Gemessen am Mittel- und Personalaufwand hat sich der Pflegebereich zu einer tragenden Säule des Sozialsystems entwickelt. Nachdem vor vierzig Jahren die Bayerische Beamtenkrankenkasse noch recht zögerlich ein Pflegekostentagegeld einführte, dauerte es volle siebzehn Jahre, ehe der Bundesgesetzgeber 1995 eine umfassende Soziale Pflegeversicherung verabschiedete. Doch dann ging es mit sich beschleunigendem Tempo Schlag auf Schlag: 2002 ein Pflegeleistungsergänzungsgesetz, 2012 ein Pflege-Neuausrichtungsgesetz, 2015 ein Pflegestärkungsgesetz 1, 2017 ein Pflegestärkungsgesetz 2. Und weitere kosten- und personalintensive Maßnahmen sind in Vorbereitung. Die Wirkungen sind beträchtlich. Abgesehen von einem gewaltigen Haushalt hat sich allein in den zurückliegenden zwanzig Jahren die Zahl der im Pflegebereich Beschäftigten mit mehr als 1,1 Millionen annähernd verdoppelt. Und das Ergebnis: anhaltender, nein zunehmender Pflegenotstand.
Was ist da zu tun? Noch mehr Geld, noch mehr Pflegende? Vielleicht. Vielleicht ist aber auch die Zeit reif für die Einsicht, dass unsere Gesellschaft weder fürsorglich noch achtsam, weder mitfühlend noch pfleglich ist. Da wird gnadenlos auf Kosten der Nachwachsenden gewirtschaftet und konsumiert. Da verlassen hunderttausende zumeist Väter ihre minderjährigen Kinder, wohlwissend, dass sie damit nicht selten diese in relative Armut und ins soziale Abseits stoßen. Da setzen Interessensverbände selbst partikularste Interessen durch und lassen andere dafür zahlen. Da werden Lebensstile zelebriert, die unvermeidlich Mitmenschen hierzulande und weltweit leiden lassen.
Nein, dies ist keine Gesellschaft von Gutmenschen und Kümmerern, von Sorgenden und Tröstenden und nicht zuletzt von Pflegenden in des Wortes umfassender Bedeutung. So gesehen ist der zu recht beklagte Pflegenotstand nur ein Glied in einer Kette, die sich für viele durch das ganze Leben zieht und allein mit Geld kaum zu durchbrechen ist.
Denn es ist auch eine Form von Pflegenotstand, wenn eine hoch schwangere Frau oder ein sichtlich gebrechlicher Greis in einem voll besetzten Bus stehen müssen, während es sich junge Männer und Frauen auf den Sitzen bequem gemacht haben. Es ist auch eine Form von Pflegenotstand, wenn Kinder in der Schule und Erwachsene am Arbeitsplatz einander brutal mobben, wenn Menschen erst durch den Verwesungsgeruch auf den Tod ihres Nachbarn aufmerksam werden.
In einem wirtschaftlich so wohlhabenden Land wie Deutschland ist Pflegenotstand nicht so sehr ein finanzielles als vielmehr ein kulturelles Problem. Was ist los mit einer Gesellschaft, die sich überlebenswichtige Kümmerer und Sorgende, von der Altenbetreuerin bis hin zum Seelsorger aus immer ferneren Ländern holen muss, weil im eigenen Land der Dienst am Nächsten als uncool gilt? Wo sind in dieser Gesellschaft die Kindergärten und Schulen, die Universitäten und Betriebe, die zu Empathie und Rücksichtnahme befähigen oder diese zumindest zulassen?
Deutschland als rohstoffarmes Land ist gut beraten, die Hirne seiner Bürger zu entwickeln. Aber es wird scheitern, wenn es nicht zugleich deren Fähigkeit zu Anteilnahme, wechselseitigem Verständnis, Gemeinsinn oder kurz deren Mitmenschlichkeit entfaltet. Nur dann wird auch der die ganze Gesellschaft betreffende Pflegenotstand überwunden werden können. Alles andere ist Stückwerk.