I.
Fraglos war der Empfang einer Ehrendoktorwürde an der Harvard University
am 30. Mai 2019 ein Höhepunkt in der privaten, wissenschaftlichen und
politischen Karriere von Angela Merkel. In der Laudatio wurde sie gerühmt als „the
schientist who became a world leader“. Die von einem Ghostwriter (sc. -r
Gh-in) verfasste Dankesrede, genauer die Commencement Speech, hatte die
Kanzlerin, so war zu erfahren, noch in letzter Minute eigenhändig
verfeinert. Offenbar hat sie selbst noch die Zitate aus der Schatzkammer
deutscher Dichtung selbst eingeflochten. Den Anfang ihres Berufslebens, nach
Abschluss ihres Physikstudiums – unerwähnt blieb das Stipendium in Moskau
-, „inspirierte“ (dixit Merkel) das poetische Zauberwort
Hermann Hesses. Mit Hölderlin kam die Kanzlerin im Verlauf ihrer Rede – und
ihrer Karriere – gleich zweimal ins Offene.
Merkels Vortrag, eingeleitet und beendet mit einigen Sätzen auf Englisch, wurde
mehrfach mit mächtigem Applaus, ja von „standing ovations“, der Graduierten
bedacht. Wer wagte angesichts solch eindrucksvoller Szenen noch Worte des
Zweifels am Auftritt unserer Kanzlerin?
Die Kommentare in den meisten deutschen Medien fielen entsprechend laudatorisch
aus. Beifall fanden vor allem Merkels Ausführungen zu „meinem Land,
Deutschland, (das) unvorstellbares Leid über Europa und die Welt gebracht
(hatte)“, zu Multilateralismus, Protektionismus, Handelskonflikten,
Isolationismus, kurz: die pointierte, indirekt, ohne Namensnennung vorgetragene
Absage an Trump.Vor erlesenem Publikum, vor der Elite Amerikas und der global
vereinten Menschheit hatte es die deutsche Kanzlerin dem unberechenbaren
Rüpel im Weißen Haus wieder einmal gegeben. Im Internet ist zu erfahren, dass
man in den USA von der Merkel-Ehrung kaum Notiz nahm.
Entgegen aller Erwartung durchbricht ausgerechnet die FAZ (nr. 126
v. 01.06.2019, S.9) unter der Überschrift „Festgemauert in den
Phrasen“ auf derersten Seite des Feuilletons alle Regeln der
Hofberichterstattung. Edo Reents, Teilnehmer der großen Feier in Harvard,
vernahm „eine Rede, deren intellektuelles Niveau man nur niederschmetternd
nennen kann.“ Das Gehörte, eine Serie von Versatzstücken,
veranlasste den Berichterstatter zur Flucht: „Nichts wie weg hier, bloß
mit niemandem Eindrücke austauschen, am Ende merken die noch, dass man
Deutscher ist.“
II.
Es sei gestattet, diesem köstlichen, mehr auf das Sprachliche zielenden Verriss
noch ein paar Anmerkungen zu den autobiographischen und politischen
Aussagen der Geehrten (insgesamt sechs „Erfahrungen und Gedanken“)
hinzuzufügen. Merkel bekennt, sie sei keine Dissidentin gewesen, sie sei
nicht gegen die Mauer angerannt. Richtig. Sie übergeht – vielleicht aus
Zeitgründen – den Umzug ihrer Familie in die sozialistische DDR. Den Bau der
Mauer in Berlin, die „ein Volk“ (sic!) und Familien – „auch
meine Familie“ teilte, erklärte sie damit, dass „die Regierung der
DDR Angst (hatte), dass das Volk weglaufen würde in die Freiheit“. So kann
man den Mauerbau erklären. Zu ergänzen wäre, dass der DDR seit Nikita
Chruschtschows Berlin-Ultimatum (27.11.1958) und dem Scheitern der
Vier-Mächte-Verhandlungen 1959/60 über Deutschland und Berlin vor allem die
Arbeitskräfte wegliefen.
Das Mirakel des Mauerfalls deutet die Kanzlerin so: „Dann kam das
Jahr 1989. Überall in Europa setzte der gemeinsame Wille zur Freiheit
unglaubliche Kräfte frei. In Polen, in Ungarn, in der Tschechoslowakei und auch
in der DDR wagten sich Hunderttausende auf die Straße.“ In aller
Bescheidenheit nennt die DDR-Bürgerin Merkel die Leipziger Demonstranten, die
am 9. Oktober 1989 das Regime herausforderten, an letzter Stelle. Die
umfassende Krise der Sowjetunion, der Name Michail Gorbatschow, der sich
widerwillig auf die – für Europa zentrale – deutsche Frage einließ, der
ungarische Außenminister Gyula Horn, der mit dem westdeutschen Außenminister
Genscher die Grenzöffnung zu Österreich verabredete, kommen in der Rede nicht
vor. Natürlich sollte man´s den jungen Leuten, der angehenden Elite der USA und
aller Welt, nicht zu kompliziert machen, daher: „Wir Europäerinnen und
Europäer sind zu unserem Glück vereint.“
Ungeachtet des von Robin Alexander rekonstruierten realen Verlaufs der
„Flüchtlingskrise“ wird Merkel weiterhin von vielen gerühmt ob ihres
spezifisch moralischen – und grünen – Zugangs zum Politischen. Dass
„Kriege und Terrorismus zu Flucht und Vertreibung“ führen, steht
außer Zweifel. Weit weniger klar ist, wie „wir die Ursachen von Flucht und
Vertreibung bekämpfen (können).“ In Harvard präsentierte Merkel ihr
deutsches Konzept von 2015: „Das alles können wir schaffen.“
Ähnlich verhält es sich mit dem „von Menschen verursachten“
Klimawandel und den daraus resultierenden Krisen. Ja, wir „können und
müssen“ alles unternehmen, „um diese Menschheitsherausforderung
wirklich (sic!) in den Griff zu bekommen.“ Merkel versprach in Harvard,
sie werde sich „deshalb mit ganzer Kraft dafür einsetzen, dass
Deutschland, mein Land, im Jahr 2050 das Ziel der Klimaneutralität erreichen
wird“.
Merkel ließ offen, was Trump, Putin, Xi Jinping, Maduro, Erdogan, die Mullahs
in Teheran oder Kim Jong-un über dieses globale Programm denken. In ihrem Land,
in Deutschland, genügt grüne Entschlossenheit für die Lösung aller
Menschheitsfragen. Das heißt nicht, dass Merkel gänzlich falsch lag, als sie
zum Schluss verkündete: „Nothing can be taken for granted, everything is
possible.“
Quelle: Herbert Ammon