Merkel´s Speech at Harvard

Flagge Italien und USA, Foto: Stefan Groß

I.
Fraglos war der Empfang einer  Ehrendoktorwürde an der Harvard University am 30. Mai 2019 ein Höhepunkt in der privaten, wissenschaftlichen und politischen Karriere von Angela Merkel. In der Laudatio wurde sie gerühmt als „the schientist who became a world leader“. Die von einem Ghostwriter (sc. -r Gh-in) verfasste Dankesrede, genauer die Commencement Speech, hatte die Kanzlerin,  so war zu erfahren, noch in letzter Minute eigenhändig verfeinert. Offenbar hat sie selbst noch  die Zitate aus der Schatzkammer deutscher Dichtung selbst eingeflochten. Den Anfang ihres Berufslebens, nach Abschluss ihres Physikstudiums – unerwähnt blieb das Stipendium in Moskau -,  „inspirierte“ (dixit Merkel) das poetische Zauberwort Hermann Hesses. Mit Hölderlin kam die Kanzlerin im Verlauf ihrer Rede – und ihrer Karriere  – gleich zweimal ins Offene.

Merkels Vortrag, eingeleitet und beendet mit einigen Sätzen auf Englisch, wurde mehrfach mit mächtigem Applaus, ja von „standing ovations“, der Graduierten bedacht. Wer wagte angesichts solch eindrucksvoller Szenen noch Worte des Zweifels am Auftritt unserer Kanzlerin?

Die Kommentare in den meisten deutschen Medien fielen entsprechend laudatorisch aus. Beifall fanden vor allem Merkels Ausführungen zu „meinem Land, Deutschland, (das) unvorstellbares Leid über Europa und die Welt gebracht (hatte)“, zu Multilateralismus, Protektionismus, Handelskonflikten, Isolationismus, kurz: die pointierte, indirekt, ohne Namensnennung vorgetragene Absage an Trump.Vor erlesenem Publikum, vor der Elite Amerikas und der global vereinten Menschheit hatte es die deutsche Kanzlerin  dem unberechenbaren Rüpel im Weißen Haus wieder einmal gegeben. Im Internet ist zu erfahren, dass man in den USA von der Merkel-Ehrung kaum Notiz nahm.

Entgegen aller Erwartung durchbricht ausgerechnet die  FAZ (nr. 126 v. 01.06.2019, S.9) unter der Überschrift „Festgemauert in den Phrasen“ auf derersten Seite des Feuilletons alle Regeln der Hofberichterstattung. Edo Reents, Teilnehmer der großen Feier in Harvard, vernahm „eine Rede, deren intellektuelles Niveau man nur niederschmetternd nennen kann.“  Das Gehörte, eine Serie von Versatzstücken, veranlasste den Berichterstatter zur Flucht: „Nichts wie weg hier, bloß mit niemandem Eindrücke austauschen, am Ende merken die noch, dass man Deutscher ist.“

II.
Es sei gestattet, diesem köstlichen, mehr auf das Sprachliche zielenden Verriss noch ein paar Anmerkungen  zu den autobiographischen und politischen Aussagen der Geehrten (insgesamt sechs „Erfahrungen und Gedanken“) hinzuzufügen.  Merkel bekennt, sie sei keine Dissidentin gewesen, sie sei nicht gegen die Mauer angerannt. Richtig. Sie übergeht – vielleicht aus Zeitgründen – den Umzug ihrer Familie in die sozialistische DDR. Den Bau der  Mauer in Berlin, die „ein Volk“ (sic!) und Familien – „auch meine Familie“ teilte, erklärte sie damit, dass „die Regierung der DDR Angst (hatte), dass das Volk weglaufen würde in die Freiheit“. So kann man den Mauerbau erklären. Zu ergänzen wäre, dass der DDR seit Nikita Chruschtschows Berlin-Ultimatum (27.11.1958) und dem Scheitern der Vier-Mächte-Verhandlungen 1959/60 über Deutschland und Berlin vor allem die Arbeitskräfte wegliefen.

Das Mirakel des Mauerfalls deutet die Kanzlerin so:  „Dann kam das Jahr 1989. Überall in Europa setzte der gemeinsame Wille zur Freiheit unglaubliche Kräfte frei. In Polen, in Ungarn, in der Tschechoslowakei und auch in der DDR wagten sich Hunderttausende auf die Straße.“ In aller Bescheidenheit nennt die DDR-Bürgerin Merkel die Leipziger Demonstranten, die am 9. Oktober 1989 das Regime herausforderten, an letzter Stelle. Die umfassende Krise der Sowjetunion, der Name Michail Gorbatschow, der sich widerwillig auf die – für Europa zentrale – deutsche Frage einließ, der ungarische Außenminister Gyula Horn, der mit dem westdeutschen Außenminister Genscher die Grenzöffnung zu Österreich verabredete, kommen in der Rede nicht vor. Natürlich sollte man´s den jungen Leuten, der angehenden Elite der USA und aller Welt, nicht zu kompliziert machen, daher: „Wir Europäerinnen und Europäer sind zu unserem Glück vereint.“

Ungeachtet des von Robin Alexander rekonstruierten realen Verlaufs der „Flüchtlingskrise“ wird Merkel weiterhin von vielen gerühmt ob ihres spezifisch moralischen – und grünen – Zugangs zum Politischen. Dass „Kriege und Terrorismus zu Flucht und Vertreibung“ führen, steht außer Zweifel. Weit weniger klar ist, wie „wir die Ursachen von Flucht und Vertreibung bekämpfen (können).“ In Harvard präsentierte Merkel  ihr deutsches Konzept von 2015: „Das alles können wir schaffen.“ 

Ähnlich verhält es sich mit dem „von Menschen verursachten“ Klimawandel und den daraus resultierenden Krisen. Ja, wir „können und müssen“ alles unternehmen, „um diese Menschheitsherausforderung wirklich (sic!) in den Griff zu bekommen.“ Merkel versprach in Harvard, sie werde sich „deshalb mit ganzer Kraft dafür einsetzen, dass Deutschland, mein Land, im Jahr 2050 das Ziel der Klimaneutralität erreichen wird“.

Merkel ließ offen, was Trump, Putin, Xi Jinping, Maduro, Erdogan, die Mullahs in Teheran oder Kim Jong-un über dieses globale Programm denken. In ihrem Land, in Deutschland, genügt grüne Entschlossenheit für die Lösung aller Menschheitsfragen. Das heißt nicht, dass Merkel gänzlich falsch lag, als sie zum Schluss verkündete: „Nothing can be taken for granted, everything is possible.“

Quelle: Herbert Ammon

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Herbert Ammon (Studienrat a.D.) ist Historiker und Publizist. Bis 2003 lehrte er Geschichte und Soziologie am Studienkolleg für ausländische Studierende der FU Berlin. Seine Publikationen erscheinen hauptsächlich auf GlobKult (dort auch sein Blog https://herbert-ammon.blogspot.com/), auf Die Achse des Guten sowie Tichys Einblick.