Ein „kleines“ Lexikon? Damit kann nicht das Format gemeint sein; denn das ist ungewöhnlich groß. „Klein“ kann höchstens die Auswahl betreffen. Denn von den -zig Kinderbuchautoren, die es gibt – exklusive derer, die längst nicht mehr am Leben sind, aber immer noch gelesen werden – hat die Autorin 31 ausgewählt. Warum gerade so viele und keine anderen? Dazu sucht man vergeblich eine Erklärung. Die aber eigentlich gar nicht wichtig ist. Waltraud Seidel schätzt halt und kennt, so kann man annehmen, gerade diese recht gut.
Nicht alle „Geschichtenerzähler“ dieses Buches leben noch (und manche Namen gehören nicht von Haus aus in den Kinderliteratur-Bereich). Hans Christian Andersen, Wilhelm Busch, Michael Ende, die Brüder Grimm, Wilhelm Hauff, Erich Kästner, Irina Korschunow, Christa Kozik, James Krüss, Astrid Lindgren, Benno Pludra, Otfried Preußler, Fred Rodrian, Elizabeth Shaw und Ursula Wölfel sind schon im „Geschichtenerzähler“-Himmel. Also so gut wie die Hälfte. Und diese Menge kann sich – da es sich durchwegs um schon im höheren Alter befindliche Schriftstellerinnen und Schriftsteller handelt, sozusagen schon morgen ändern. Wer noch lebt (und auch schon nicht mehr zu den Jüngsten oder Jüngeren der Branche zählt, die leider ganz und gar außen vor blieben), ist, wie die schon Toten, renommiert: Kirsten Boie, Achim Bröger, Cornelia Funke, Peter Härtling, Janosch, Knister, Paul Maar, Manfred Mai, die Nöstlinger und die Pausewang, Mirjam Pressler, Joanne K. Rowling, Wolf Spillner, Uwe Timm, Renate Welsh und Sigrid Zeevaert.
Jedem dieser Autoren – mit drei Ausnahmen gehören sie in den deutschsprachigen Raum – hat Seidel zwei Seiten Text samt Illustration und Porträtfoto gewidmet. Man erfährt jeweils auf der linken Seite ein wenig über den Lebensgang der Ausgewählten, liest einiges zum Selbstverständnis als Textproduzent(in) und kriegt unter dem Label „Lesetipps“ Buchtitel (leider ohne Erscheinungs-Jahr und Verlag) der betreffenden Person genannt. Die rechte Seite variiert: mal bringt sie Texte aus der Feder der Kinderbuchautor(inn)en – Quellenangaben: s. Anhang – und mal Texte von insgesamt sieben „Mitautorinnen der Geschichten über Geschichten“. Sie werden anfangs namentlich aufgelistet. Es sind bemerkenswerter Weise ausschließlich Mädchen, wobei die Schwestern Georgiadis als recht schreibfreudig auffallen.
Vermutlich sah Waltraud Seidel in den sieben Mädchen eines ihrer unverkennbar lesepädagogischen Absichten realisiert: Kinder zum Buch zu führen, zum Lesen anzuregen. Und zum Schreiben. Zum Selber-Schreiben von Geschichten. Die Orientierung an „großen“ Vorbildern ist ja nicht zu übersehen und nur zu unterstützen. „Praxisnähe und Freude am Lesen“, so teilt Waltraud Seidel mit, war „ihr erklärtes Ziel als Schulbuchautorin.“ Sie stammt aus Breslau, wurde im thüringischen Altenburg ansässig, studierte und promovierte in Leipzig und war Dozentin für Jugendliteratur. Für „vielseitige Unterstützung“ dieser ungewöhnlichen Publikation danken Autorin und Verlag der Firma Metallbau Maltitz aus Gersdorf.
Ganz besonderen Anteil an der Wirkung dieser schönen, wohldurchdachten und liebevoll erstellten Publikation haben die für Typographie und Layout Verantwortlichen, nicht zuletzt der Illustrator Marian Kretschmer. Seine meist den Texten der schreibenden Schülerinnen beigegebenen Bilder wirken suggestiv, lassen die im Buch nur Blätternden oder Querlesenden einen Moment verweilen, machen neugierig auf den Textinhalt. Das ausgefallene Buchformat könnte Buchhändler davon abhalten, es ins Regal zu stellen. Das wäre bedauerlich; hat es doch hohe ästhetische und vielfach animierende Wirkung.
Gerade der Teil „Geschichten über Geschichten“, den die Autorin ihren mitschreibenden Schülerinnen zu danken hat, unterscheidet sich von der reinen, hier allerdings schön verpackten lexikalischen Information (die auch anderen, vielleicht ausführlicher informierenden Nachschlagewerken zu entnehmen ist) wesentlich. In der Tat sind einige dieser Texte „erstaunlich“ zu nennen. Beispiel: der Anfang des Textes zum Kinderbuchautor Michael Ende. „Vom Zuhören“ von Victoria Georgiadis, 11 Jahre (Seite 19):
Das Wetter verordnete Hausarrest. –In Opas grünem Wintergarten lässt sich auch das aushalten. „Film oder Buch?“ Großvater fragte gut gelaunt, nachdem er sie dreimal beim Mühlespiel besiegt hatte. „Nix mit Enkelbonus! Besiegt ist besiegt!“ Leider! Dafür aber erklärte er dann immer umfangreich, warum sie verloren hatte. Sie konterte: „Du wirst sehen, Opa, eines Tages hab` ich`s drauf, aber dann!“ – „Film“, entschied sie, denn die Großelternbibliothek ist unüberschaubar. Schon die Abteilung Kinderbuch ist riesig. Die Videothek dagegen fällt bescheiden aus. – „Momo“ wählen sie aus, das Buch fand sie spitze. Mal sehen, was die Filmis draus gemacht haben aus der seltsamen Geschichte von den Zeitdieben. Diese Kerle von der Zeitsparkasse klauen den Menschen ihre Zeit. Aber da hatten sie die Rechnung ohne Momo gemacht und ohne Meister Hora, der die Zeit anhalten kann. Spitzenmäßig, dass Momo im Amphitheater wohnen darf und wie ihr alle helfen. „Sieht dir ein bissel ähnlich, das Momo“, meinte Großvater. „Opa, das ist eine DIE. Und ähnlich, nee! Guck mal, wie die rumläuft! Höchstens der Wuschelkopf. Vielleicht hat sie ja auch einen Papa aus dem Süden!“ – „Guckt ihr Film oder quatscht ihr?“ Oma setzte sich dazu: „Guck mal, der Nikola, das ist Mario Adorf, den mag ich.“ Na ja, Oma ist über siebzig! Mag sie den alten Herrn ruhig cool finden oder mögen. Und irgendwo soll auch der Michael Ende als Statist mit rumlaufen, das muss man sich mal vorstellen, der Buchautor hat mitgespielt! Der Film wurde in Rom gedreht und Michael Ende hatte dort in der Nähe gewohnt (…)
Waltraud Seidel: „Geschichtenerzähler von A bis Z“. Ein kleines Lexikon der Kinderbuchautoren mit Illustrationen von Marian Kretschmer, 76 Seiten im Format ca. 30 x 35 cm, 24,90 Euro, edition zweihorn, Neureichenau 2015, ISBN 978-3-943199-29-1
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