Die populistischen Strömungen der westlichen Welt richten sich vor allem gegen die liberalen Verfassungen unserer Länder. Ihre Bestimmungen sind die einzigen Hindernisse auf dem Weg zur Tyrannei der Mehrheit.
I. DAS POPULISTISCHE DEMOKRATIEVERSTÄNDNIS GEFÄHRDET DIE VERFASSUNG
Haben die Amerikaner, als sie Donald Trump ins Präsidentenamt wählten, die Demokratie in Gefahr gebracht? Eine Frage, die trivial klingt, in Anbetracht der medialen und politischen Aufregung, die spätestens seit Mittwochmorgen hier- und dortzulande vorherrscht. Sexistisch, rassistisch, populistisch, homophob und autoritär – wo die negativen Attribute nur so fliegen, sind längst alle demokratischen Warnschilder angebracht. Wozu also noch nachhaken?
Nun, zuallererst muss reflexiv der Selbstwiderspruch dieser Aussage ins Auge springen: Wie kann ein demokratisch-mehrheitlich gewählter Mann die Demokratie gefährden, bezeichnet diese doch die Herrschaft des Volkes? Mit gutem Recht verweisen die Trump-Anhänger auf das gefällte Marjoritätsurteil der durch Wahlmänner vertretenen US-Bürger. Undemokratisch, so die einleuchtende Logik der Trump-Apologeten, sind eher diejenigen, die nun in den Straßen New Yorks und Washingtons „Not my President!“ skandieren. Sie und die Intellektuellen, die sich jetzt in Katastrophenrhetorik selbst übertreffen, würden sich doch dem demokratischen Imperativ verweigern. Und in der Tat: Wer die Verfassung der Vereinigten Staaten durch die Nicht-Akzeptanz des gewählten Kandidaten verteidigen will, widerspricht und widerlegt sich unweigerlich selbst.
Donald Trump ist keine Gefahr für die Demokratie, er verkörpert vielmehr die Risiken, die aus ihr hervorgehen. Denn Demokratie, in ihrem ursprünglichen Sinn gedacht, bedeutet die widerspruchs- und widerstandsfreie Herrschaft der Mehrheit. Oder in den Worten Alexis de Tocqueville formuliert: Die „Allmacht der Mehrheit“ wird zur „Tyrannei“, „wenn diese Gewalt auf kein Hindernis stößt, das ihren Gang aufhalten und ihr Zeit geben kann, sich selbst zu mäßigen“[1]. Dieses Hindernis ist die Verfassung. Sie ordnet nicht nur das Gesetzgebungsverfahren, sondern schützt vor allem das Individuum vor der Gewalt der Mehrheit und mildert die Mehrheitsherrschaft per ausgeklügelte Systeme der Repräsentation und Gewaltenteilung. Dieser liberale Konstitutionalismus bildet mit und im Widerspruch zum Mehrheitsprinzip die Grundlage der westlichen Demokratien. Die eigentliche Gefahr, die von Donald Trump und dem ihm nahestehenden politischen Strömungen ausgeht, ist nicht ihre vermeintliche Demokratiefeindlichkeit, sondern deren Überbetonung. Diese Unterscheidung ist wichtig, wenn man den rechtspopulistischen Strömungen unserer Tage etwas entgegensetzen will. Das Ziel der Anfeindungen ist heute mehr denn unsere liberale Verfasstheit. Sie gilt es zu verteidigen.
Die Tendenz, den liberalen Konstitutionalismus beseitigen zu wollen oder zumindest zu diskreditieren, ist überall in den populistischen Diskursen zu vernehmen. So attackierte Trump erst kürzlich zwei US-Richter; sie seien nicht befugt über ihn zu entscheiden, weil sie mexikanischer Abstammung bzw. muslimischen Glaubens seien, sagte er bei einer Wahlveranstaltung. Ein beinahe beispielloser rhetorischer Angriff auf die richterliche Unabhängigkeit. Ein Interessenkonflikt ist ja auch bei noch so ehrenwerten Richtern nicht auszuschließen. Nur muss dieser vor Gericht belegt werden, statt auf dubiose Identitäten zu verweisen. Auch seine Antwort, ob er bei einer etwaigen Wahlniederlage das Ergebnis anerkennen werde, weckte Bedenken. Live im Fernsehen sagte er, er behalte sich die Anerkennung noch vor, aufgrund angeblicher Wahlfälschung.
