Philip Plickert (Hrsg.), Merkel. Eine kritische Bilanz. Mit Beiträgen von Thilo Sarrazin, Necla Kelek, Cora Stephan, Nobert Bolz, Roland Tichy und anderen, FinanzBuch Verlag, München 2017, 254 Seiten.
Als „Spontis“ bezeichnete man in den 70er Jahren undogmatische Linke, die planvolles und systematisches Handeln ablehnten und sich eher von Gefühlen und spontanen Eingebungen leiten ließen. Nach außen erschien Merkel vielen Zeitgenossen lange Zeit genau als das Gegenteil: Als unemotional und analytisch. Doch die Fassade täuschte. Zunehmend wurde in ihrer Regierungszeit deutlich, dass es eine Legende von Merkel-Bewunderern in Politik und Medien ist, dass sie alles kühl analysiere und „vom Ende her denke“. Ihr Handeln in der Eurokrise, bei der Abschaltung der Kernkraftwerke, in der Flüchtlingspolitik und zuletzt bei der „Ehe für alle“ zeigt, dass das Gegenteil der Fall ist. So sehen das auch die Autoren dieses Buches.
Wer über Angela Merkel mitreden will, muss dieses Buch lesen. Die 22 Autoren eint eine mehr oder minder kritische Sicht auf Angela Merkel und eine liberale bzw. konservative Gesinnung. Sie beleuchten verschiedene Politikfelder, so etwa die Europolitik, die Außenpolitik, die Energiepolitik oder die Flüchtlingspolitik und setzen sich damit auseinander, wie Merkel Politik betreibt und warum sie dies so tut, wie sie es tut.
„Lässt man die Merkel-Jahre Revue passieren“, konstatiert im Vorwort der FAZ-Redakteur und Herausgeber des Buches Philip Plickert, „findet man reihenweise planlose, undurchdachte und abrupte, opportunistische Wenden – mit gravierenden Konsequenzen für Deutschlands gesellschaftliche Stabilität und Wohlstand… Sie fuhr in der Euro-Krise ‚auf Sicht’ und hat sich verirrt. Bei der Energiewende hat sie sich von Ängsten in Medien und Bevölkerung leiten lassen. Und nicht zuletzt bei der Migrationskrise hat sie kopflos gehandelt und ganz Europa ein gewaltiges Problem aufgeladen.“ (S. 8)
Die Rechnung wird später präsentiert
Kein Kanzler hat das Wort „Nachhaltigkeit“ so oft verwendet wie Merkel – obwohl ihr Handeln das genaue Gegenteil ist. Das große Problem ist der Zeitverzug: Politisches Handeln wirkt sich meist nicht sofort aus, sondern erst mit vielen Jahren Verzug. So wie der erstaunliche Beschäftigungsaufschwung seit 2005 nicht Merkels Verdienst ist, sondern vor allem das Ergebnis der Reformen von Gerhard Schröder (dies weisen die Ökonomen Henning Kloth und Stefan Kooths in ihrem Beitrag nach), so wird die Rechnung für Merkels verhängnisvolle Entscheidungen in der Euro-, Energie- und Migrationspolitik sowie ihre Versäumnisse in der Wirtschaftspolitik erst später zu zahlen sein, wenn Merkel wahrscheinlich nicht mehr Kanzlerin ist.
Energiepolitik: 1000 Milliarden Kosten
Allein die Kosten der ideologisch-planwirtschaftlichen Technologiepolitik, mit der sich Roland Tichy auseinandersetzt, könnten sich auf 1000 Milliarden Euro belaufen. Diese Schätzung kommt nicht von ihm, sondern von dem damaligen Umwelt- und heutigen Kanzleramtsminister Altmaier (S. 134). „Die Energiewende“, so Tichy, „erinnert in ihren Auswirkungen wie ihrer gesellschaftlichen Ausgestaltung fatal an stalinistische Methoden der Fehlsteuerung, die blind an längst erkannten Natur- und Marktgesetzen vorbeischrammen. Der ‚Nationale Entwicklungsplan Elektromobilität’ könnte auch aus der Murkser-Werkstatt der sozialistischen Planwirtschaft stammen.“ (S. 139). Als Beispiel führt Tichy Merkels utopisches Ziel an, bis 2020 eine Million Elektrofahrzeuge auf die Straße zu bringen – ein Ziel, das so offensichtlich absurd ist, dass Merkel es drei Jahre vor dem Zieljahr wieder zurücknehmen musste. Selbst wenn es erreichbar gewesen wäre, hätte es, wie Tichy zeigt, für die Umwelt nichts gebracht – „die vorliegenden Untersuchungen legen sogar den zwingenden Schluss nahe, dass die Schadstoffbilanz deutlich negativ ausfällt“ im Vergleich zum Verbrennungsmotor (S. 137).
