Der hypothetische Realismus der modernen Naturwissenschaft erhebt den Anspruch, Kants Transzendentalphilosophie in ihrem Kern durch die evolutionäre Erkenntnistheorie widerlegt zu haben, wie es etwa Gerhard Vollmer mit seinem Buch „Evolutionäre Erkenntnistheorie“ vollzieht. Insbesondere von philosophischer Seite wird das entschieden bestritten, wobei beide Seiten sich gegenseitig grundsätzliche Fehler vorhalten. Jedoch verwenden die beiden Neurobiologen Humberto R. Maturana und Francisco J. Varela in ihrem Buch „Der Baum der Erkenntnis“ mit dem Untertitel „Wie wir die Welt durch unsere Wahrnehmung erschaffen – die biologischen Wurzeln des menschlichen Erkennens“ die Evolutionstheorie zur grundsätzlichen Bestätigung von Kant und seinem Idealismus, d.h. ganz eindeutig sind die Fronten nicht. Lassen sich diese Widersprüche auflösen, die darin nicht nur das Verhältnis zwischen Geistes- und Naturwissenschaft betreffen, sondern auch das alte Leib-Seele-Problem? Bei achtsamer Betrachtung lässt sich ein Denkfehler im hypothetischen Realismus zu einer umfassenden Lösung hin aufdecken, wobei die moderne Naturwissenschaft sogar selbst die Begründung für ihren Denkfehler liefert. Das daraus sich ergebende Verhältnis von Realismus und Idealismus sowie die grundsätzlichen Fragen nach dem Wesen dieser Welt und unseres Seins und Verhaltens darin können mit Hilfe der noch aus der Antike stammenden sogenannten »negativen Theologie« weitestgehend und in diesem Sinne objektiv gestützt werden. Diese negative Theologie, die hierbei die Religion als unseren weitesten Orientierungsrahmen mit einbezieht und darin aufklärt, ist eine undogmatische Erkenntnistheorie (des Absoluten, Einheitlichen oder Göttlichen), die aber leider durch die Inquisition im Mittelalter mit Meister Eckhart ihr Ende fand.
Das Weltverständnis von Kant
Kants Transzendentalphilosophie trennt in der Erkenntnis von Gegenständen zwischen Erscheinung und „Ding an sich“, und zwar so, dass wir die eigentliche Realität nach Kant weder erkennen noch überhaupt kennen. Er stellt fest: „Was die Dinge an sich sein mögen, weiß ich nicht und brauche es nicht zu wissen, weil mir doch niemals ein Ding anders als in der Erscheinung vorkommen kann (Kant 1787, B332-333). Wir erkennen demnach die Dinge ausschließlich in der »Brille« unserer Anschauungsformen, die „a priori und also vor aller Bekanntschaft mit den Dingen, ehe sie nämlich uns gegeben sind“ die Grundlage und Voraussetzung unseres Erkennens bilden. Mit anderen Worten, nicht nur die Farben der Dinge sind demnach keine real existierenden Eigenschaften, sondern auch die Dinge selbst bzw. die gesamte von uns erkannte Welt ist dann nicht das unabhängig von unserem Erkennen existierende Reale, sondern besitzt nur ein erscheinungshaftes Wesen, einschließlich unseres eigenen Seins. Das heißt nicht, dass es überhaupt kein Reales, Absolutes oder nach Kants Worten „Ding an sich“ gibt, aber dieses regt die Erkenntnis nur an, die Dinge der Welt genauso wie etwa die Farben im Erkennen hervorzubringen, die dann ausschließlich in unserem Erkennen und Bewusstsein existieren. Kants Philosophie gehört damit dem Idealismus oder Subjektivismus an.
Die Entwicklung des Realismus in der modernen Naturwissenschaft
Die moderne Naturwissenschaft hat bei einem zu Kant diametral entgegengesetzten Verständnis begonnen,dem sogenannten »naiven Realismus«. Darin wird angenommen, dass die Welt in ihrer Gesamtheit real genauso existiert, wie wir sie erkennen, so dass unser Erkennen ein reines Abbilden dieser Realität ist. Während bei Kant die Real- und Erkenntnisstrukturen oder -kategorien überhaupt nicht übereinstimmen, tun sie das beim naiven Realismus in vollkommener Weise.
Im kritischen Realismus ist der naive Realismus widerlegt worden, da erkannt worden ist, dass manches, was wir in der Welt wahrnehmen, nicht real, objektiv und unabhängig von unserem Erkennen in dieser Welt vorhanden ist, sondern erst subjektiv in unserem Empfinden und Erkennen hervorgerufen wird. Dazu gehören die Empfindungen und Sinneswahrnehmungen von Farben, Klängen, Geschmack oder Wärme. Farben sind nicht Teil der realen Welt, sondern sie werden durch bestimmte Wellenlängen des Lichtes in unserem Erkennen hervorgerufen und existieren somit ausschließlich dort (wobei im Verständnis von Kant auch das Licht mit seinen Wellenlängen den Erscheinungen zuzuordnen ist). Wie naturwissenschaftliche Forschungen ergeben haben, ist dabei das Erkennen einer Farbe nicht einmal stets oder ausschließlich von einer bestimmten Wellenlänge abhängig. Wenn ein weißes Blatt Papier bei verschiedensten Beleuchtungen betrachtet wird, wobei die vom Papier reflektierten Wellenlängen je nach Farbe des einfallenden Lichts sehr verschieden sein können, wird das Papier von uns doch stets in derselben Farbe »weiß« wahrgenommen (vgl. Lorenz 1987, 22).
Andere neuronale Mechanismen sorgen in ähnlicher Weise dafür, dass etwa die Form eines Gegenstandes bei der Betrachtung von verschiedenen Seiten her stets als dieselbe wahrgenommen wird, obwohl das Netzhautbild dabei sehr verschiedenartig ausfällt. Dasselbe gilt für die Größe eines Objektes, die wir als konstant annehmen, obwohl auch hierbei das Netzhautbild je nach Entfernungen differiert. Konrad Lorenz schreibt zu diesen „Konstanzphänomenen“: „Diese in unserer Wahrnehmung sich abspielenden und unserer Selbstbeobachtung völlig unzugänglichen Vorgänge gleichen der bewußten Abstraktion und Objektivation auch darin, das sie es uns ganz wie diese möglich machen, bestimmte Gegebenheiten unserer Umwelt als »Dinge« oder Objekte wiederzuerkennen“ (Lorenz 1987, 23).
