. Entmietung und Luxussanierungen von Bestandsimmobilien, Gentrifizierung
bester Innenstadtlagen und plötzlich aus dem Dornröschenschlaf erwachender Vorstadtbezirke
haben immer wieder die Gemüter erregt. Hausbesetzungen und die Räumung durch
oft riesige Polizeiaufgebote machten Schlagzeilen, Gewalt und Gegengewalt haben
oft genug das rechtsstaatlich noch akzeptable Höchstmaß bei weitem
überschritten, allerdings blieb die Gewaltanwendung mit mehr oder weniger
deutlich anarchistischen Untertönen auf bestimmte Bezirke und Milieus begrenzt.
Wenigstens in Deutschland beteiligten sich zu Wutbürgern mutierte Anwohner eher
an klar definierbaren Projekten, beispielsweise Stuttgart 21 oder
Stadtautobahnprojekten und dergleichen. Die Gewaltausbrüche beim Hamburger
G20-Gipfel 2017 waren dagegen ein erstes größeres Menetekel für die Politik,
mit dessen Aufarbeitung die Justiz noch längst nicht fertig ist. Sie
widerlegten vielleicht zum ersten Mal den Hohn Lenins, daß die Deutschen erst
eine Bahnsteigkarte lösen bevor sie einen Bahnhof stürmen. So wie es längst
keine Bahnsteigkarten mehr gibt, wird man auch mit der Staatsfrommheit und
Friedfertigkeit des deutschen Michel nur noch bedingt rechnen können, auch wenn
Pegida und ähnliche Demonstrationen oft leise versanden.
Falls die Berliner Mietpreisbremse, wie viele Experten prophezeien, die
Wohnungsknappheit in Berlin nicht lindern, sondern eher verstärken wird, stellt
sich die Frage nach dem Protestpotenzial und seiner eventuellen Nachhaltigkeit.
Die Medien verstärken wahrscheinlich das Potenzial, wenn sie bedrückende
Geschichten von Rentnern aufnehmen, die sich ihre gestiegene Miete nicht mehr
leisten, aber aus ihrem gewohnten Kiez nur schwer in billigere Lagen umziehen
können. Solidarität kommt naturgemäß vorwiegend aus der Nachbarschaft, weniger
aus den teuren Spitzenlagen. Aber das Thema eignet sich auch hervorragend für eine
Politisierung, für friedliche Demonstrationen, aber auch für aus dem Ruder
laufende Gewaltorgien mit Lebensgefahr für die eingesetzten Polizeibeamten.
Die nun immer
öfter auftauchenden Plakate, daß Wohnen ein Menschenrecht sei, ob das nun ein
sozialistischer Traum ist oder nicht, werfen die Frage auf, wie weit
Wohnungsknappheit ein Katalysator für politische Unzufriedenheit, Protest oder
Gewalt werden kann oder bereits ist. Ein Blick über die Grenzen mag dabei einige
Anhaltspunkte liefern.
Wenn man etwa die Wohnungssituation in Hongkong und Singapur vergleicht, wird
ein Teil der nun schon im 5. Monat in Hongkong tobenden Gewaltexzesse
verständlicher. Wohnraum war in der britischen Kronkolonie bis zur Rückgabe an
China 1997 schon immer knapp, weil ein stetiger Flüchtlingsstrom aus der
sozialistischen Knappheit in der Volksrepublik ins prosperierende Hongkong
sickerte. Der Wohnungsbau war keine Gemeinschaftsaufgabe der Stadtpolitik,
sondern eine grandiose Spekulationsblase und schuf die größten Vermögen im
Immobiliensektor. Für die überwiegend jugendlichen Demonstranten von heute ist
die Wohnungsfrage deshalb eine der Grundursachen der Unzufriedenheit. Für ein
winziges WG-Zimmer, immer wieder als „Zelle“ beschrieben, werden im
Durchschnitt 7000 Hongkong-Dollar verlangt, etwa € 800, ganze Wohnungen sind
für einen Großteil der 7,4 Millionen Einwohner entsprechend unerschwinglich. Die
am Anfang gegen ein Gesetz zur Auslieferung von Straftätern an China
gerichteten Demonstrationen bekamen durch die Wohnungsfrage einen massiven
Brandbeschleuniger und entwickelten sich zum Teil auch in eine Richtung, die
gegen die weiter bestehenden politischen Restriktionen in der
Sonderwirtschaftszone Hongkong gehen und im Westen gern als Kampf für
Demokratie und Freiheit interpretiert werden, aber damit nur einen Teil der
Problemlage erfassen.
Im Gegensatz zu Hongkong ist die Wohnungsversorgung in Singapur geradezu
sozialistisch im positivsten Sinn. Die Eigentumsquote beträgt satte 91 %, der
Großteil davon in Wohnblocks des „Housing & Development Board“ (HDB), einer
halbstaatlichen Gesellschaft, die man getrost als gemeinnützig bezeichnen kann.