Der Ökonom Justus Haucap zeigt, wie in der Energiewirtschaft ein „planwirtschaftlicher Subventions- und Förderansatz“ verfolgt wird, bei dem jegliche Markt- und Wettbewerbsmechanismen ausgeschaltet werden (S. 120). Obwohl in keinem Land der Welt Sonne und Wind so stark gefördert werden wie in Merkel-Deutschland, wurde wegen der Mechanismen des EU-Emissionshandelssystems damit keine einzige Tonne CO2 in der EU gespart (S. 119 f.). Die deutschen Stromkunden zahlen inzwischen fast 50 Prozent mehr als der europäische Durchschnitt, die energieintensive Industrie verabschiedet sich sukzessive aus Deutschland (S. 125).
Migrationspolitik: Noch einmal 1000 Milliarden Kosten
Thilo Sarrazin, dessen Buch Merkel zwar laut eigener Auskunft nicht gelesen, aber öffentlich als „nicht hilfreich“ bezeichnet hat, befasst sich mit den Kosten der Migrationspolitik. Die Schätzungen gehen weit auseinander. Das Bundesfinanzministerium weist als „asylbedingte Leistungen des Bundes“ für 2016 21,7 Mrd. und für 2017 21,3 Mrd. Euro aus. Dazu kommen jedoch noch Leistungen der Länder und Gemeinden (S. 159). Der Freiburger Finanzwissenschaftler Bernd Raffelhüschen kommt auf langfristige Kosten von 900 Mrd. Euro. Sarrazin rechnet vor, dass es eine Billion Euro sein werden, wobei der Familiennachzug und weitere Zuwanderung nach 2018 noch nicht einbezogen sind (S. 160).
EU-Rettungspolitik: Target-Forderungen von 830 Mrd. Euro
Der renommierte Experte für Geldpolitik, David Marsh, rechnet vor, wie hoch die Risiken aus Merkels „Euro-Rettungspolitik“ sind. Der Sachverhalt ist für den Laien schwer verständlich, aber das mindert nicht die Brisanz. Durch das sogenannte Target2-System stehen für Deutschland inzwischen schon 830 Mrd. Euro im Risiko – Tendenz stark steigend. „Es ist bemerkenswert, dass eine Ausweitung von Bundesbankkrediten auf mehr als 800 Mrd. Euro via die EZB an andere Notenbanken und hoch verschuldete Staaten ohne parlamentarische Zustimmung vollzogen wird und nicht einmal Gegenstand einer richtigen Parlamentsdebatte war.“ (S. 102) Die verhängnisvolle Politik der EZB wird von Draghi und nicht von Merkel verantwortet – aber Merkel trägt die Verantwortung, dass nicht der damalige Bundesbank-Chef Weber, sondern Draghi an die Spitze dieser Institution kam (S. 98).
Die finanziellen Kosten und Risiken von Merkels Politik für die Zukunft sind also immens. Schwer wiegt, dass dies einherging mit massiven Rechtsbrüchen. Ob dies nun der Verstoß gegen das Bail-out-Verbot im Maastrichter Vertrag war oder der Bruch des Dublin 2-Abkommens in der Flüchtlingskrise: Merkel hat, dies wird in den Beiträgen deutlich, kein Verhältnis zum Rechtsstaat. Rechtliche Regeln sind ihr gleichgültig, sie handelt oft wie eine Autokratin.
Außenpolitischer Scherbenhaufen
Gleichzeitig hat Merkel in Europa und der Außenpolitik erheblichen Schaden angerichtet. Die europäischen Länder waren in der Nachkriegsgeschichte nie so zerstritten wie in der Ära Merkel. Und Merkel hatte daran einen gewaltigen Anteil. „Die Kanzlerin hat die Osteuropäer vor den Kopf gestoßen“, konstatiert Boris Kálnoky in seinem Beitrag. Um ihre von den Osteuropäern einhellig kritisierte Flüchtlingspolitik durchzusetzen, wurde erstmals in der Geschichte der Hebel einer qualifizierten Mehrheitsentscheidung im Rat der Innenminister der EU eingesetzt, „ausgerechnet bei einem Thema, das die Mitteleuropäer als Schicksalsfrage ansahen, wo es keinen Kompromiss geben konnte“ (S. 214). Merkel hat die Ost- und Mitteleuropäer – anders als Kohl – nie ernst genommen, obwohl das Handelsvolumen mit den sogenannten V4-Ländern größer und dynamischer ist als Deutschlands Handel mit Frankreich (S. 212).