Als reale Objekte „wiederzuerkennen“ und zu rekonstruieren, oder überhaupt erst als solche ausschließlich als Sein im Erkennen wie bei der Farbwahrnehmung zu konstruieren? Obwohl sich der naturwissenschaftliche Realismus zweifellos sehr stark in Richtung auf einen Idealismus zu entwickelt hat, wehrt sich nicht nur Lorenz strikt gegen die letzte Konsequenz dieser Entwicklung, nämlich die Vorstellung, dass unser Erkenntnisvermögen die von uns erkannten „»Dinge« oder Objekte“ letztlich zur Gänze hervorbringt oder als Konstanzphänomene konstruiert und wir von der eigentlichen Realität so wie im Idealismus rein gar nichts erkennen. Lorenz bringt das Problem folgendermaßen anschaulich auf den Punkt: „Dem philosopisch unvorbelasteten Menschen erscheint es völlig abwegig, zu glauben, daß die alltäglichen Gegenstände unserer Umwelt nur durch unser Erleben Realität erhalten. Jeder gesunde Mensch glaubt, daß die Möbel auch dann in seinem Schlafzimmer stehen, wenn er selbst zur Tür hinausgegangen ist“ (Lorenz 1987, 27). Glaubt er auch, dass die Farbe »grün« dann noch am Blatt des Baumes haftet, wenn er nicht mehr hinsieht?
Auch Vollmer wendet sich strikt gegen einen Idealismus und führt dazu mit dem hypothetischen Realismus konkret aus, wie Kant durch die Evolutionstheorie widerlegt wird. Diese Argumentation lautet, dass es für das Individuum gelten mag, dass dort die sinnlichen Anschauungsformen von Raum und Zeit von Kant in apriorischer Weise vor aller Erfahrung mit den Dingen zum Tragen kommen, weil sie, als »Brille«, angeboren sind. In dieser Hinsicht auf das Individuum gilt, dass die Erkenntnisstrukturen „nicht nur unabhängig von aller (individuellen!) Erfahrung [sind], sondern sie liegen vor aller Erfahrung, sie machen Erfahrung (z. B. dreidimensionale Erfahrung) [oder Farben] überhaupt erst möglich“ (Vollmer 1998, 127). „In diesem Sinne gibt es also ein synthetisches Apriori!“ (Vollmer 1998, 127).
Auf diese relative Bestätigung von Kant folgt dann mit Hilfe der Evolutionstheorie, die ja Kant noch nicht gekannt hat, die Widerlegung seiner Transzendentalphilosophie. Denn in der Evolution sind die Erkenntnisstrukturen letztlich gerade nicht unabhängig von aller Erfahrung, da die Erfahrungsunabhängigkeit und das Apriori zwar für das Individuum gilt, aber nicht für die Art, d.h. diese Anschauungsformen oder diese »Brille« sind in der Evolution phylogenetisch erworben, „weil sie sich in Anpassung an diese Welt und an diese Gesetze evolutiv herausgebildet haben“ (Vollmer 1998, S. 129). Bei Kant ist auch das, was wir sinnlich als in Raum und Zeit separiertes Sein der Welt anschauen oder erfahren restlos durch die Erkenntnis und unsere »Brille« bedingt, so dass wir die eigentliche Realität eines „Ding an sichs“ weder in der begrifflichen Erkenntnis noch in der sinnlichen Erfahrung kennen, während Vollmer feststellt: „Der Versuch Kants, die Strukturen der Erfahrung und die Strukturen der Erkenntnis in eins zu setzen und daraus die Gesetze der Erfahrungswelt zu begründen, ist somit gescheitert“ (Vollmer 1998, 130). Die Entwicklung des Realismus in Richtung eines Idealismus überwindet so letztlich nicht den Widerspruch zum Idealismus, sondern endet im hypothetischen Realismus der heutigen modernen Naturwissenschaft.
Die Mängel des hypothetischen Realismus
Der Hauptvorwurf besonders von geisteswissenschaftlicher Seite an die Vertreter des hypothetischen Realismus im Zusammenhang mit der evolutionären Erkenntnistheorie lautet, dass in dieser evolutionären Erklärung unserer Erkenntnisstrukturen ein Zirkel vorliegt (vgl. Vollmer 2003, 217 ff.). Denn diejenigen Strukturen unserer Erkenntnis, die mit Hilfe der Evolutionstheorie erklärt oder abgeleitet werden, werden dazu zuvor als Postulat vorausgesetzt, nämlich eine reale Welt in den grundlegenden Strukturen unseres sinnlichen Anschauungsvermögens (vgl. Vollmer 1998, 34). Es wird also das in Zeit und Raum separierte Sein der Welt als real vorausgesetzt, in dem dann in Zeit und Raum eine Evolution gesehen wird, deren Ergebnis die sinnlichen Anschauungsformen von Zeit und Raum als Anpassung an die zuvor postulierte oder vorausgesetzte Realität sind. Auf grundsätzlich dieselbe Weise könnte so auch das reale Sein der Farben postuliert werden, so dass sich letztlich wieder ein naiver Realismus ergibt.
Ein weiterer Mangel liegt in der fehlenden oder nicht eingelösten Unterscheidung der vom hypothetischen Realismus behaupteten verschiedenartigen Strukturen (reale und subjektive) in der Welt. Zunächst besteht die Haupt- oder Grundfrage bei Vollmer darin: „Wie kommt es, daß Erkenntnisstrukturen und reale Strukturen (teilweise) übereinstimmen?“ (Vollmer 1998, 54). Die Antwort der evolutionären Erkenntnistheorie darauf lautet ganz allgemein, dass sich im evolutionären Prozess die Erkenntnisstrukturen an die postulierten Realstrukturen angepasst haben. Demnach liegt eine „partielle Isomorphie (Strukturgleichheit)“ (Vollmer 1998, 119) zwischen Real- und Erkenntniskategorien bzw. -strukturen vor bzw. wird postuliert. Der Mangel liegt jedoch darin, dass vor der Beantwortung der von Vollmer formulierten Haupt- oder Grundfrage zunächst einmal unterschieden werden müsste, was eigentlich subjektive Erkenntnisstrukturen und was objektive Realstrukturen sind. Dann könnte erst beantwortet werden, ob und inwieweit sie übereinstimmen. Bei Vollmer wird dagegen erst pauschal die Frage nach der Übereinstimmung beantwortet und dann wird erst sehr vage nach der (im Grunde nur postulierten) Unterscheidung der Strukturen gefragt.