Auch in Europa ist dieser Ton neuerdings nicht mehr fremd. Als der britische High Court urteilte, dass das Parlament über den Austritt des Königreichs aus der EU abstimmen müsse, sagte der UKIP-Übergangschef Nigel Farage: „Es fällt meiner Partei schwer, der britischen Justiz zu vertrauen. Denn es gibt eine politische, reiche herrschende Elite in unserem Land, die das Ergebnis des Referendums nicht akzeptieren will. Das kann den größten politischen Volksaufstand auslösen, den wir je hatten.“ Dieser nur schlecht getarnte Versuch der Delegitimierung der britischen Hochjustiz mittels Verweis auf die Mehrheitsmeinung ist in Wahrheit eine Attacke auf die britische Gewaltenteilung – festgeschrieben in den britischen Verfassungsdokumenten. Auch hier sei begründete Kritik an der Entscheidung erlaubt. Aber bei einer solch schwierigen Verfassungsentscheidung hat nun einmal die Justiz das Wort, um die britischen Rechtsprinzipien und –Traditionen sorgsam abzuwägen. Das Ergebnis der Richter ist in jedem Fall zu akzeptieren – egal wie die Mehrheiten im Lande stehen.
Hier zeigt sich: Die eigentliche Gefahr für unser liberal verfasstes Staatswesen ist weniger die explizite Abschaffung, als dessen implizite Delegitimierung. Denn der Populismus ist im Gegensatz zum Kommunismus oder Faschismus keine ausgereifte Ideologie, die die Abschaffung des bürgerlichen Parlamentarismus einfordert, sondern eine relativ theorieferne Machteroberungsstrategie.[2] Deswegen müssen AfD, UKIP, FPÖ, Front National oder Donald Trump auch keineswegs in allen Belangen übereinstimmen. So ist das Programm der französischen Populisten weit dirigistischer als das der deutschen oder britischen. Gemein haben sie alle nur eine bestimmte Methodik, die drauf und dran ist den liberalen Konstitutionalismus auszuhebeln.
II. DER DEMOKRATISCHE ABSOLUTISMUS UND DIE TYRANNEI DER MEHRHEIT
Gerade die Debatte um den Brexit zeigt das demagogische Vorgehen besonders eindrücklich. Als der High Court entschied, dass das britische Parlament als Souverän über den Ausstieg aus der Europäischen Union abstimmen muss und eine Erklärung der Regierung nicht ausreiche, ereiferten sich die Pro-Brexit-Zeitungen in ungekanntem Maße. Die „Daily Mail“ titelte unter den abgedruckten Portraits der Richter: „Feinde des Volkes“, weil sie angeblich den Mehrheitsentscheid ignorieren würden. Auch die „Sun“ schlug in dieselbe Kerbe: „Ausländische Elite trotzt britischem Wählerwillen“ hieß es groß auf der ersten Seite. Ausländische Elite? Für dies Etikettierung reichte dem Blatt mit Millionenauflage die Tatsache, dass die Klägerin, die das Urteil initiierte, eine Bankerin brasilianischer Abstammung, aber mit britischer Staatsbürgerschaft war. Aber auch britische Abgeordnete ließen sich mitreißen. Ein UKIP- und ein Tory-Parlamentarier äußerten ihre Ablehnung des Urteils mit den Worten: „Die Richter gegen das Volk“ bzw. „Nicht-gewählte Richter haben das Sagen. Deswegen haben wir für den Austritt [aus der EU] gestimmt. Macht dem Volke!“.
Unter Bezugnahme auf den Begriff des Volkes kommt ein absolutes Demokratieverständnis zum Vorschein. Wenn das Volk der Souverän ist, so die Logik, welches Recht besitzt eine Regierung, ein Parlament, ein Richter der Mehrheit zu widersprechen? Das Volk habe in Wahrheit alles zu entscheiden, egal ob über Referenden, Volksabstimmungen oder auch nur über Umfragen, die angebliche Mehrheiten bescheinigen. Und dort, wo es noch keine rechtlich festgestellte Majorität gibt, hilft einstweilen der Verweis auf die „schweigende Mehrheit“ – ein Begriff, den sowohl Donald Trump als auch die AfD gebraucht. Die Machteroberungsstrategie ist erschreckend einfach. Wer sich der Mehrheit in den Weg stellt, kann nur ein Feind des Volkes sein. Denn, wie John Stuart Mill, warnte: „Die Nation meint, nicht vor sich selbst geschützt werden zu müssen. Denn ist sie einmal an der Macht, wer hat noch das Recht sie zu bremsen?“[3]
Aus dem Absolusetzen des demokratischen Urteils wird so ein demokratischer Absolutismus. Allmacht der Mehrheit, statt konstitutionelle Hindernisse. Die Benennung der angeblichen „Feinde des Volkes“ will heißen: Nieder mit den verfassungsmäßigen Institutionen, den Gerichten, Ausschüssen, Parlamenten, Kabinetten, Ämtern, Normen und Konstitutionen unseres Landes. Der Souverän muss ungebremst herrschen können. „Macht dem Volke!“ ist der Wahlspruch der Tyrannei der Mehrheit.
