„Meiner Seele ist Unglück zugestoßen.“ Der Selbstmord von Sergej Jessenin

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Sergej Jessenin war einer der bedeutendsten russischen Lyriker seiner Zeit. Im Alter von 30 Jahren schied er mit einem spektakulären Suizid aus dem Leben: Er schnitt sich die Pulsadern auf, schrieb mit seinem eigenen Blut ein Abschiedsgedicht und erhängte sich dann an einem Heizungsrohr. Nicht weniger spektakulär war sein kurzes Leben: er war viermal verheiratet, hatte Kinder mit verschiedenen Frauen und zahlreiche Affären. Er neigte zu Alkoholismus und gewalttätigen Impulsdurchbrüchen. Als „Bauern-Poet“ war er in Russland sehr beliebt. Selbst die Zarin liebte seine Gedichte und er durfte sie ihr privatissime vorlesen. In der Stalinzeit war er verpönt und verboten. Nach Stalins Tod erlebten seine Werke eine bemerkenswerte Renaissance.

Kurzes biografisches Porträt

Am 21. September 1895 wurde Sergej Jessenin auf einem Bauernhof im Oblast Rjasan geboren. Die Großstadt Rjasan liegt etwa 200 Kilometer südöstlich von Moskau. Beide Eltern waren Bauern und arm. Der kleine Sergej wuchs deshalb vom zweiten Lebensjahr an bei den Großeltern auf. Mit 18 Jahren zog es ihn in die Stadt und er lebte eine Zeitlang in Petersburg. Im Jahr 1914 erschien sein erster Gedichtband. Er hatte viele Kontakte zu anderen berühmten russischen Schriftstellern. Bald war er ein beliebter Dichter, dessen Gedichte beim Volk ebenso beliebt waren wie in den literarischen Salons. Bei der Zarin durfte er sogar seine Gedichte vorlesen. Das war kurz vor der Zeit, als in der Februarrevolution im Jahr 1917 das Zarenpaar gestürzt wurde. Die Revolutions- und Kriegswirren Russland nach der Oktoberrevolution überstand er unbeschadet. Im Jahr 1916 heiratete er zum ersten Mal. Mit seiner Ehefrau hatte er zwei Kinder. Kurz nach Geburt des zweiten Kindes verließ er die Familie. In den Jahren 1922/1923 war Jessenin mit der weltweit bekannten amerikanischen Tänzerin Isadora Duncan verheiratet. Kurz nach der Heirat machten sie eine Weltreise durch Europa und nach Amerika. Die Ehe war ein Desaster. Jessenin sprach und verstand kein Englisch, Duncan beherrschte nicht die russische Sprache. Die körperliche Begegnung und Alkohol waren die Brücken dieser zweifelhaften Beziehung. „Ohne Champagner lief nichts!“ war das Motto dieser Beziehung. Nach weniger als zwei Jahren war Jessenin froh, die Tänzerin wieder los zu sein. In der vierten Ehe heiratete er eine Enkelin von Leonid Tolstoi. Auch diese Ehe hatte eine kurze Lebensdauer. Die Alkoholprobleme und die Depressionen waren mittlerweile so ausgeprägt, dass die vierte Ehefrau ihn in eine psychiatrische Klinik einweisen ließ. Wenige Tage nach der Entlassung beging Sergej Jessenin seinen Suizid.