Bei dieser postulierten teilweisen Strukturgleichheit und ihrer Unterscheidung stellt Vollmer fest: „Wir können subjektive und objektive Bestandteile der Erkenntnis nicht mehr so klar trennen, wie es Kants System tut“ (Vollmer 1998, 128). Dennoch geht Vollmer von der Möglichkeit dieser Trennung aus, was ja jeder über einen naiven Realismus hinausgehende Realismus auch fordert, da es sich um völlig verschiedenartige Strukturen handelt. Vollmer stellt aber nur ganz allgemein die Aufgabe an die zukünftige Forschung: „Einerseits sind die subjektiven Strukturen aufzufinden, die unsere Erfahrung mitbestimmen und überhaupt erst möglich machen. […] Andererseits sind die objektiven Strukturen herauszuarbeiten, die unsere Welt aufweist. Das ist eine Aufgabe der (experimentellen und theoretischen) Wirklichkeitswissenschaften“ (Vollmer 1998, 130).
Zu dieser Forschung bzw. zu der Vermischung von realen oder objektiven und subjektiven Strukturen in unserer Welt kann Vollmer aber keinerlei klare Ergebnisse oder Beispiele vorlegen, die auf diese empirische Weise den hypothetischen Realismus mit seinem Postulat bestätigen würden, sondern er stellt lediglich etwa hinsichtlich der subjektiven Strukturen fest, dass deren Auffinden zwar „schwierig, aber doch nicht prinzipiell unmöglich“ ist (Vollmer 1998, 128). Stets bleibt es zudem noch beim hypothetischen Charakter des Wissens, d.h. eine über das Hypothetische hinausgehende Erkenntnis wird es Vollmer nach hier sogar niemals geben: „Wie gut unsere Erkenntnisse die Wirklichkeit 'treffen', läßt sich im hypothetischen Realismus und in der evolutionären Erkenntnistheorie niemals genau und beweisbar angeben“ (Vollmer 1998, 137).
Die Widerlegung des hypothetischen Realismus durch die moderne Naturwissenschaft selbst
Dieses stets und gesetzmäßig nur hypothetische Wesen im Erkennen des angeblich Realen ist nicht ohne Weiteres einsehbar. Reale und darin substantielle Dinge sind von subjektiven und darin geschaffenen Anschauungen, Erkenntnissen usw. doch grundsätzlich und qualitativ verschieden. Warum soll das in einer Welt, in der beides nebeneinander existiert, nicht eindeutig und beweisbar unterscheidbar sein, nicht einmal mit naturwissenschaftlichen Hilfsmitteln und dazu noch als ein „niemals“? Nur vollkommen gleichartige Dinge oder Strukturen können niemals unterscheidbar sein, aber doch nicht welche, die eine grundsätzlich andere Natur oder Wesensart besitzen.
In diesem Sinne ist schon der Ausdruck „hypothetischer Realismus“ widersinnig. In einem Realismus sollte das Reale ohne Weiteres als solches erfahren, erkannt und dann auch vom Nicht-Realen eindeutig unterschieden werden können, und zwar mindestens so eindeutig und einfach, wie wir ein materielles Sein, etwa einen Stein, von dem Wort oder Begriff »Stein« unterscheiden können. Warum gibt es trotz der großen Erfolge der modernen Naturwissenschaft bisher kein einziges Beispiel, bei dem eindeutig festgestellt und erkannt werden kann, dass es sich hierbei um eine reale Struktur handelt? Wenn das Reale, an das sich unsere subjektiven Erkenntnisstrukturen ja im Evolutionsprozess angepasst haben sollen, von uns heute nicht als dieses Reale erfahren, erkannt und vom Nicht-Realen unterschieden werden kann, macht dann die Unterscheidung zwischen dem realen Sein und den subjektiven Strukturen überhaupt noch Sinn?
Genau das wird auch in einer Gegenargumentation von v. Weizäcker zum hypothetischen Realismus deutlich, wenn dieser sagt: „Ich schlage statt dessen die Ansicht vor, daß 'real' und 'Realität' sinnlose Vokabeln sind, durch deren vollständige Elimination sich an allen positiven Erkenntnissen der Naturwissenschaft überhaupt nichts ändert. Das sollte klar werden, wenn wir bedenken, daß Realität, von der wir wissen können, Realität für uns ist, und Realität, von der wir nicht wissen können, per definitionem in unserem Wissen nicht vorkommt…Wenn das Bewußtsein ein Spiegel ist, so kennen wir die Rückseite des Spiegels nur gespiegelt“ (Vollmer 2003, 307).
Dieses Gegenargument spielt auf das Buch „Die Rückseite des Spiegels“ von Konrad Lorenz an, dem nach diese Rückseite identisch mit unseren Erkenntnisstrukturen ist. Lorenz stellt diese Rückseite des Spiegels „in eine Reihe mit den realen Dingen [.], die er spiegelt: Der physiologische Apparat, dessen Leistung im Erkennen der wirklichen Welt besteht, ist nicht weniger wirklich als sie“ (Lorenz 1987, 33). Dagegen hält v. Weizäcker wie viele andere Philosophen sowohl die scheinbar realen Dinge unserer Erkenntnis als auch den Erkenntnisapparat selbst für „gespiegelt“, so dass wir die eigentliche Realität gar nicht kennen und es von daher sinnlos ist, sie zu unterscheiden und zu benennen. Der hypothetische Realismus kann diese postulierte Unterscheidung zumindest ganz eindeutig nicht empirisch nachweisen.
Vollmer hält dieses sich auf die Transzendentalphilosophie stützende Gegenargument von v. Weizäcker für „einen grundsätzlichen Fehler“ (Vollmer 2003, 307) mit der Begründung, dass die Theorien der modernen Physik (nämlich dass Raum und Zeit voneinander unabhängig sind, dass der Raum euklidisch bzw. nicht gekrümmt ist, dass Ereignisse immer Ursachen haben usw.) unsere sinnlichen Alltagserfahrungen als falsch hinstellen. Das dürfte Vollmers Auffassung nach der Transzendentalphilosophie gemäß nicht möglich sein, da Theorien, soweit sie empirisch prüfbar, geprüft und bestätigt sind, durch die Strukturen der apriorischen Anschauungsformen, Kategorien und Grundsätze der Transzendentalphilosophie geprägt sein müssten (vgl. Vollmer 2003, 306-309). „Danach dürften erfahrungswissenschaftliche Theorien den Strukturen von Wahrnehmung und Erfahrung niemals widersprechen; sie könnten sie immer nur bestätigen“ (Vollmer 2003, 307). Da die moderne Physik mit ihren Theorien an den Grenzen der Welt unserer anschaulichen Sinnes- oder Alltagserfahrung nun aber eindeutig widerspricht und sie als falsch hinstellt, ist damit im Verständnis von Vollmer die Transzendentalphilosophie widerlegt, d.h. wegen dieses Widerspruchs können die Dinge unserer anschaulichen Wahrnehmung daher nicht a priori durch die »Brille« unserer Anschauung gegeben sein, sondern müssen eben real vorliegen. Das würde so dann auch den Begriff „real“ rechtfertigen, auch wenn das für uns nur stets hypothetisch erkennbar ist.
