Mit Betroffenheitsritualen ist dem in den europäischen Einwanderungsländern aufgeflammten ethnisch-nationalen Konflikten nicht beizukommen

Baustelle, Foto: Stefan Groß

I.
In der Geschichte gibt es Prozesse, die erst in der Rückschau, aus der Perspektive des Historikers, ihre innere Logik und/oder ihre dialektische Brisanz erkennen lassen – nichts deutete z.B. anno 1787 in Frankreich auf die Große Revolution hin – und andere, deren zu Konflikten, zum Eklat und zum Zusammenbruch politisch-sozialer Ordnung führende Tendenzen – zumindest für scharfsinnige Beobachter – absehbar sind. Die Zustände in der Sowjetunion – und persönliche Erfahrungen – motivierten den russischen Dissidenten Andrej Amalrik (1938-1940) zu seinem Essay „Kann die Sowjetunion das Jahr 1984 erleben?“ (1969/1970). Der Autor irrte sich in seiner Prophetie nur um sieben Jahre. Nicht anders war vorherzusehen, dass nach dem Tode des jugoslawischen Diktators Josip Broz Tito (gest. 1980)  in dem nur an der Oberfläche unter kommunistischer Ägide föderalistisch konzipierten Staat  die ethnisch-kulturellen Konflikte wieder aufbrechen würden, die in den 190er Jahren – nach dem Ende der bipolaren Nachkriegsordnung – in die blutigen Balkankriege mündeten.

Der Mauerfall am 9. November 1989 kam für die die politische Klasse der alten Bundesrepublik völlig unerwartet. Es war die Leistung des Bundeskanzlers Kohl, die historische Chance einer schnellen Wiedervereinigung der beiden deutschen Teil(ungs)staaten zu erkennen und „den Mantel der Geschichte“ zu ergreifen. Dank dem manifesten Verlangen der Deutschen in der DDR  („Deutschland einig Vaterland!“ „Wir sind ein Volk!“ ) wurde Deutschland zum zweiten Mal in seiner jüngeren Geschichte  – jetzt in den Grenzen zwischen Rhein und Oder – als Nationalstaat konstitutiert (wenngleich unverzüglich unter Souveränitätsverzichten aufgehoben in der 1992 kreierten Europäischen Union). Die um die „neuen Bundesländer“erweiterte Bundesrepublik Deutschland definierte sich  in zwiefacher Hinsicht als Nationalstaat: als Staat der Deutschen in ihrem Selbstverständnis als Geschichtsnation und als politisches Subjekt eines nation state.

II.
Ähnlich den anderen westeuropäischen Ländern trug der erneuerte deutsche Nationalstaat ein Problem mit sich: die seit Jahrzehnten anwachsende Immigration aus europäischen und nicht-europäischen Ländern, maßgeblich aus muslimischen Ländern des Nahen Ostens. Ohne Rücksicht auf die mit der Einwanderung importierten ethnisch-kulturellen und religiösen Traditionen definierte die „progressive“, links-grüne (=linksliberale) Avantgarde der westdeutschen Gesellschaft den alt-neuen Nationalstaat zu einem „Einwanderungsland“ um. Man negierte  die aus unverminderter Einwanderung – und kulturbedingt  disproportionaler Bevölkerungsentwicklung – vielfältig resultierenden Konfliktmomente. Anstatt einer kritischen Reflexion über Notwendigkeit und Grenzen von „Integration“ – sprich Verinnerlichung der Rechtsordnung des deutschen Nationalstaats sowie Annäherung an das nationale Selbstverständnis der Deutschen – ermöglichte und forcierte man die Einwanderung aus aller Herren Länder durch die Perhorreszierung des – vermeintlichen (!) – ius sanguinis und durch die kontinuierliche, vermeintlich „demokratische“ Änderung des Staatsbürgerrechts zugunsten beliebiger Doppelstaatsbürgerschaften.

Der Prozess der historisch einzigartigen, ethnisch-kulturellen und ethnisch-sozialen Transformation der deutschen Gesellschaft erlebte mit der kopflosen – und (wie wir seit Robin Alexanders Buch „Die Getriebenen“ wissen) keineswegs moralisch gut gemeinten, sondern nur moralisch verbrämten – Merkelschen Grenzöffnung 2015 einen quantitativen und qualitativen Sprung. Von einer Drosselung, geschweige denn Umkehr der Einwanderungsdynamik kann in Deutschland keine Rede sein. Allein die von der Großen Koalition vereinbarte Aufnahme von über 200 000 Asylsuchenden/Flüchtlingen pro Jahr ist geeignet, den Prozess zu forcieren statt zu kontrollieren.

