Montaigne und der gesunde Menschenverstand

Hans Peter Balmer, Montaigne und die Kunst der Frage, Grundzüge der Essais, Narr Francke Attempto Verlag Tübingen, Tübingen 2008, ISBN: 978-3-7720-8261-0

Ein bemerkenswertes kleines Büchlein liegt nunmehr im Francke-Verlag Tübingen vor. Bemerkenswert in zweierlei Hinsicht: Zum einen erweist es sich als gut lesbare Einführung in die Denkkunst des Michel de Montaigne (1533-1592). Zum andern wird der Grand-Seigneur des philosophischen Essays auf seine Aktualität hin gelesen.
Daß Montaigne innerhalb der Philosophiegeschichtsschreibung nie wirklich zum Mainstream gehörte, daß er immer wieder gegen die unendlichen Mühlen des Cartesianismus und später von seinen Verächtern gegen den kantischen Rigorismus anstreiten mußte, läßt einen der ersten Vertreter des bon sens, des gesunden Menschenverstandes, als Lichtfigur der abendländischen Geistesgeschichte erscheinen, als einen analytischen Denker, der vom konkreten Fall ausgeht und die Welt nicht aus dem Blickwinkel des Dogmatischen betrachtet.
Hier wird nirgends methodisch-mathematisch exakt deduziert, hier wird die Welt nicht in den ewig sich selbst durchlaufenden Kreis des Cogito ergo sum gepreßt. Montaigne bleibt bescheidener, wenn er an die Stelle ego cogitans die Frage Que sais-je?, Was weiß ich?, stellt. Anstelle das ewige Ich zu errichten, das sich als reflektierendes selbst gewinnt, stellt Montaigne, wie Hans Peter Balmer herausarbeitet, das skeptische Argument, den humanistischen Diskurs, das immer offen bleibende Gespräch, ja, letztendlich die kommunikative Kompetenz, die zur wahrhaftigen conditio humana anleitet und führt.
Statt wie Spinoza deduzierend zu verfahren, ist es also der Zweifel, der das denkende Ich immer wieder beschleicht, der die Subjektivität als etwas höchst Gebrochenes und Unwissendes erscheinen läßt, als eine sich stets und ständig hinterfragende.
Die Essais sind die neuen Entdeckungen eines Philosophen ohne Vorbedacht und Plan, persönliche Hinterlassenschaften von einem, der sich dem apodiktischen Wissen widersetzt, der für Mäßigung eintritt und jeglichem Fanatismus den Kampf ansagt, der, wie später Voltaire und die Aufklärung, für jene eintritt, die ins Abseits geraten sind, die Entrechteten.
Montaigne ist, wie Balmer immer wieder nachzeichnet, Skeptiker, Humanist, Sokratesschüler, Integralist und Humanist in einem. Seine Philosophie taugt nicht zum Fundamentalismus. Dort, wo dieser religiös entbrennt, liegt er in der Verantwortung der sogenannten Ismen. Dualistische Weltbilder und philosophische Erklärungsmodelle bleiben Montaigne fremd; es ist vielmehr das verbindende Element zwischen Gefühl und Verstand, das seine Essais auszeichnet, das sein Denken als reflektiertes Empfinden erscheinen läßt.
So verwundert es nicht, daß der sich in den Essais Ausdruck verschaffende Existentialismus, die Frage nach dem richtigen Leben, nach dem gesunden Menschenverstand, zum zentralen Anliegen eines Denkens wird, in dem sich die Vernunft immer wieder kritisch vor der stetig wiederkehrenden Skepsis zu verantworten hat, wo also das richtige Leben nicht auf die Wahrheit an sich, nicht auf die Ratio an sich, verkürzt wird, sondern wo es in der Vielheit verschiedenster Seinsschichtungen vorurteilslos agiert – naturalia non sunt turpia (Natürliches ist nicht schändlich).
Montaigne geht es „in stetig zunehmender Reflexivität darum, zu entdecken und zu erproben, was es auf sich habe mit der menschlichen Situation, innerhalb derer aller Handel und Wandel, alles Sprechen und Denken sich entfaltet. Die Ermittlung, Überprüfung und Veranschaulichung der conditio humana, das ist das Charakteristische und Bedeutsame, welches sein essayistisches Verfahren zu einem spezifisch moralistischen Denken, zur unverwechselbaren und unersetzlichen Leistung eines Künstlerphilosophen macht.“
Es ist der ganze Mensch, der Montaigne in den Blick gerät, derjenige, der in seiner Lebenswelt verhaftet ist, für den eben nicht alles Nichtsystematische „als bloß rhapsodisches Daherreden aus dem Bezirk strenger Philosophie verbannt bleiben muss“. Die rein praktische Vernunft ist für den Franzosen immer auch eine zutiefst pragmatische, wobei die empirisch bedingte Vernunft mit ihren Maximen und Regeln des gesunden Menschenverstandes eine tragende Rolle spielt, eine kritisch-distanzierte Vernunftauffassung also, die Montaignes Reflektieren für Schopenhauer, Nietzsche und die französischen Moralisten wertvoll werden ließ, weil sie darin den elan vital in all seiner Lebendigkeit und furchteinflößenden Kraft deutlicher als in der weltabgewandten platonischen Philosophie erspürten. Diese Philosophie des Lebens war es dann auch, die Dilthey und den angelsächsischen Pragmatismus (Peirce) und die Common sense-Philosophie (Moore), ja, darüber hinaus Ludwig Wittgenstein inspirierte.
Wie sehr der gesunde Menschenverstand sich seine Domäne immer wieder zurückerobert, zeigt ein Blick in die gegenwärtige Literatur von Peter Sloterdijks „Du mußt dein Leben ändern, Über Religion, Artistik und Anthropotechnik“ bis hin zu Wilhelm Schmidts Ratgebern für ein gelungenes und glückliches Leben. Welchen maßgebenden Anteil Montaigne an derartigen Diskursen immer noch hat, ist nicht zu übersehen. Für die Bewältigung des alltäglichen Lebens bleibt der bon sens der ultimative Ratgeber, der nicht nur gegen jedweden Fundamentalismus rebelliert, sondern auch mit Bedächtigkeit zu einem maßvollen Leben aufruft. Es bleibt dieser gesunde Menschenverstand als unsichtbare Hand, der das ethische Minimum reguliert, der mit einer gesunden Skepsis versehen, kraftvoll gegen die Ismen anstreitet.
Balmers Buch sei also ausdrücklich allen empfohlen, auch und insbesondere denen, die vor philosophischen Fachaufsätzen zurückschrecken. Wie Montaigne selbst legt Balmer sein Buch über den Franzosen so allgemeinverständlich vor, daß sich der gesunde Menschenverstand über ein derartiges Unternehmen freut.
Für all jene, die heutzutage versuchen, die Philosophie lebenspraktisch zu „verkaufen“, bleibt Montaigne das große Vorbild, ihn zu überbieten, dazu bedarf es einer fundierten Lebenskunst und vor allem einer genialen Empathie, die bei vielen Ratgebern, die derzeit auf den Markt drängen gar nicht zu finden ist, weil sie sich in bloße Geschwätzigkeit ergießen.

