne seit den letzten hundert Jahren gegeben hat. Dieser Abwehrgestus gegenüber der Moderne bedient sich zeitübergreifend hygienischer Metaphorik. Die ganze politische und technologische Gegenwart sei (so hören wir seit dem Vormärz!) ein schmutziges Massiv, unrein, hybrid, verdorben, lebensfeindlich, über-(& ent)fremdet. Reinheit sei also das allererst Gebotene, – in der Nation, in der Familie, in der Kultur, in der Sprache, in der Technik, in der Religion, in der Person (Rasse oder Klasse). Die wirkungsmächtigen Zivilisations- und Kapitalismuskritiker beanspruchten für sich, so gegensätzlich sie auch untereinander waren, immer dieses Reinheits-Postulat: als die erlösende Reinheit der Eigentumslosen (im Bolschewismus, Pol-Potismus, Maoismus), die arische Reinheit (des europäischen Nationalsozialismus), die völkische und konfessionelle Reinheit (in Theokratien), bis hin zur Reinheit des Blutes (in Familien). Gerade dagegen hat Nietzsche schon seine Warnung erhoben, nämlich „dass der Begriff reines Blut der Gegensatz eines harmlosen Begriffs ist.“
Der Mörder von Oslo hat offensichtlich solche ‚felsenfeste ‚Überzeugungen’ der Reinheit [die, auch nach einem Diktum von Nietzsche, sowieso in’s Irrenhaus gehören …]. Die sind natürlich, wie man es bis zum Überdruss hört, ‚krude’, ‚verschroben’, etc. Aber es sind eben unverrückbare Positionen, die dem Mörder immer eine Sicherheit geben, auf die wir lebensweltliche Relativsten mit klammheimlichen Neid schauen. Und so suchen wir verdrossen nach etwas ‚an-Stelle-dessen’, auf das wir unsere Abwehr richten können.

Über Steffen Dietzsch 18 Artikel
Steffen Dietzsch ist Professor für Philosophie und Wissenschaftlicher Mitarbeiter am Institut für Philosophie der Humboldt-Universität Berlin. Er ist Direktor des Kondylis-Instituts für Kulturanalyse und Alterationsforschung (Kondiaf). Seine Forschungsschwerpunkte liegen in den Bereichen Kantforschung und -biographik, Philosophie des Deutschen Idealismus und europäische Nietzsche-Rezeption. Zuletzt erschien: "Wandel der Welt, Gedankenexperimente", Heidelberg 2010.

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