Es gäbe „keinerlei rechtliche Verpflichtung Deutschlands“, „den Schutz aller Menschen weltweit durch faktische oder rechtliche Einreiserlaubnis“ zu garantieren. „Eine solche unbegrenzte Rechtspflicht besteht auch weder europarechtlich noch völkerrechtlich“, so konstatierte Verfassungsrechtler Prof. Dr. Dr. Udo Di Fabio in einem Gutachten, das der Bundesregierung den Bruch des Verfassungsrechtes vorwirft. Di Fabio hatte in diesem von der CSU beauftragten Gutachten nachgewiesen, dass der Bund aus verfassungsrechtlichen Gründen dazu verpflichtet ist, die Landesgrenzen der Bundesrepublik Deutschland zu sichern, dies insbesondere dann, „wenn das europäische Grenzsicherungs- und Einwanderungssystem vorübergehend oder dauerhaft gestört ist“. Für Bayerns Ministerpräsident Horst Seehofer kommt das Gutachten zur rechten Zeit, bestätigt es ihm doch, dass die angedrohte Verfassungsklage des Freistaats gegen die Flüchtlingspolitik der Bundesregierung juristisch berechtigt wäre. Die Bayerische Staatsregierung sieht jetzt die Bundesregierung in der Pflicht, zu handeln, damit die „Herrschaft des Rechts“ wiederhergestellt wird. Wenngleich das Gutachten die Position Seehofers stärkt, wird Bayern vor den anstehenden Landtagswahlen in drei Bundesländern nicht klagen.
Niemals war die Kluft zwischen Recht und Wirklichkeit größer
Auch der ehemalige Verfassungsrichter Hans-Jürgen Papier hat nun zur Flüchtlingskrise Stellung bezogen und vor einer Bedrohung der staatlichen Integrität gewarnt. Gegenüber dem „Handelsblatt“ erklärte der 72-Jährige, dass in der rechtsstaatlichen Ordnung der Bundesrepublik die Kluft zwischen Recht und Wirklichkeit niemals so groß und tief gewesen sei, wie zum derzeitigen Augenblick. „Die engen Leitplanken des deutschen und europäischen Asylrechts sind gesprengt worden. Bestehende Regelungen wurden an die Wand gefahren. Die Asyl- und Flüchtlingspolitik krankt seit Langem daran, dass man es versäumt hat, zwischen dem individuellen Schutz vor Verfolgung einerseits und der gesteuerten Migrationspolitik für Wirtschaftsflüchtlinge andererseits zu unterscheiden. Letzteres erfolge nicht aufgrund rechtlicher Verpflichtungen, sondern aufgrund politischer Ermessensentscheidungen, die aus humanitären Gründen oder einer vorsorgenden Zuwanderungspolitik getroffen werden könnten.“
Wie Di Fabio macht auch Papier die Bundesrepublik samt ihrer Politik der offenen Türen für die Misere des Rechtsstaates mitverantwortlich und kommentiert, dass die unbegrenzte Einreise ein Fehler gewesen sei und die Bundesregierung damit sowohl ihre Grenzen als auch Kompetenzen deutlich überschritten habe. Der Fehler der unbegrenzten Einreise beruhe nicht auf einem umzusetzenden Recht; er ist in voller Tragweite einer politischen Entscheidung zu überantworten, die die Kanzlerin höchst selbst getroffen habe. Damit wird auch von Seiten Papiers der von Di Fabio bescheinigte Rechtsbruch der Kanzlerin aus juristischer Sicht unterfüttert.