Vollmer meint hier also einen durch die Theorien der Physik aufgedeckten Widerspruch in der Transzendentalphilosophie von Kant zu sehen, auf die sich v. Weizäcker stützt, so dass wegen dieses Widerspruchs die Transzendentalphilosophie und damit auch das Argument von v. Weizäcker falsch sein müsse. Doch diese Theorien der modernen Physik und ihre Bedeutung können auch ganz anders und darin viel einleuchtender interpretiert werden, so dass darin nicht nur ein grundsätzlicher Fehler von Vollmer vorliegt, sondern dass hierbei die Erkenntnisse der modernen Naturwissenschaft selbst in Form der von Vollmer angeführten physikalischen Theorien den hypothetischen Realismus widerlegen!
Diese Theorien der modernen Naturwissenschaft sind nämlich dann nichts anderes als das, was zuvor Vollmer gefordert hat, nämlich konkret: „Andererseits sind die objektiven Strukturen herauszuarbeiten, die unsere Welt aufweist. Das ist eine Aufgabe der (experimentellen und theoretischen) Wirklichkeitswissenschaften“ (Vollmer 1998, 130). Die Wirklichkeitswissenschaften haben hier an den makro- und mikrokosmischen Grenzen der Welt die objektiven Strukturen herausgearbeitet. Normalerweise, also in unserer Alltagswelt bzw. im Mesokosmos, stimmen geprüfte erfahrungswissenschaftliche Theorien mit der anschaulichen Erfahrung stets überein, so wie auch von Vollmer festgestellt. An den Grenzen unserer Welt, also im Mikro- und Makrokosmos, widersprechen sie jedoch unserer Alltagserfahrung, nämlich dadurch, dass sich etwa ein Teilchen plötzlich als Welle erweist, dass Raum und Zeit ineinander übergehen, die Kausalität aufgehoben ist usw. Die dinglichen und von uns sinnlich wahrgenommen Strukturen der Welt verschwimmen hier sozusagen und lösen sich auf. Was heißt das?
Vollmer verwendet dieses Ergebnis der Wirklichkeitswissenschaften wie oben beschrieben als Argument gegen Kant. Die Verwendung dieser physikalischen Erkenntnisse als Argumentation zur Bestätigung von Kant würde dagegen lauten, dass sich hier an den Grenzen der Welt die als real vorausgesetzten dinglichen Strukturen praktisch auflösen, und das heißt nichts anderes, als dass es dadurch gar nicht die von Vollmer und dem hypothetischen Realismus postulierten realen Strukturen sein können! Eine reale Struktur ist stets real und kann sich nicht unter bestimmten Bedingungen auflösen – ganz im Gegensatz zu der idealen Struktur eines von neuronalen Mechanismen unter bestimmten Bedingungen hervorgerufenen „Konstanzphänomens“, wie etwa der Farbwahrnehmung. Es wäre somit dasselbe, als würde mikrokosmisch untersucht, was Farbe eigentlich ist, wobei sich die Wahrnehmung »Farbe« in Wellenlängen des Lichts auflösen würde. Die moderne Physik kann die vom hypothetischen Realismus postulierten objektiven oder realen Strukturen nicht nur nicht finden, sondern in dem Ergebnis dieser Forschungen erweist sich das Postulat realer Strukturen in dem von uns erkannten dinglichen oder materiellen Sein der Welt eindeutig als falsch.
Die über unser anschauliches Vorstellungsvermögen hinausgehenden mathematischen Theorien vermitteln an diesen Extremstellen, dass unsere gegenständlichen Anschauungen hier versagen. Dieses Versagen oder dieser von Vollmer hier erkannte Widerspruch ist dabei im idealistischen Verständnis kein Argument gegen die Transzendentalphilosophie, sondern ganz im Gegenteil dafür. Es ist sozusagen ganz normal, wenn etwa die Farbwahrnehmung als „Konstanzphänomen“ bei bestimmten Bedingungen versagt. Es liegt im Wesen der (apriorischen) Bildung von Konstanzphänomenen, dass sie nur unter bestimmten Bedingungen entstehen und existieren, und zwar denen unserer Alltagswelt oder des Mesokosmos. Es liegt hier die auch von Vollmer selbst in seinem Buch angeführte „Fähigkeit der Gestaltwahrnehmung [vor], mehr oder weniger komplexe Strukturen aus dem Ereignisstrom herauszulesen oder selbständig zu bilden“ (Vollmer 1998, 53). Wenn sich diese „Gestalten“ oder „Konstanzphänomene“, egal ob als Farbe oder als in Zeit und Raum separiertes gegenständliches Sein, bei bestimmten Bedingungen auflösen und so als relativ und subjektiv geschaffen erweisen, so wird auf diese Weise das wahre Wesen dieser Erkenntnisse bzw. der Einfluss unseres Erkenntnisvermögens aufgedeckt, nämlich dass sie nicht real sind.
Interessant ist dabei auch, was diese physikalisch-mathematischen Theorien weiter aussagen. Sie sagen gerade nichts weiter aus, sondern lösen im Grunde nur die uns gewohnten fundamentalen dinglichen Strukturen auf, ohne dabei das »Dahinterstehende« als Realität eindeutig zu erkennen oder irgendwie zu fassen, und sei es nur als mathematische Theorie oder Formel. Diese Theorien lösen sich schließlich ebenfalls im Dickicht komplexer und paradoxer Vorstellungen auf, was nichts anderes heißt, als dass die eigentliche Realität für uns nicht erkennbar ist, so wie von Kant angenommen.
Das konstruktive Nebeneinander von Realismus und Idealismus
Die naturwissenschaftlichen Erkenntnisse oder Ergebnisse haben sich seit dem naiven Realismus auf den Idealismus zubewegt und ergeben heute faktisch und sozusagen durch die empirischen physikalischen Ergebnisse an den Grenzen unserer Welt »bewiesen« (bewiesen nicht im »positiven«, sondern nur im »negativen« Sinn als Auflösung) einen Idealismus oder Subjektivismus – und das sollte irgendwann dann auch so akzeptiert, eingesehen und benannt werden und die Dinge dementsprechend geordnet werden. Dazu reicht eine einfache Verschiebung der »Strukturgrenze« aus, d.h. die Strukturen unserer Welt und einer wie auch immer gearteten Realität sind gerade nicht isomorph, sondern vielmehr strikt getrennt.
