Aus vielen Zutaten ist die aktuelle Debatte über Missbrauchsfälle an jesuitischen Schulen in den siebziger Jahren zusammengesetzt: Eine dröhnende und späte Selbstanklage trifft auf gratismutige Empörung, katholisches Lavieren und Kirchenhass befeuern sich wechselseitig. Diese trübe Suppe kann keinem schmecken.
Dennoch serviert man sie uns täglich. Die, die es schon immer wussten, prosten denen, die es schon immer besser wussten, zu: Mit der Kirche im Allgemeinen und dieser römisch-katholischen im Besonderen sei einfach kein Staat zu machen. Besser wäre es, sie verschwände ganz.
Der Eifer, mit dem der Hexentrunk befeuert wird, täuscht über die Tiefendimension des Falles hinweg. Die Etiketten sind schnell zur Stelle, weil sie argumentative Sollbruchstellen bemänteln. Das vermeintlich Fraglose soll dem Fragen eine strikte Grenze ziehen. Nur sehr selten wird etwa die Frage erörtert, ob es denn gerecht zugehe, wenn mit anklagendem Getöse eine besondere Disposition katholischer Würdenträger zum sexuellen Missbrauch Minderjähriger unterstellt wird.
Vor elf Jahren etwa, erinnerte jetzt der Berliner Politik-Blog „Spreeblick“, war die säkulare und recht elitäre „Odenwaldschule“ Zentrum derselben quälenden, peinigenden Aufklärung. Im November 1999 wurde der langjährige Leiter der eher linksliberal-multikulturellen Reformschule der Pädophilie überführt. In den 1980er Jahren hatte er laut einem Betroffenen männliche Schüler „in inflationärem Umfang sexuell missbraucht“.
Verständlich ist das gesteigerte Maß an Entrüstung, wenn die Täter zuvor versprachen, ihr ganzes Leben Christus zu weihen. Derber kann man das Versprechen nicht verhöhnen als durch Gewalt gegenüber jenen, die der Nazarener in die Mitte stellte: „Wenn ihr nicht werdet wie die Kinder, so werdet ihr nicht ins Himmelreich gelangen.“
Symptomatisch ist derlei Verbrechen aber nicht. Käme irgendjemand auf die Idee, Männer keine Jungen mehr unterrichten zu lassen, um diese vor jenen zu schützen? Ein solcher Generalverdacht wäre abwegig und ehrabschneidend. Und ebenso abwegig sollte er auch dann sein, wenn er geistliches Personal betrifft.
Die römisch-katholische Kirche sieht sich auf der Anklagebank, weil man mit dem Zölibat das „missing link“ zwischen Pädophilie und Profession meint gefunden zu haben. Davon abgesehen, dass auch andere christliche Bekenntnisse unter derselben Geißel leiden: Der Zölibat ist im 21. Jahrhundert das am deutlichsten sichtbare Zeichen, dem die Welt widerspricht; schließlich bezweifelt er deren gesamte Logik.
Da in der Spätmoderne alles Welt werden soll, da alles aufgehen soll im Ewiggleichen, im Durchschnitt und im Diesseitigen, gilt dem Zölibat ausdauernde Ablehnung. Dass er im Kern ein Hoffnungszeichen ist für die Welt, indem er das Unbedingte zur Bedingung macht einer ganz anderen Existenzform, darf die Welt sich nicht eingestehen.
Der Zölibat hält inmitten all des Vorläufigen und Relativen dem Absoluten die Tür offen. Die Welt aber will mehr vom Gleichen, nichts vom Besonderen; will mehr von der Gegenwart, kaum etwas von der Zukunft und schon gar nichts aus den Tiefen der Vergangenheit. Dort reicht ihr Regiment nicht hin.
Der zölibatär lebende Priester kränkt, allein weil er ist, die Gegenwart fundamental. Sie vergilt es ihm mit Generalverdacht, Sippenhaft, Schuldsvermutung.
Ebenso kränkend mag man einen weiteren, darum verschwiegenen Gedanken empfinden: Die Zeit, in der sich die nun in Rede stehenden Übergriffe ereignet haben, war der Höhepunkt einer inneren Krise der Kirche. In dieser nachkonziliaren Krise wiederum bildeten die Jesuiten die Speerspitze des Neuen. Unter ihrem von 1965 bis 1981 amtierenden Generaloberen Pedro Arrupe, einem Basken, wandelten sie sich von den Prätorianern des Papstes, ihm unüberbietbar ergeben, zu „des heiligen Vaters ungehorsamen Söhnen“ – so ein Buchtitel von 1991.
Es waren Jesuiten, die den lockenden Seim des Marxismus und der Befreiungstheologie in sich aufsogen und den „Arbeiterpriester“ salonfähig machten; Jesuiten stemmten sich gegen die „Pillen-Enzyklika“ Pauls VI. und gegen den Pflichtzölibat, und Jesuiten wurden auch von Johannes Paul II. mehrfach zur (Kirchen-)Ordnung gerufen. Für jede liturgische oder theologische Extravaganz findet sich noch heute zuverlässig ein Jesuit, der sie gutheißt.
Schon Paul VI. fragte 1966 die Generalkongregation der Societas Jesu, ob er „noch“ auf deren besondere Treue bauen könne. Erstaunen und Schmerz erfüllten ihn angesichts der „Übernahme weltlicher Lebensart“ durch einige Jesuiten. Johannes Paul I. sah 1978 die Gefahr, dass jesuitische „Lehren und Publikationen unter den Gläubigen Verwirrung und Desorientierung anrichten“.
Johannes Paul II. dekretierte 1982 vor den Provinzoberen der Jesuiten, die Aufgabe eines Priesters sei nicht „die eines Arztes, eines Sozialarbeiters, Politikers oder Gewerkschafters“. Die Glaubenslehre dürfe nicht von „persönlichen Kriterien oder sozio-psychologischen Theorien“ bestimmt werden. Eine Ahnung dieser Spannung war noch greifbar, als Benedikt XVI. im Januar 2008 an den scheidenden Generaloberen schrieb. Die Gesellschaft möge „das wahre Charisma des Gründers wieder klar und deutlich bejahen“.
Wir lernen: Reformeifer und der Hang zur Selbstsäkularisierung schützen nicht vor Abgründen. Die moralische Lauterkeit in der Kirche wächst keineswegs automatisch, wenn die Kirche sich weltlicher gibt. Das Rüstzeug wider die Versuchung wird nicht mit der Romkritik frei Haus geliefert. Man kann sich moralistisch über Tradition und Konvention erheben und dennoch nicht die bessere Moral gepachtet haben. Der Umkehrschluss gilt natürlich auch – damit aber wäre der weiche Boden des allgemein Fraglosen wieder erreicht.
www.alexander-kissler.de
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