Das „eklatante Politikversagen“ der Bundesregierung
Und damit nicht genug: Papier wirft der Bundesregierung um Angela Merkel nicht nur ein „eklatantes Politikversagen“ vor, sondern sieht in den vielen gutgemeinten Appellen aus dem Bundeskanzleramt der letzten Monate eine reine Zeitverschwendung am Werk, die zu einem Politikversagen auf breiter Front geführt hat. Die Bundesregierung hat zu lange bei ihrer Flüchtlingspolitik gezögert, die Hinhaltetaktik ist nun in die falsche Richtung gelaufen, bzw. in einer Orientierungslosigkeit eingemündet, die nur noch hilflos agieren kann, statt – wie politisch sinnvoll – vorausschauend verantwortungsvoll und damit verantwortungsethisch zu agieren. Rechtfreie Räume sowie die sexuellen Belästigungen in der Silvesternacht sind das traurige Ergebnis einer Politik, die nur auf Sicht fährt. Diese Geschehnisse „manifestierten ein partielles Versagen des Staates als Garant von Freiheit und Sicherheit gegenüber seinen Bürgern“.
Merkel Auf-Sicht-Politik ging lange gut. Damit steuerte sie sowohl durch die Banken- und Finanzkrise als auch durch die Griechenlandrettung. Aber nun rächt sich diese kurzsichtige Politik nicht nur bei der nichtvorhandenen Absicherung der europäischen Außengrenzen, sondern insbesondere an den deutschen Innengrenzen, wo, trotz Winter, der Flüchtlingsstrom mit mehren Tausenden täglich nicht abreißt.
Ein Paradigmawechsel in der Flüchtlingskrise ist dringend geboten
Ein Paradigmawechsel innerhalb der Asylpolitik bleibt für Papier die dringende Aufgabe, die die Kanzlerin jetzt leisten muss. Es ist das Gebot der Stunde, das auch über die Zukunft der Kanzlerin selbst entscheidet. Zu den dringlichsten Aufgaben zählt er die radikale Trennung zwischen Kriegsflüchtlingen und Wirtschaftsflüchtlingen, die Sicherung der deutschen Grenzen, die vorübergehende Aussetzung der Schengen-Regeln und die Unterbindung von illegalen Einreisen, denn es „gibt kein voraussetzungsloses Recht auf Einreise für Nicht-EU-Ausländer“. Laute Kritik über Merkels „Führung“ bei der Flüchtlingspolitik und den Sex-Übergriffen kam zuletzt aus den USA, wo Autoren unterschiedlicher Couleur – nicht nur wie in der „New York Times“ – sogar den Rücktritt der Kanzlerin forderten.
Für den ehemaligen Verfassungsrichter und Staatsrechtswissenschaftler Papier, der bis 2010 Präsident des Bundesverfassungsgerichts war, und der schon nach der Bundestagswahl von 2005 die Politiker dazu ermahnt hatte, das Vertrauen der Bürger nicht aufs Spiel zu setzen, der „eine verantwortliche politische Führung des Landes“ und „keine Vorführung taktischer Scharmützel“ oder „smarte Sprüche aus der Werbeabteilung der Politikberatung“ forderte, bleibt die Tatsache, dass Deutschland von anderen EU-Staaten die Grenzsicherung verlangt, diese aber selbst nicht leisten kann, eine Ungeheuerlichkeit. Mit den geplanten schärferen Einreisegesetzen und schnelleren Abschiebungen von abgelehnten oder kriminell-gewordenen Ausländern, sei der richtige Weg beschritten. Jedoch können diese relativ wenig bewirken, wenn sich der politische Kurs der Bundesregierung in Sachen Flüchtlingskrise nicht radikal ändert.
Hans-Jürgen Papier kann sich allerdings nur schwer vorstellen, „dass das Bundesverfassungsgericht dem Bund eine bestimmte Asyl- und Migrationspolitik vorschreiben wird“. Hier unterscheiden sich Papier und sein Kollege Di Fabio deutlich voneinander, denn es gibt, so Papier, keine Grundlage dafür, dass ein Eingreifen Merkels beim Schutz der Grenzen eingeklagt werden könne. Den politischen Gestaltungsauftrag muss die Bundesregierung selbst in die Hand nehmen, anstatt den untauglichen Versuch unternehmen zu wollen, diesen an das Bundesverfassungsgericht zu delegieren.
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