Der Historiker Anthony Glees analysiert in seinem Beitrag, „wie Angela Merkel den Ausschlag zum Brexit gab“. Natürlich hat das Brexit-Votum vom Juni 2016 nicht eine, sondern mehrere Ursachen, aber angesichts der knappen 52:48 Entscheidung für den Austritt spreche viel dafür, dass „der Wunsch nach Wiedererlangung der Kontrolle über die Migration ausschlaggebend war“ (S. 204). Auch im Vorfeld des Brexit bemühte sich Merkel nicht, die Briten bei der Stange zu halten. „Merkel tat indes nichts Substantielles, um die britischen Wähler zu besänftigen, trotz ihrer behaupteten Zuneigung zum Vereinigten Königreich. Sie erschien während des Wahlkampfes vor dem Brexit-Referendum als unnachgiebig gegenüber britischen Wünschen, unempfänglich und nicht kompromissbereit – in scharfem Kontrast zu ihrer äußerst nachgiebigen, offenen und kompromissbereiten Einstellung gegenüber Migranten von außerhalb der EU… Bedenkt man, wie viele Gipfeltreffen und Hilfen und Konzessionen es zugunsten von Griechenland in seiner Finanz- und Wirtschaftskrise gab, das mit Milliardenkrediten ‚an Bord’ gehalten wurde, so erscheint das kontinentaleuropäische Engagement für einen Verbleib der Briten in der EU ziemlich mager.“ (S. 206)
Auch zu Österreich ist das bis dahin ausgesprochen gute Verhältnis erheblich gestört – und zwar wegen Merkels Flüchtlingspolitik. Diese wurde zunächst von Österreich geteilt, dann jedoch massiv kritisiert. Das Verhältnis zwischen Merkel und Kurz – der inzwischen zum Chef der ÖVP gewählt wurde und möglicherweise der nächste Kanzler Österreichs wird – ist tief gestört. Gegen den Widerstand Merkels organisierte er am 24. Februar 2016 die Schließung der Balkanroute, wovon Deutschland zwar profitierte, was ihm aber von Merkel bis heute nicht verziehen wird (S. 224). Unter dem Strich zeigt sich: „Merkel hat ein gewaltiges außenpolitisches Problem: Österreich, Osteuropa und jetzt auch die angelsächsischen Staaten stehen heute in großer Distanz zu ihr. Ganz anders als wenige Jahre zuvor. Nicht nur wegen des Entsetzens über ihre Willkommenspolitik. Zugleich hat sich auch ihre Türkeipolitik in mehrfacher Hinsicht als Rohrkrepierer erwiesen. Heute hat sie außer den wirtschaftlich schwachen romanischen Ländern im demokratischen Westen kaum noch Freunde.“ (S. 225)
Warum ist Merkel so, wie sie ist?