In dem, das wir als Welt wahrnehmen und erkennen sind somit keinerlei reale Strukturen enthalten, weder in den Seins- noch den Erkenntnisstrukturen. Das macht sich unter anderem dadurch konkret bemerkbar, dass alles, was wir in der Welt erkennen, geschaffen und vergänglich ist, einschließlich unseres eigenen (erkennenden) Seins. Andererseits können wir aufgrund dieser strikten Trennung das Reale, Absolute, Substantielle oder Göttliche in keiner Weise erkennen (höchstens als »negative Erkenntnis« wie in der Physik), ja wir können es uns nicht einmal vorstellen, nicht einmal wissen, ob es überhaupt ein Reales gibt, sondern wir können höchstens in einer rein hypothetischen Weise, die gesetzmäßig stets hypothetisch bleiben wird, postulieren, dass es das irgendwie geben müsste. Hier gehört das unüberwindbar und stetig Hypothetische hin, d.h. es hat seinen Platz nicht innerhalb der Welt, sondern an bzw. jenseits der (absoluten) Grenze der Welt.
Diese strikte Trennung der Strukturen erklärt dann auch die Besonderheit des Apriori unserer Seins- und Erkenntnisstrukturen: Sie sind für »uns« als Wesen in der Welt jederzeit und stets von vornherein vorhanden, ohne dass wir erkennen könnten, wie oder woraus sie entstanden sind. Es ist daher auch vollkommen sinnlos, sich die Geschaffenheit der in unseren sinnlichen Anschauungsformen erkannten Dinge der Welt auf der begrifflichen Ebene unseres Denkens vorstellen zu wollen. Wenn wir das tun (indem wir zumindest unser eigenes erkennendes Sein als real voraussetzen) oder sonst einmal meinen, ein Reales irgendwie erkannt zu haben, erweist sich das doch immer wieder als ein Zirkel oder als die von Maturana und Varela genannte „Kreisläufigkeit“. Der Vorwurf an Vollmer, dass der hypothetische Realismus einen Zirkel enthält, ist also berechtigt. Aber dieser Zirkel ist nicht als eine falsche Erkenntnis zu sehen. Wir können über die Strukturen dieser Welt nicht hinaus, d.h. die kausalen Gesetzmäßigkeiten gelten nur innerhalb der Welt, nicht aber darüber hinaus. Hier liegt eine absolute Grenze vor, die sich im Apriori unserer Seins- und Erkenntnisstrukturen sowie in der Kreisläufigkeit oder Zirkelhaftigkeit unseres Erkennens äußert, wenn wir an diese Grenze gelangen.
Die beiden Neurobiologen Maturana und Varela haben diese Besonderheit unseres Seins erkannt und bestätigen mit der Evolutionstheorie den Subjektivismus bzw. den Idealismus von Kant. Sie stellen zunächst von ihrem Fachgebiet aus fest: „Wenn wir die Existenz einer objektiven Welt voraussetzen, die von uns als den Beobachtern unabhängig und die unserem Erkennen durch unser Nervensystem zugänglich ist, dann können wir nicht verstehen, wie unser Nervensystem in seiner strukturellen Dynamik funktionieren und dabei eine Repräsentation dieser unabhängigen Welt erzeugen soll“ (Maturana/Varela 1987, 259). Es geht aber nicht darum, unser heutiges Weltverständnis als völlig irrig und falsch einzuordnen, sondern darum, es zu relativieren. In der Welt können wir gar nicht anders, als in einem sogar naiven Realismus zu leben, d.h. wir müssen im Alltag stets davon ausgehen, dass die anschaulichen gegenständlichen Dinge wirklich vorhanden sind, und zwar exakt genauso wirklich, wie unser eigenes körperliches und geistiges Sein in der Welt. Nur bei genauerer, wissenschaftlicher Betrachtung und letztlich an den Grenzen unserer Welt versagt dieser Realismus, besonders auch im Tod unseres menschlichen Seins. Maturana und Varela vollziehen diese Relativierung unserer alltäglichen Weltsicht daher als eine erkenntnistheoretische „Gratwanderung“ zwischen den „Strudeln“ des Idealismus oder Solipsismus (Charybdis) und dem „Ungeheuer“ des Objektivismus oder Repräsentationismus (Szylla) (vgl. Maturana/Varela 1987, 145 ff.).
Man kann diese Relativierung und Gratwanderung auch gut mit einem Vexierbild vergleichen, in dem zwei völlig verschiedene Deutungen erkannt werden können, die sich darin gegenseitig ausschließen. Vollmer führt in seinem Abschnitt über die Gestaltwahrnehmung ein solches Bild an, in dem die vorhandenen Konturen entweder die Deutung von zwei sich anschauenden Gesichtern ergeben oder die eines Pokals (vgl. Vollmer 1998, 52). Beide Deutungen dieser einen Zeichnung können nicht zusammen gesehen werden, nicht einmal in noch so geringen Teilen. Auf das Verhältnis unserer Welt zu einem Absoluten bezogen heißt das, dass es sinnlos ist, den „Pokal“ des Absoluten in der Deutung und den Gesetzmäßigkeiten der „zwei Gesichter“ der Welt zu suchen, er existiert dort nicht. Mit anderen Worten, wenn die eigentliche Realität oder das Absolute ist, existieren »wir« und die gesamte Welt mit ihren fundamentalen Seins- und Erkenntnisstrukturen nicht (und haben in dieser Deutung nie wirklich oder real existiert).
