Ein Gespenst geht um in Europa. Doch diesmal ist es nicht – wie Karl Marx vor 170 Jahren wähnte – das Gespenst des Kommunismus, sondern das Gespenst der Souveränität, das immer mehr in seinen Bann zu ziehen scheint. Wer reklamiert nicht alles Souveränität, sprich Unabhängigkeit, Überlegenheit, Sicherheit? Pubertierende Jugendliche, Wasserwirtschaftsverbände, Gemeinden und selbstverständlich Staaten und Staatengemeinschaften. Was ist das gemeinsame Credo von Briten, Italienern, Ungarn, Polen und nicht zuletzt auch Deutschen? Wir wollen unsere Souveränität!
Nun ist gegen dieses Begehren an sich nichts einzuwenden. Was soll verwerflich sein an Unabhängigkeit, Überlegenheit und Sicherheit? Allein, diesem Begehren fehlt die Substanz und das macht es so gespensterhaft. Denn wer oder was kann unter den Bedingungen des 21. Jahrhunderts unabhängig und sicher sein? Diese Frage stellt sich sogenannten Großmächten wie den USA oder China im Prinzip nicht anders als den walisischen Kleinbauern, die ihr Votum für einen Brexit lautstark mit der Wiedererlangung ihrer Souveränität begründen.
Wie eng die Souveränitätsgrenzen gezogen sind, erfährt der Bürger spätestens dann, wenn er seine Alters- und Krankenvorsorge nach eigenen Vorstellungen organisieren will. Dies wird ihm unter Androhung empfindlicher Sanktionen verwehrt. Oder was ist mit Eltern, die mit ihren Kindern einen anderen als den staatlich etablierten Bildungsweg einschlagen wollen? Was ist mit beruflichen Karrieren, Bauordnungen oder den tausend Regeln und Vorschriften, die den Alltag jedes einzelnen bis zum Ersticken einschnüren? Für viele dieser Restriktionen gibt es einsichtige Gründe. Was aber bedeutet dann noch Souveränität?
Nicht anders ergeht es Staaten und Staatengemeinschaften, auch denen, die besonders laut auf ihre Souveränität pochen. Selbst ein Donald Trump musste schnell einsehen, dass die Macht des „mächtigsten Mannes“ der Welt bei Licht besehen doch recht beschränkt ist. Oder die Exiteers, denen es zwar frei steht, die EU zu verlassen, die sich aber ganz schnell in neuen und wahrscheinlich unbequemeren Bindungen als den bisherigen wiederfinden werden.
Wie immer man es wendet: Die Epoche, in der jeder seines Glückes Schmied sein sollte und mitunter auch konnte und blutige Kriege zur Verteidigung oder Wiedererlangung nationaler Souveränität geführt wurden, ist zu Ende gegangen. Jetzt gilt es, sich einzubringen in größere Einheiten von Individuen bis hin zu Staaten. Unabhängigkeit und Überlegenheit und ganz gewiss auch Sicherheit sind in Alleingängen nicht mehr zu verwirklichen. Der stolze Held, der unbeirrt seinen eigenen Weg geht und von niemandem abhängig ist, ist ein Phantom. Wenn Nationalstaaten von der Wiederherstellung vergangener Größe träumen, dann ist das rührend oder tragikomisch aber keinesfalls visionär.
Die Epoche der Postsouveränität erfordert neue Qualitäten, neues Denken und eine neue Kultur. In dieser Epoche ist es absurd, Positionen zu vertreten wie: Diese Stadt oder dieses Land gehört uns. Denn Exklusivrechte gibt es nicht länger. Das heißt nicht, dass alles allen gehört. Doch wem was gehört, gilt es immer wieder auszuhandeln. Wirklich souverän ist hierbei keiner – ganz gewiss nicht im Großen und nur ausnahmsweise im Kleinen.