Die Häuser werden seriell aus vorgefertigten Teilen zusammengesetzt, sind aber
mit dem DDR-Plattenbau, der am Anfang in den 1960er Jahren Vorbild gewesen sein
soll, nicht zu vergleichen und von hoher Qualität. Das Angebot ist so vielfältig
und mit Zuschüssen für Ersterwerber so erschwinglich, daß junge Paare gleich
bei der Hochzeit ins eigene Heim einziehen können. Mit der hohen Eigentumsquote
und den Einstiegspreisen ist die Wohnungsversorgung in Singapur ein geradezu
genialer politischer Schachzug der Gründerväter um Lee Kuan Yew gewesen, der zu
einem ganz wichtigen Faktor der sozialen Stabilität des Stadtstaates geworden
ist, der ansonsten viele Ähnlichkeiten mit Hongkong hat. Der kapitalistischen
Grundstruktur, die auch im Segment der Luxusimmobilien ungehindert floriert,
ist eine sozialpolitische Korrektur im Wohnungsbau angegliedert worden, die erheblich
weniger Raum für Protestpotenziale lässt als in Hongkong.
Ein internationaler Vergleich der Eigentumsquoten ist vielleicht auch für
Deutschland interessant. In Europa liegen wir mit 51,4% auf dem vorletzten
Platz, aber noch vor der reichen Schweiz mit 41,3% (Statista 2017) als
Schlusslicht. Spitzenreiter ist ausgerechnet das weniger wohlhabende Rumänien
mit 96,8%, was vermutlich durch die direkte Umwandlung der sozialistischen
Wohnungen in das Eigentum der Mieter möglich war. Aber die Schweiz ist in einer
ganz anderen Sicht von besonderem Interesse. Trotz einer ständigen Zunahme von Single-Haushalten
und Zweitwohnsitzen hat sich in den letzten Jahren ein erstaunlicher Leerstand
von Immobilien ergeben, laut der Neuen Zürcher Zeitung vom 24. Oktober 63.000
Mietwohnungen und 12.000 unbewohnte Eigentumswohnungen und Einfamilienhäuser.
Daraus ergibt sich, daß die Wohnungsmieten in diesem Jahr um 0,6 % sinken, 2020
voraussichtlich um weitere 0,9%. In München, Stuttgart oder Berlin dürfte
niemand von sinkenden Mieten träumen, auch wenn der Berliner Senat daran denkt,
als überhöht eingeschätzte Mieten zugunsten der Mieter zwangsweise zu senken.
Die Vergleiche scheinen dafür zu sprechen, daß es einen Zusammenhang gibt zwischen einer für die Bürger zufriedenstellenden Politik mit ausreichender Daseinsvorsorge und Existenzsicherung und auf der anderen Seite deren Vernachlässigung mit der Folge von Unzufriedenheiten und steigendem Konfliktpotenzial. Dazu hat der frühere CIA-Analyst Martin Gurri im Dezember 2018 ein Buch mit ziemlich beunruhigenden Thesen veröffentlicht, „The Revolt of the Public and the Crisis of Authority in the New Millennium”. Im Zentrum seiner Analysen steht die Revolution der Öffentlichkeit durch Internet und soziale Medien, durch die das Meinungsmonopol der politischen und wirtschaftlichen Eliten praktisch marginalisiert wurde. Gleichzeitung seien die Möglichkeiten zur Selbstorganisation und Mobilisierung von Bürgerinitiativen mit der allergrößten Bandbreite von Motivation und politischer Stoßrichtung ermöglicht und sogleich multipliziert worden. Während Printmedien und Fernsehen besonders in der jungen Generation immer weniger konsumiert und ernst genommen werden, wächst gleichzeitig das Desinformationspotenzial und der Einfluss weitgehend unkontrollierbarer Interessengruppen. Es wird unübersichtlicher, komplexer und gleichzeitig in bedrohlicher Weise irrational. Die Protestbewegungen in Hongkong, Chile, Frankreich, Indonesien und vielen anderen Brennpunkten deuten an, daß die Regierbarkeit in zahlreichen Ländern nicht nur problematisch wird, sondern eine unlösbare Aufgabe werden könnte. Auch in wohlhabenden Ländern werden Regierungen zunehmend von den Erwartungen eingeholt, die sie in den Wahlkämpfen geschürt haben und dann kaum oder zu langsam implementieren. Die Wohnungspolitik, wenn sie an den Bedürfnissen leicht vernetzbarer Gruppen vorbeigeht, kann ein Katalysator mit der Wucht eines Brandbeschleunigers werden. Hoffentlich nicht in Zeiten der Mietendeckel in deutschen Städten.