Die Evolutionstheorie gibt das Werden der Seins- und Erkenntnisstrukturen in den Strukturen und Gesetzmäßigkeiten unserer Welt wieder, also vor allem als in Zeit und Raum separiertes Sein. In Hinsicht auf ein postuliertes Absolutes ist diese Theorie wie alles in der Welt »verzerrt« oder „gespiegelt“. Sie weist trotz dieser Verzerrung aber doch auf etwas hin, das dem Verständnis unseres Seins in Hinsicht einer absoluten oder letztendlichen Wahrheit hilfreich sein könnte. Als sich im Beginn der Evolution des Lebendigen die erste Urzelle bildete, war das keine absolute Trennung von der Umwelt dieser Zelle, sondern es war nur eine besondere Struktur, die entstand und sich eine Zeit lang aufrecht erhielt, so wie eine Welle im Meer. Diese Struktur entwickelte sich über Mehrzeller, Pflanzen und Tiere bis zu uns Menschen weiter, wobei mit den Tieren die Erkenntnisstrukturen in die Welt gekommen sind. Ein Tier besitzt eine Eigenbewegung, die wegen des hohen Energieaufwandes nur sinnvoll ist, wenn sie kontrolliert erfolgt. Daher verfügt das Tier über ein Raum- und Zeitbewusstsein, d.h. es abstrahiert und erkennt anderes Sein bzw. überhaupt Sein als ein separiertes Etwas, wobei dieses separierte Sein als ein Konstanzphänomen in Zeit und Raum eindeutig gegeben ist. Gleichzeitig ist damit ein sogenannter „sprachlicher Bereich“ entstanden. Das ist die Vorstufe zu einer gesprochenen Sprache, d.h. die Verständigung läuft dabei nicht über Begriffe oder Worte, sondern über Verhaltensweisen, Mimik und Gebärden (vgl. Maturana/Varela 1987, 223). Dieser sprachliche Bereich besteht etwa dann, wenn Tiere sich jagen bzw. voreinander flüchten, aber auch die menschliche Kommunikation mit Tieren erfolgt auf dieser Ebene.
Diese in Zeit und Raum gegebene Eindeutigkeit und Konstanz des separierten Seins ist die Grundlage unseres Seins und unserer Welterkenntnis, in der auch wir als Menschen diese Welt a priori erkennen. Wir können dabei jedoch nur die geschaffenen Strukturen erkennen, nicht die ihnen zugrundeliegende Realität, da diese eine ganz andere Struktur besitzt, und zwar, worauf die Evolutionstheorie mit ihrer Urzelle hindeutet, vor allem eine einheitliche und wahrscheinlich auch eine substantielle. Das einheitliche »Meer« können »wir« daher immer nur als »Welle« in den Gesetzmäßigkeiten von Zeit und Raum sowie Werden und Vergehen erkennen und erfahren, d.h. ohne Substanz und „Realität“, »wir« können gar nicht anders. In der einheitlichen Struktur des Meeres dagegen gibt es wohl weder das in Zeit und Raum separierte Sein (der Wellen als Wellen) noch ein Werden und Vergehen und hat es dort nie real gegeben.
Diese Art der Ordnung der Dinge findet sich, nur mit anderen Begrifflichkeiten, in der alten sogenannten »negativen Theologie« und hier besonders bei Meister Eckhart. Insbesondere unterscheidet Eckhart zwei Seinsarten, das in Zeit und Raum gegebene der Welt und das (göttliche) „überseiende Sein“ und er geht in diesem Subjektivismus weit über Kant hinaus.
Die negative Theologie Meister Eckharts
Meister Eckhart (ca. 1260-1328) war ein mit leitenden Ämtern versehenes Mitglied des Dominikanerordens, der als einziger Theologe von Rang des gesamten Mittelalters als Ketzer verurteilt wurde. Er gilt als radikaler Entmythologisierer und „aufgeklärter als die Aufklärung“ (Quint 1979, Umschlagtext). Sein Ansatz ist es nach seinen eigenen Worten, „die Schrift beider Testamente mit Hilfe der natürlichen Gründe der Philosophen auszulegen“ (Christ 1994, 4). In diesem Versuch, den religiösen Glauben mit der Philosophie und der Vernunft zu vereinbaren, steht Eckhart in der Tradition der »negativen Theologie«, die bis in das ägyptische, vom Hellenismus geprägte Alexandria der vorchristlichen Zeit zurückreicht. Mit ihrem „Bestreben, die Welt aus sich selbst, also rational zu erklären und damit von Einflußnahmen der Götter abzusehen“ (Clauss 2003, 103) gilt die Universität von Alexandria als „die erste Universität im modernen Sinn“ (Clauss 2003, 92). Hier unternahm der Jude Philon (etwa 25 v.Chr.-50 n.Chr.) ganz im Selbstverständnis dieser Universität den kühnen Versuch, die griechische Philosophie, besonders die von Platon, mit der jüdischen Religion zu vereinbaren. „Philon von Alexandria setzte den Einen Gott des Judentums mit dem Einen Platons gleich“ (Halfwassen 2004, 149). Das war nur möglich, wenn Philon sowohl die Geschichten des Alten Testaments als auch den Gott dieser Schriften selbst nicht als tatsächliche Geschehnisse bzw. als eine reale göttliche Person verstand, sondern nur in einem allegorischen Sinn. Adam steht so etwa für das Denken, Eva für die Wahrnehmung, der Garten Eden für den Überfluss, Kain für die Selbstsucht usw.
Der jüdische Gott wurde darin zu einem Gott, über den nur durch negative Begriffe (etwa: er ist nicht gut, ist keine Person usw.) geredet werden kann und der sich so völlig unbestimmbar und unerkennbar über Allem befindet. Die Verbindung dieses »negativen« und abstrakten Gottes zur Materie und Welt sah Philon durch Platons Ideen hergestellt, wobei der Inbegriff dieser Ideen für ihn der Logos war, die weltdurchwaltende Vernunft. Diesen Logos nannte Philon u.a. auch »Gottes Sohn«. „Es ist klar zu sehen, wie hier christliche Gedanken vorgebildet sind“ (Störig 1988, 202). Vom gekreuzigten Jesus ist bei Philon nicht die Rede, es ist vielmehr umgekehrt davon auszugehen, dass das entstehende Christentum diese Lehre der Wissenschaft und der gebildeten Kreise benutzt hat, um ihrem neuen Glauben eine theologische Grundlage als dadurch eigenständige Religion mit einem neuen Gottesbild zu geben, denn auch die Idee des dreieinigen Gottes stammt ursprünglich aus der griechischen Philosophie (vgl. Halfwassen 2004, 152). Allerdings stand sie dort, genau wie der Logos bei Philon, nicht in dogmatischer Weise für reale göttliche Personen, in deren Verehrung die Menschen ein reales und ewiges Sein über den Tod hinaus zu erlangen suchen, sondern in der negativen Theologie sind es nur relative, austauschbare und letztlich zu überwindende Allegorien in einem das Verhältnis von Absoluten und Welt betreffenden Erkenntnisprozess.