Merkel gibt den Autoren viele Rätsel auf. Warum ist sie so, wie sie ist? Und: Warum wird Merkel nicht nur geduldet, sondern auch von vielen Menschen so gemocht? Der Journalist und Historiker Ralf Georg Reuth sieht den Schlüssel zum Verständnis von Merkel in ihrer DDR-Vergangenheit. Sie habe darüber viele Legenden in die Welt gesetzt, die jedoch mit der Wirklichkeit wenig zu tun hätten. Merkel, die in der FDJ Leitungsfunktionen innehatte und Sekretärin für Agitation und Propaganda war, war schon damals eine Meisterin darin, sich dem jeweiligen Zeitgeist anzudienen. Auch als die DDR zusammenbrach, erkannte sie frühzeitig die Zeichen der Zeit und passte sich wieder mit einem erstaunlichen Geschick und erstaunlicher Geschwindigkeit an. Merkel, so Reuths Diagnose, entwickelte eine hohe Meisterschaft, sich dem Zeitgeist anzupassen, hat dabei selbst offenbar keine inneren Grundüberzeugungen. „In der Tat hat in Deutschland nie zuvor ein Bundeskanzler den Zeitgeist so konsequent bedient wie Angela Merkel. Helmut Schmidt hatte die Nato-Nachrüstung gegen die Mehrheitsmeinung seiner Partei in Angriff genommen und mit seinem politischen Schicksal verknüpft. Sein Nachfolger Helmut Kohl hatte dann die unpopuläre Nachrüstung in einem aufgeheizten politischen Klima umgesetzt… Der auf Kohl folgende Kanzler Gerhard Schröder war 2003, als Deutschland wirtschaftlich ‚kranker Mann Europas’ genannt wurde, von der Wichtigkeit der ‚Agenda 2010’ für die wirtschaftliche Genesung des wiedervereinigten Deutschland überzeugt und setzte sie gegen Widerstände und Prinzipien sozialdemokratischer Politik durch, zum Preise seines Amtsverlustes.“ (S. 60) Merkel dagegen war in ihrer Politik sprunghaft, ohne erkennbare Prinzipien – und stets von dem Wunsch geleitet, den jeweils herrschenden Zeitgeist perfekt zu bedienen. „Von Kindesbeinen an“, so konstatiert der Medienwissenschaftler Norbert Bolz, „hat sie einen intelligenten Opportunismus im Verhältnis zur DDR eingeübt. Man könnte auch sagen: die Kunst des Überlebens.“ (S. 20).
Merkels Erfolgsgeheimnis
Merkels Erfolgsgeheimnis, so Bolz, ist, dass sie ihre Schwächen in Stärken verwandeln kann. Ihre Unscheinbarkeit hat sie als Statement von Sachlichkeit und Glaubwürdigkeit inszeniert. Sie konnte nie gut reden, aber selbst daraus hat sie eine Stärke gemacht. Sie agiert nach dem Grundsatz von Sokrates, der die Rhetorik der Antirhetorik erfand: Ich kann nicht gut reden, ich kann nur die Wahrheit sagen. „Und genau so präsentiert sich Angela Merkel. Zu ihrem Kult der Einfachheit gehört auch das Schweigen als Waffe. Es erstickt jede Debatte im Keim – ob innerparteilich, parlamentarisch oder kulturell. Viele empfinden dieses neue Biedermeier als durchaus angenehm. Mutti schwebt über den Parteien und behält mit der Raute das letzte Wort.“ (S. 22) Der Aufstieg von Kohls „Mädchen“ zur mächtigsten Frau der Welt ist verblüffend, „weil man Angela Merkel aufgrund ihres bescheidenen unprätentiösen Auftretens eines am allerwenigsten zugetraut hätte: einen gewaltigen Willen zur Macht.“ (S. 20). Sie ist im Grunde eine Meisterin der Selbstinszenierung, bei der die Täuschung des Gegners bis zur Perfektion entwickelt ist.
Merkels größtes „Erfolgsgeheimnis“ ist aus meiner Sicht, dass sich all die unvermeidlich fatalen Folgen ihrer Politik erst in der Zukunft zeigen werden (was insbesondere in der Eurorettungs- und Energiepolitik den meisten Menschen nicht bewusst ist), während heute die Deutschen wirtschaftlich von Schröders Reformen und dem billigen Euro profitieren, so dass es uns so gut geht wie noch nie.
Dieses Buch ist für jeden, der über Merkel mitreden will, eine Pflichtlektüre. Ausgezeichnet ist Daniel Koerfers Beitrag, der zeigt, wie Angela Merkel die Prinzipien der Erhard’schen Wirtschaftspolitik, auf der der Erfolg der Bundesrepublik Deutschland gründete, verraten hat. Birgit Kelle zeigt, wie unter Merkel in der Familienpolitik sämtliche einstmaligen Positionen der CDU durch sozialdemokratische/feministische Positionen ersetzt wurden. Michael Wolffsohn, der vorab „beichtet“, dass er „ja“ zur Bundeskanzlerin Merkel sagt und den „Humanitären Imperativ“ ihrer Flüchtlingspolitik ausdrücklich lobt, konstatiert dennoch: „Ja, Angela Merkel hat samt Kabinett in der operativen Flüchtlingspolitik fast alles falsch gemacht, was falsch gemacht werden kann.“ (S. 167) Anders als viele andere Autoren erkennt der Historiker bei Merkel einen strategischen Plan – und dies sei die Hin- und Zuwendung der CDU zu den Grünen, bei denen sie in der Tat heute besonders viel Sympathien genießt.
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