Das Zauberwort zur Beherrschung der Migrationsströme lautet „Integration“. Der gesellschaftliche Alltag widerlegt einen Begriff, der kaum je im obigen Sinne definiert, sondern zur Ideologie der multikulturellen „Vielfalt“ (diversity) umgebogen wird.  Die sozialen Fakten – in den „Problemvierteln“, auf den Straßen, in den Kreißsälen (wehe dem, der es wagt, davon zu sprechen!), an den Schulen, in den Gefängnissen – demonstrieren die Inhaltslosigkeit des nur noch technokratisch intendierten Begriffs. Hinter dem technokratischen Konzept steht die von manchen „Linken“ („open borders!“), insbesondere aber auch von westlichen Funktionseliten verfochtene Idee eines antihistorischen Universalismus, der die in der kulturellen „diversity“ angelegten Konfliktmomente ignoriert.

III.
Anschauungsunterricht für die Hohlheit der Begriffe „Integration“ und/oder Vielfalt erhalten wir – außer den üblichen Berichten über sexuelle Gewalt, „Ehrenmorde“, Kinderehen, Angriffe auf Juden und dergl. – in diesen Tagen durch die Bilder von gewaltsamen Zusammenstößen von Kurden und Türken, von ausgebrannten türkischen Moscheen und Kulturzentren. Es ändert nichts an den Fakten, wenn wohlmeinende Kommentatoren ihr Entsetzen über die Schändung von Gotteshäusern kundtun.

Bezeichnend ist, dass etwa die FAZ (v. 12.03.2018) zwar auf den Seite 1 und 2 zwar ausführlich über die sich in deutschen Großstädten verbreitende Gewaltkriminalität von Tschetschenen-Banden berichtet, über Brandanschläge in Berlin und in Baden-Württemberg „auf Moscheen, die politisch motiviert sein sollen“, auf S. 4 nur in kurzer Spalte. Der kurze Artikel enthält immerhin die Information, im Internet sei ein kurdisches Bekennervideo aufgetaucht. Ferner hätten „in vielen deutschen Städten“ sowie „in mehreren englischen Städten“ Demonstrationen und „Protestaktionen an Bahnhöfen“ gegen den Einmarsch der türkischen Armee in der nördlichen Kurdenregion Syriens und die drohende Einnahme der Stadt Afrin  stattgefunden.

Genaueres erfahren wir auf S. 1 des Berliner „Tagesspiegel“ (v. 12.03.2018) unter der Überschrift „Kurden-Konflikt erreicht Deutschland“. Im Internet sei die kurdische Jugend aufgerufen worden, „die mörderische Stille zu beenden und den Krieg auf Europas Straße zu tragen.“ „Radikale Aktionen“ wurden nicht nur gegen türkische Botschaften und Konsulate, Vereine, Läden und Cafés angekündigt, sondern auch gegen deutsche Institutionen, explizit Attacken auf Büros der SPD und der CDU sowie Polizei und Gerichte. Sodann heißt es: „Wer den Krieg gegen unser Volk unterstützt und verteidigt, wird dafür bezahlen müssen.“

IV.
Die Botschaft („unser Volk“) ist klar. Mit Betroffenheitsritualen ist dem in den europäischen Einwanderungsländern aufgeflammten ethnisch-nationalen Konflikten nicht beizukommen. Kurden, Türken, Araber – mutmaßlich auch Eritreer und andere – denken mehrheitlich gar nicht daran, sich hierzulande in unserer postnationalen Demokratie – mit spezifisch nationalgeschichtlicher Gedenkkultur –  zu „integrieren“. Sie halten an ihren eigenen ethnisch-nationalen und religiös-kulturellen Identitäten fest. Sie agieren inmitten der Multikultur („bunt statt braun“) und ungeachtet aller interkulturellen Bildungsbestrebungen politisch als Völker in eigener Sache. Eine Debatte, was dies für die Zukunft Europas bedeutet, findet in dem Lande, „in dem wir gut und gerne leben“ (Angela Merkel), nicht statt. Der „Kampf gegen rechts“ geht weiter.

Quelle: Herbert Ammon

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Herbert Ammon (Studienrat a.D.) ist Historiker und Publizist. Bis 2003 lehrte er Geschichte und Soziologie am Studienkolleg für ausländische Studierende der FU Berlin. Seine Publikationen erscheinen hauptsächlich auf GlobKult (dort auch sein Blog https://herbert-ammon.blogspot.com/), auf Die Achse des Guten sowie Tichys Einblick.