Über Stefan Groß-Lobkowicz 2157 Artikel
Dr. Dr. Stefan Groß-Lobkowicz, Magister und DEA-Master (* 5. Februar 1972 in Jena) ist ein deutscher Philosoph, Journalist, Publizist und Herausgeber. Er war von 2017 bis 2022 Chefredakteur des Debattenmagazins The European. Davor war er stellvertretender Chefredakteur und bis 2022 Chefredakteur des Kulturmagazins „Die Gazette“. Davor arbeitete er als Chef vom Dienst für die WEIMER MEDIA GROUP. Groß studierte Philosophie, Theologie und Kunstgeschichte in Jena und München. Seit 1992 ist er Chefredakteur, Herausgeber und Publizist der von ihm mitbegründeten TABVLA RASA, Jenenser Zeitschrift für kritisches Denken. An der Friedrich-Schiller-Universität Jena arbeitete und dozierte er ab 1993 zunächst in Praktischer und ab 2002 in Antiker Philosophie. Dort promovierte er 2002 mit einer Arbeit zu Karl Christian Friedrich Krause (erschienen 2002 und 2007), in der Groß das Verhältnis von Metaphysik und Transzendentalphilosophie kritisch konstruiert. Eine zweite Promotion folgte an der "Universidad Pontificia Comillas" in Madrid. Groß ist Stiftungsrat und Pressesprecher der Joseph Ratzinger Papst Benedikt XVI.-Stiftung. Er ist Mitglied der Europäischen Bewegung Deutschland Bayerns, Geschäftsführer und Pressesprecher. Er war Pressesprecher des Zentrums für Arbeitnehmerfragen in Bayern (EZAB Bayern). Seit November 2021 ist er Mitglied der Päpstlichen Stiftung Centesimus Annus Pro Pontifice. Ein Teil seiner Aufsätze beschäftigt sich mit kunstästhetischen Reflexionen und einer epistemologischen Bezugnahme auf Wolfgang Cramers rationalistische Metaphysik. Von August 2005 bis September 2006 war er Ressortleiter für Cicero. Groß-Lobkowicz ist Autor mehrerer Bücher und schreibt u.a. für den "Focus", die "Tagespost".

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