In gleicher Weise wie bei Philon steht auch bei Eckhart der Vater nur allegorisch für das (neuplatonische) „einige Eine“, der Sohn für die Erkenntnis dieses Einen usw. Auch geht es bei Eckhart nicht um die (immer egoistische) »Rettung« des personalen weltlichen Seins oder (wie es Eckhart benennt) der Kreatur in das Göttliche, Absolute hinein wie im dogmatischen Christentum, womit weltliche Strukturen göttliche Eigenschaften erlangen würden, sondern ausschließlich um die bestmögliche Erkenntnis des Absoluten und die wesenhafte Verbundenheit alles Weltlichen mit diesem als und in einem „einigen Einen“ (Quint 1979, 164). Ganz im Sinne des oben herangezogenen Vexierbildes geschieht diese Erkenntnis in der negativen Theologie nicht in der Weise (eines Realismus), indem in den weltlichen Strukturen das Eine, Absolute, Reale oder Göttliche als dieses Reale erkannt wird und das jeweilige erkennende Wesen diese Erkenntnis dann als Wissen besitzt und es so wie ein normales weltliches Wissen weitergeben kann (oder gar, dass das Bekenntnis dazu das weltliche Wesen vor der Vergänglichkeit zu einem ewigen und darin realen Sein hin rettet).
Der Erkenntnisweg Eckharts fußt vielmehr auf dem Umstand der, in modernen Begriffen ausgedrückt, neuronalen Mechanismen als „Fähigkeit der Gestaltwahrnehmung, mehr oder weniger komplexe Strukturen aus dem Ereignisstrom herauszulesen oder selbständig zu bilden“ (Vollmer 1998, 53), auch als die apriorischen oder sinnlichen Anschauungsformen von Sein, Raum und Zeit. Das von uns in Zeit und Raum erkannte gegenständliche Sein ist bei Eckhart genau wie bei Kant nicht absolut und real, sondern relativ und geschaffen und kann deswegen auf geistige Weise zum Aussetzen gebracht werden. Dabei gilt: „ehe es noch Sein gab, wirkte Gott; er wirkte Sein, als es Sein noch nicht gab“ (Quint 1979, 196) und: „wenn die Seele der Zeit und des Raumes ledig ist, so sendet der Vater seinen Sohn in die Seele“ (Quint 1979, 173). Zu dieser Relativierung des Seins gehört auch das „Ledigwerden“ des menschlichen weltlichen Seins als Kreatur: „Er sah Gott, wo alle Kreaturen nichts sind“ (Quint 1979, 332). Im dogmatischen Christentum wird versucht, das eigene Kreatursein über den Tod hinaus zu vergöttlichen, in der negativen Theologie wird es dagegen schon vor dem Tod auf geistige Weise überwunden.
Eckhart geht dann dadurch weit über Kant hinaus, indem er nicht nur die Relativität dieser fundamentalen Anschauungsformen erkennt, sondern in einer „geistigen Armut“ (vgl. »Armutspredigt« Quint 1979, 303 ff.) dieser grundlegenden sinnlichen Anschauungsformen des in Zeit und Raum separierten Seins auch hinsichtlich des eigenen Kreaturseins wie zuvor zitiert „ledig wird“. Im Grunde ist das nichts anderes, als wenn die Theorien der modernen Physik im Mikro- und Makrokosmos das gegenständliche (Teilchen)Sein unserer gewohnten Alltagssicht außer Kraft setzen. Das in Raum und Zeit separierte gegenständliche Sein erweist sich in dem „Ledigwerden“ Eckharts sozusagen auch empirisch als relativ und geschaffen, was darin dann jedoch nicht nur das eigene Kreatursein, sondern, da es um die fundamentalen Seins- und Erkenntnisstrukturen geht, existentiell die ganze Welt betrifft. Die Welt existierte nach dem Verständnis der Zeit Eckharts 6000 Jahre in Zeit und Raum, wobei sie in den folgenden Worten Eckharts durch das „Ledigwerden“ ihr wahres und eigentliches Wesen offenbart:
„Dort, wo niemals Zeit eindrang, niemals ein Bild hineinleuchtete: im Innersten und im Höchsten der Seele erschafft Gott die ganze Welt. Alles, was Gott erschuf vor sechstausend Jahren, und alles, was Gott noch nach tausend Jahren erschaffen wird, wenn die Welt (noch) so lange besteht, das erschafft Gott im Innersten und im Höchsten der Seele. Alles, was vergangen ist, und alles, was gegenwärtig ist, alles, was zukünftig so ist, das erschafft Gott im Innersten der Seele“ (Quint 1979, 356).
Gerade diese Aussage von Eckhart verdeutlicht, dass genau wie die Farben oder die Sprachen in der Welt auch die Welt selbst von jedem erkennenden Wesen konstruiert oder hervorgebracht wird (in der Perspektive der evolutionären Entwicklung durchaus aber auch gemeinsam in einem großen Abstimmungs- oder Verknüpfungsprozess von Konstanzphänomenen). In dem Aussetzen wird dabei die jenseits dieser fundamentalen Seins- und Erkenntnisstrukturen sich befindende Einheit vollzogen (die jedoch im Grunde nie abwesend ist, weil die Trennung in der Welt nur durch die fundamentalen Erkenntnisstrukturen relativ bedingt ist, die bei Eckhart zum Aussetzen gebracht werden). In der Einheit gibt es das in Zeit und Raum separierte weltliche Sein nicht, sondern: „Sage ich ferner: Gott ist ein Sein – es ist nicht wahr; er ist (vielmehr) ein überseiendes Sein und eine überseiende Nichtheit!“ (Quint 1979, 353), und für die gilt: „Ganz so werde ich in ihn verwandelt, daß er mich als sein Sein wirkt, (und zwar) als eines, nicht als gleiches; beim lebendigen Gotte ist es wahr, daß es da keinerlei Unterschied gibt“ (Quint 1979, 186). Im dogmatischen Christentum steht die gerettete Kreatur in ihrem ewigen, realen Sein dem realen Gott durch eine unüberbrückbare Kluft getrennt ewig gegenüber (vgl. Störig 1988, 213 f.), in der negativen Theologie verschmelzen dagegen Kreatur, Welt und Göttliches jenseits von Sein, Zeit und Raum zur ununterscheidbaren Einheit.
