Mirko Bonné, Wie wir verschwinden, Schöffling & Co., Frankfurt am Main (Februar 2009), 344 Seiten, Gebunden, ISBN-10: 3895614033, ISBN-13: 978-3895614033, Preis: 19,90 EURO
„Wie wir verschwinden“ – der Titel des vierten Romans des Hamburger Schriftstellers Mirko Bonné ist mehrdeutig. Verschwinden? Wohin? Wer? Und warum? Verschwinden – ein Wort, das vielschichtig gedeutet werden kann. Davonlaufen, sich fortstehlen, abhanden kommen, nicht mehr vorhanden sein oder sich entfernen, sind nur ein paar Synonyme, die dazu einfallen. Und alle treffen sie mehr oder weniger auf die im Buch agierenden Personen und/oder deren Gefühle und Empfindungen zu.
Zudem scheint der Tod, das Sterben, ein alles verbindendes Element zu sein. Dies klingt ziemlich düster, schwarz und destruktiv. Aber nicht so Bonnés Erzählung. In seiner Grundstruktur ist „Wie wir verschwinden“ ein durch und durch optimistischer Roman. Der Autor selbst: „Es geht auch darum, einem älteren Menschen wieder Spaß am Leben haben zu lassen. Es geht im Grunde darum, ihn dazu zu bringen, die Geschichte seiner Kränkungen, Verletzungen und all diesen Dingen, die ihm das Leben vermiest haben, zu überwinden.“
Gekränkt und verletzt ist auch der Ich-Erzähler Raymond Mercey, ein frühpensionierter 63-jähriger Witwer, der sich von einer Herzerkrankung erholt. Als er nach längerem Klinikaufenthalt zu Hause eintrifft, erwartet ihn ein Brief seines ehemaligen besten Freundes Maurice Ravoux, inzwischen Schriftsteller im letzten Stadium einer unheilbaren Lateralsklerose, der ihn nach „46 Herbste[n], 46 Winter[n] und eine[m] Jahrhundertsommer“ um Verzeihung bittet. Doch Raymond, seit dem Tod seiner Frau Veronique apathisch und depressiv, kann nicht verzeihen. „Wen kümmert schon wirklich die Seelenpein eines anderen. Eine Fehlfunktion von Gehirn und Neurotransmittern. Wen kümmerte die meine? Einen, so schien es, der im Sterben lag, den ich seit 38 Jahren nicht mehr gesehen hatte. Aber hatte mich deshalb auch gleich seine Seelenfehlfunktion zu kümmern?“
Hervorgerufen wurde diese Verletzung durch einen Verrat. „Wir hatten jahrelang einen gemeinsamen Traum gehabt, aber diese Jahre, vier oder fünf, waren mittlerweile zehnmal solange Vergangenheit. Der Traum war verschwunden, so verschwunden, wie wir mit unserer Maschine hatten verschwinden wollen.“ Gemeinsam hatten Maurice und Raymond die „Große Maschine des Verschwindens“ gebaut – eine Draisine -, auf der sie aus ihrem engen Dorf Villeblin südöstlich von Paris fliehen wollten. Doch Maurice verrät ihr Geheimnis, zuerst der Jugendliebe von Raymond – Delphine, um sich dann mit jener ganz aus dem Staub zu machen. Für Raymond geht seine Kindheit an diesem verhängnisvollen Tag, dem 4. Januar 1960, zu Ende.
Verhängnisvoll ist auch der schwere Verkehrsunfall, der sich just in dem Moment ereignet, als die beiden Halbwüchsigen Villeblin den Rücken kehren wollen. Einer der beiden Unfalltoten ist derer beider Idol, der Schriftsteller und Philosoph Albert Camus (dessen Freund- und Feindschaft zu Jean-Paul Sartre Analogien zu Maurice und Raymond aufweist). Sein Geist und sein berühmtes Werk „Mythos des Sisyphos“ stehen über der Handlung des gesamten Romans. Maurice beginnt über den Vorfall einen Roman zu schreiben, dessen Entwurf er Raymond in seinem ersten Brief beilegt und der in den folgenden Korrespondenzen langsam Gestalt annimmt.
Doch zur Versöhnung ist Raymond, der sich „fehl am Platz [fühlt] in der Ordnung der Dinge, die anscheinend nur auf Konflikt, Streiterei, Auseinandersetzung und Feindseligkeit beruhte“, noch nicht bereit. Erst das Zerbrechen der Ehe seiner Tochter Jeanne und die wachsende Freundschaft zu seiner Nachbarin Robertine reißen ihn aus seiner Lethargie und lassen ihn über das Leben, das keineswegs mit Anfang 60 zu Ende ist, nachdenken. „Eine Trennung, so heilsam sie anfangs sein mag, bedeutet immer auch, dass die Hälfte von einem selbst verloren geht – als hätte man mit dem anderen, den man aufgibt, die Kraft zu unterscheiden verloren.“ Schritt für Schritt, mehr leise als laut, gewinnt Raymonds Leben wieder an Struktur und Helligkeit. „Vielleicht musste man manchmal Fehler machen, damit man merkte, dass man noch lebte.“ Nicht der Verlust des Lebens, sondern der Lebendigkeit ist das Schlimmste was einem passieren kann. „Wie wir verschwinden“ setzt sich ganz nach Albert Camus mit der Frage auseinander, wie man die Liebe zum Leben erhalten kann.
Mirko Bonnés Roman beginnt ganz leise und unspektakulär. Anfangs umkreist der Plot den Leser wie ein trudelnder Schmetterling. Es fehlt etwas klar Greifbares, Substantielles. Bonnés Stoff, seine Wesenheit, ist zunächst schwer fassbar und der Hintergrund diffus, die Zeit scheint nahezu gedehnt. Man weißt noch nicht, worum es eigentlich geht. Doch mit zunehmendem „Geschehen“ bekommt die Handlung mehr und mehr Klarheit. Der Plot verdichtet sich und nimmt Gestalt an. Licht und Schatten gewinnen Konturen. Zunehmend kommt die „Maschine des Verschwindens“, die so lange auf dem toten Gleis stand, in Fahrt.
Fazit:
„Wie wir verschwinden“ ist der leise, aber intensive, unzeitgemäße Roman einer Freund- und Feindschaft im Gestern und im Heute. Angesiedelt in Frankreich ist auch sein gelassen erzählerischer Ton durch und durch französisch. Ein Buch von der Liebe und der Eifersucht, von Tod und Verlust, aber und vor allem vom Leben.
Der Roman ist einer von 20 Titeln, der für die Longlist zum Deutschen Buchpreis 2009 nominiert wurde.
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