Den Populisten schlägt zu Gunsten, dass Elitenfeindlichkeit mittlerweile ein in der Breite vorherrschendes Phänomen ist. Wo sich die Feindlichkeit noch nicht äußert, dort herrscht Enttäuschung, Misstrauen, Aversion oder mindestens Distanziertheit. In diesem Klima gedeiht der Rückgriff auf Verabsolutierungsstrategien am besten. Aus der diffus umrissenen politisch-medialen Elite des Landes wird plötzlich eine feindlich gesinnte Minderheit gemacht, die in den Gerichten und Parlamenten sitzt, um sich dem angeblichen oder tatsächlichen Mehrheitsvotum in den Weg zu stellen. Weg müssen also nicht nur die „Mainstreampresse“ und die „Altparteien“, sondern schlussendlich auch die Richter und Abgeordneten, die Mäßiger und abwägenden Repräsentanten. Der aufgerührte Demos bahnt sich seinen Weg durch die „versteckten Klippen, die die Brandung des Volkswillens aufhalten oder spalten“[4].
Dazu passen, wenn auch weniger intellektuell formuliert als bei Tocqueville, die Rufe „Volksverräter! Volksverräter!“, die am Tag der Deutschen Einheit in Dresden von Neonazis und AfD-Anhängern ebenso laut gerufen wurden wie bei einer AfD-Demonstration gegen den Auftritt Angela Merkels beim CDU-Landesparteitag in Neubrandenburg. „Volksverrat“ entspringt dem nationalsozialistischen Rechtsdenken und bezeichnete ein „unmittelbar gegen das deutsche Volk gerichtete Verbrechen eines Volksgenossen, der die politische Einheit, Freiheit und Macht des deutschen Volkes zu erschüttern trachtet“[5] Auch hier: Die Identität, also Einheit, des rassisch und ethnisch verstanden „Volkes“ steht im Mittelpunkt. Ausscheren ist nicht nur strafbar, sondern ein nahezu garantiertes Todesurteil. Man kann das als verbale Eskalationen vereinzelter Anhänger abtun. Doch die Aussage Frauke Petrys, den Begriff „völkisch“ wieder positiv zu besetzen, regt kaum zur Beruhigung an.
Politischen Gegner gelten in der demokratisch-absolutistischen Logik nicht mehr als Akteure mit denen man innerhalb des konstitutionellen Rahmens übereinstimmt oder im Streit liegt. Sie wandeln sich vielmehr vom „konventionellen Feind“, um ein Wort des umstrittenen Staatsrechtlers Carl Schmitts abzuwandeln, zum „wirklichen“ oder „absoluten Feind“[6], dem man aufgrund seiner vermeintlichen Minderheitenposition die grundlegende Legitimität abspricht. Er wird, salopp gesprochen, vom demokratischen Sparringspartner zum Feind der angeblichen demokratischen Mehrheit stilisiert. Er muss weg von den Richter- und Parlamentsbänken, weil die Mehrheit das Sagen haben soll. „Macht dem Volke!“ schallt es in den Facebookgruppen und Sprechchören der Verfassungsfeinde.
III. DER UNTERGANG DES KONSTITUTIONALISMUS
Wie der liberale Konstitutionalismus im Zuge völkischer Bewegungen untergehen kann, zeigt das Beispiel Ungarn. Der ungarische Ministerpräsident Viktor Orbán hat in der Zeit, als seine Partei die verfassungsändernde Zwei-Drittel-Mehrheit besaß, sein Land in eine „illiberale Demokratie“ umgewandelt. Ein Staat also, der seine Legitimation noch über Mehrheiten bezieht, diese aber absolut versteht, das heißt ohne Checks-and-Balances, Gewaltenteilung und Grundrechte. Hier ist der liberale Konstitutionalismus praktisch vollkommen ausgeschaltet. In einer Schlüsselrede aus dem Jahr 2014 forderte er offen: „Mit den liberalen Prinzipien und Methoden der Organisierung einer Gesellschaft und überhaupt mit dem liberalen Verständnis von Gesellschaft müssen wir brechen.“
Er begründet das nicht nur mit der vermeintlich ethnisch-nationalen Identität Ungarns, sondern auch mit den Folgen, die eine liberale Verfassung mit sich bringt. So könne in Amerika „der amerikanische Senat den amerikanischen Präsidenten vor Gericht [anklagen]. (..) Stellen Sie sich das in Ungarn vor! Dass das ungarische Parlament gegen den Ministerpräsidenten wegen Kompetenzenüberschreitung klagt und das Gericht ihn auch noch verurteilt. Wie lange kann ich da im Amt bleiben, verehrte Damen und Herren?“ Hier werden die liberalen Korrektive des Mehrheitsprinzips angegriffen. Nicht nur als vermeintlich schwach, sondern vor allem wegen ihren, dem Kollektiv, der Gemeinschaft, der Mehrheit entgegenstehenden Funktionen.