Das Problem der Erkenntnis dieses ja empirischen Geschehens liegt nun darin, dass darin alles Erkennen und Sein gerade abwesend oder zunichte geworden ist, denn Erkennen gibt es nur in den dualistischen, weltlichen Strukturen. Erst wenn nach diesem Aussetzen die fundamentalen weltlichen Erkenntnisstrukturen sozusagen urknallmäßig oder a priori wiedereinsetzen, kann darin das Aussetzen und damit die Relativität der Erkenntnisstrukturen erkannt werden. In diesem Umstand liegt die Trinität der Gottheit in ihrem ursprünglichen Sinn als göttliche Erkenntnis des Absoluten oder Einen begründet. Die wahre und darin trinitarische Sohn-Erkenntnis besteht nach Eckhart daher erst darin, wenn auch diese höchste, göttliche Erkenntnis nach einem Aussetzen der Erkenntnis- und Seinsstrukturen nicht als ein mit irgendwelchen weltlichen (personalen) Begriffen identifiziertes göttliches Sein in Zeit und Raum der Welt ausfließt und dort (in einem Sein, einem Dogma und einer Religion) erstarrt, sondern indem auch diese höchste Erkenntnis nur in einem „Fünklein“ (Quint 1979, 163) als etwas Geschaffenes genommen wird, so dass darin in einem armen und heiligen Geist die Seins- und Erkenntnisstrukturen inklusive der höchsten Erkenntnis wieder umfassend vergehen können und so sich die Einheit wiederum vollzieht, was dann wiederum erkannt wird usw. Die wahre Gotteserkenntnis ist so ein fortlaufendes, dynamisches und lebendiges Geschehen (oder eine Gratwanderung) an der absoluten Grenze zwischen der geschaffenen Welt mit ihren Seins- und Erkenntnisstrukturen und dem Absoluten oder Einen, bei dem als göttlicher Selbsterkenntnisprozess dann gilt: „Die Liebe hat dies von Natur aus, dass sie von Zweien als Eines ausfließt und entspringt. Eins als Eins ergibt keine Liebe, Zwei als Zwei ergibt ebenfalls keine Liebe; Zwei als Eins dies ergibt notwendig naturgemäße, drangvolle, feurige Liebe“ (VeM, 116).
Der Bezug zum heutigen Sein
»Ist« das alles so, hat die Welt in dieser Weise ein (überseiendes) Sein (jenseits des Seins)? Ist das „Reale“, Absolute oder die göttliche Einheit stets nur eine geschaffene, hypothetische Idee, eine bloße Einbildung? In der negativen Theologie ja, denn das definiert die negative Theologie, ist ihre Kernaussage und genau darin vollzieht sich der heilige, arme Geist der trinitarischen Gotteserkenntnis bei Eckhart, so dass nach seinen Worten letztlich stets gilt: „Was ist das letzte Endziel? Es ist das verborgene Dunkel der ewigen Gottheit und ist unerkannt und ward nie erkannt und wird nie erkannt werden“ (Quint 1979, 261). In der Welt bleiben somit sowohl eine substantielle Realität (selbst mit den feinsten Methoden der modernen Naturwissenschaft) als auch die letztendliche Einheit allen Seins, die darin ja ebenfalls von der Evolutionstheorie vermittelt oder zumindest angedeutet wird, für »uns« wie in einem Vexierbild verborgen, nicht erfahrbar bzw. es ist und bleibt für »uns« eben immer nur eine bloße, hypothetische Idee oder ein Allegorie.
Aber mit dieser bloßen Idee könnten im wahrsten Sinne des Wortes idealistisch schon in der Welt die Widersprüche, besonders die (internen und externen) der Religionen, aber auch die zwischen Natur- und Geisteswissenschaft, zu einem bestmöglichen einheitlichen Sein hin überwunden werden. Das wäre eine indirekte empirische Bestätigung dieser Idee, wobei die Ausführung und Anwendung im Grunde nur etwas Flexibilität im Denken bzw. die von Kant genannte und durchgeführte „Umänderung der Denkart“ (Kant 1787, BXVI) verlangt (durchaus auch im Sinne einer evolutionären Weiterentwicklung auf der geistigen Ebene der Begriffe, Ideen oder Weltbilder). Auf der emotionalen Ebene könnte diese bestmögliche Einheit erreicht werden, wenn statt der egoistischen Vergötterung des jeweils eigenen kreatürlichen Seins die wahre Einheit allen Seins verehrt werden würde, die darin allerdings, so wie heute die personalen Gottesbilder, als Sein in der Welt immer nur geglaubt werden kann.
Aber auch wenn das besondere Verhältnis einer letztendlichen Realität zu unseren Seins- und Erkenntnisstrukturen nicht wie bei Eckhart und Kant auf geistige Weise aufgedeckt und berücksichtigt wird, sondern wenn »wir« die von uns erkannte Welt und besonders unser eigenes Sein darin auch in einem letztendlichen Sinn weiter für real halten und die Welt nach diesem Maßstab zu vollenden suchen und in (exzessiven) materiellen Werten das Ideal und den Lebenssinn sehen, wird unter diesen Bedingungen die letztendliche Wahrheit sich ebenfalls letztlich vollziehen, besonders wenn der Lebensraum der Erde begrenzt ist und die Entwicklung an diese Grenze stößt. Das von einem Realismus allein beherrschte Weltbild und Verhalten wird sich auf diese für uns empirische Weise mit all ihren Konsequenzen als falsch erweisen, hierbei dann nicht auf elegante, humane geistige Weise, sondern (eher animalisch) auf der für uns scheinbar realen und mit den Emotionen verbundenen materiell-körperlichen Ebene.
Der auf einem Realismus fußende dogmatische religiöse Glaube, der unter den heutigen Lebensumständen mehr und mehr zu einer unangepassten Verhaltensweise wird, wird dabei in seinem Versuch, alles Leid zu vermeiden, unter den neuen Lebensumständen paradoxerweise das größtmögliche Leid mit herbeiführen. Es stellt sich so die Frage, ob von der negativen Theologie her selbst in einem umfassenden Scheitern der Menschheit genau wie im individuellen (bei Eckhart geistigen) Tod nicht die eigentliche, negative Gottes- oder Einheitserkenntnis und -erfahrung liegt.
Literaturverzeichnis
Immanuel Kant, Kritik der reinen Vernunft, 2. Auflage 1787
Konrad Lorenz, Die Rückseite des Spiegels – Versuch einer Naturgeschichte menschlichen Erkennens, München 1987
Gerhard Vollmer, Evolutionäre Erkenntnistheorie, Stuttgart-Leipzig 1998
Gerhard Vollmer, Was können wir wissen?, Band 1: Die Natur der Erkenntnis, Stuttgart 2003
Humberto R. Maturana / Francisco J. Varela, Der Baum der Erkenntnis, Bern-München-Wien 1987
J. Quint (Hrsg.), Meister Eckehart – Deutsche Predigten und Traktate -, Zürich 1979
Karl Christ (Hrsg.) Meister Eckhart, Die lateinischen Werke, Bd. III, Stuttgart 1994,
M. Clauss, Alexandria – Schicksale einer antiken Weltstadt, Stuttgart 2003
J. Halfwassen, Plotin und der Neuplatonismus, München 2004
H.-J. Störig, Kleine Weltgeschichte der Philosophie, Frankfurt/M. 1988
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