Zwar haben weder UKIP, noch der Front National, die FPÖ, AfD oder Donald Trump die liberalen Verfassungsordnungen westlicher Länder ausgehebelt, wie dies in Ungarn der Fall ist, doch Wege in diese Richtung sind denkbar. Die eigentliche Gefahr, die in Westeuropa und Nordamerika droht, ist nicht eine illiberale Umschreibung der Verfassung, sondern eine veränderte Verfassungswirklichkeit, also eine tatsächlich illiberale Verfassungssituation, die dem von der Verfassungsurkunde angestrebten Zustand entgegensteht.[7]
Man muss nur die Amtszeit Donald Trumps im Kopf durchspielen, um die Gefahren zu sehen. Es ist kein Geheimnis, dass die überwiegende Mehrheit der republikanischen Abgeordneten und Eliten wenig von Trumps Ideen hält – besonders was seine Außenpolitik und Handelsideen betrifft. Was passiert also, wenn der Präsident seine wahnwitzigen Ideen, wie dem Bau einer Mauer zu Mexiko oder den Beginn eines Handelskrieges mit China, im Kongress nicht durchgewunken bekommt? Nicht unwahrscheinlich ist, dass er per Exekutive Orders, von denen Barack Obama schon reichlich Gebrauch machte, seine Gesetze abseits des Parlaments implementiert. Wer wagt ihm laut zu widersprechen? Er hat doch ein eindeutiges Mehrheitsvotum für seine Politik hinter sich! Wie schnell kommen Vorwürfe der angeblichen Demokratiefeindlichkeit in Richtung der etablierten Republikaner? Und halten sie dem Stand? Die Fragen illustrieren, wie sich über populistische Mehrheitspolemik eine Verfassungswirklichkeit durchsetzen könnte, die einer Tyrannei der Mehrheit weit mehr entspricht, als den Vorstellungen der amerikanischen Bundesverfassung.
Auch in Großbritannien drohen diese Tendenzen. Das Urteil des High Courts ist wirksam und auch der Supreme Court wird im Dezember dem Brexit-Entschluss wohl nicht widersprechen. Was passiert, wenn das Parlament den Brexit dann hinauszögert? Wie heftig wird die Kampagne der Brexiteers und Boulevardzeitungen? Und was ist, wenn ein Gericht in zehn Jahren ein ähnliches Urteil zu fällen hat? Traut es sich zu riskieren, unter privaten Aufnahmen der Richter als „Volksverräter“ bezeichnet zu werden, wenn es sich der Mehrheit entgegenstellt?
Es sind Fragen, die beunruhigen. Sie zeigen, wie in der populistischen Eskalationsstimmung die liberalen Verfassungen der westlichen Welt unter Druck geraten können. Wo sich das Mehrheitsdogma erst einmal durchgesetzt hat, haben es Richter, Abgeordnete und Grundrechte schwer. Wer für sie einspringt, läuft Gefahr als Teil der feindlichen „Elite“ angegriffen zu werden. Doch sie sind die einzigen Hindernisse auf dem Weg zur Tyrannei der Mehrheit. Es lohnt sich, sie zu verteidigen.
[1] Tocqueville, Alexis de: Über die Demokratie in Amerika, 1835, S. 147ff.
[2] Backes, Uwe: Nationalpopulistische Protestparteien in Europa : vergleichende Betrachtungen zur phänomenologischen und demokratietheoretischen Einordnung, in: Österreichische Zeitschrift für Politikwissenschaft, 1991, S. 64.
[3] Mill, John Stuart: On Liberty, 1859, S. 1ff.
[4] Tocqueville, Alexis de: „Über die Demokratie in Amerika“, 1835, S. 160f.
[5] Lexikon Drittes Reich: Volksverrat, www.lexikon-drittes-reich.de/Volksverrat.
[6] Schmitt, Carl: Theorie des Partisanen, 1963.
[7] Schmitt, Carl: Verfassungslehre, 1928.
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