Literarisches Werk 

Angesichts seiner wenigen Lebensjahre bis zum Suizid im 30. Lebensjahr blieb Sergej Jessenin wenig Zeit für sein dichterisches Schaffen. Etwa zehn Jahre – wie bei Heinrich von Kleist oder Georg Büchner. Dabei hatte er das Glück, schon früh seine Erfolge und die außergewöhnlich große Resonanz der russischen Leser spüren zu können. Sowohl seine Dichter-Kollegen als auch die Zarin und der Kreml schätzten seine Dichtkunst. Er war ein leidenschaftlicher Lyriker. Sein literarisches Oeuvre besteht überwiegend aus Gedichtbänden. Der erste Lyrikband erschien zu Beginn des Ersten Weltkrieges und trägt den Titel „Frühlings-Totenfeier“. Seine sehr problematische Persönlichkeit, seine Alkoholsucht und die Depressionen bewirkten eine Abwärtsspirale, die die großen dichterischen Leistungen überschatteten. Viele seiner Werke erschienen in den Wirren der Oktoberrevolution und des folgenden Bürgerkrieges. Bald nach Jessenins Suizid im Jahr 1925 wurden unter der Herrschaft von Stalin seine Werke abgelehnt. Ihm wurde moralische Schwäche und „pathologischer Individualismus“ vorgeworfen. Sein exzentrischer Lebensstil und sein emotional-sentimentaler Sprachstil passten nicht zur damaligen sowjetischen Ideologie.  Erst nach dem Tod von Stalin im Jahr 1953 erschienen in russischer Sprache Werkausgaben, zuerst in fünf, dann in acht Bänden. In Russland entstand dadurch eine Jessenin-Renaissance. Im Jahr 1995 war ein Jubiliäumsjahr für Jessenin – der 100. Geburtstag und der 70. Todestag. Aus diesem Anlass erschien in dem Berliner Verlag Volk & Welt eine einzigartige Ausgabe seiner Werke – „Gesammelte Werke in drei Bänden“. Der Slawistik-Experte Leonhard Kossuth hat diese Werkausgabe herausgegeben. Sie umfasst 1325 Druckseiten. In dieser Werkausgabe sind nicht nur die meisten seiner Gedichte enthalten, sondern auch Prosawerke, Briefe und Fotomaterial.

Selbstmord als Motiv im Leben und Werk von Sergej Jessenin  

Der Suizid von Sergej Jessenin war für viele seiner Wegbegleiter keine Überraschung. Bereits im Jahr 1915 finden die Literaturwissenschaftler Spuren seiner Todessehnsucht und Suizidbereitschaft. Diese werden in seinen Briefen und Gedichten mehr als deutlich. In seinem Gedicht „In meiner Heimat leb ich nicht mehr gern“ aus dem Jahr 1915 sind Wehmut und Todesnähe spürbar. Nach dem Scheitern der Ehe mit Isadora Duncan und der für ihn frustrierenden Weltreise fühlte er sich zunehmend verzweifelt. Voller Abscheu und Verachtung schrieb er über Venedig und Amerika. In Venedig ärgerte er sich über die stinkenden Kanäle, in Amerika regte er sich über die ungebildeten und geldgierigen Menschen auf, die nur ihr Business im Kopf hätten. Er fragte bestürzt: „Soll man Amerikanern Gedichte vorlesen?“ und machte abfällige und rassistische Bemerkungen über „die Neger“. Er sehnte sich auf seiner Weltreise überwiegend nach Russland zurück und konnte fast nichts Schönes oder Positives in den bislang für ihn unbekannten Ländern entdecken. Doch auch die Rückkehr nach Russland besserte sein Befinden nicht. Er war ruhelos, unzufrieden und verzweifelt. Die Abwärtsspirale aus Alkoholsucht und Depressionen stürzte ihn immer tiefer in den Abgrund. Die letzte Ehe mit der Tolstoi-Enkelin blieb eine Farce. Sie lebten fast nicht miteinander. Getrieben wie ein verwundetes Tier flüchtete er unstet von Stadt zu Stadt. So waren auch seine letzten Tage. Bis zum 21. Dezember 1925 war er noch in einer Moskauer Klinik, dann reiste er allein nach Leningrad, mietete sich im Hotel Angleterre (später Astoria) ein und nahm sich dort wenige Tage später das Leben.

Sein letztes Gedicht schrieb er mit seinem eigenen Blut

Sergej Jessenin hatte schon immer eine starke Tendenz zur Selbstinszenierung. Sein Suizid war ebenfalls dadurch geprägt. Er schnitt sich die Pulsadern auf und schrieb mit seinem eigenen Blut sein Abschiedsgedicht. Paul Celan hat es aus dem Russischen ins Deutsche übersetzt. Dies lautet wie folgt:

Freund, leb wohl. Mein Freund, auf Wiedersehen.

Unverlorner, ich vergesse nichts.

Vorbestimmt, so wars, du weißt, dies Gehen.

Da’s so war: ein Wiedersehn versprichts.

Hand und Wort? Nein, laß – wozu noch reden?

Gräm dich nicht und werd mir nicht so fahl.

Sterben –, nun, ich weiß, das hat es schon gegeben;

doch: auch Leben gabs ja schon einmal.

In der dritten Zeile betont Jessenin, dass „dieses Gehen vorbestimmt war“, dass er also auf diesen Suizid schon lange hingelebt hat. Dies entspricht der Auffassung des Schriftstellers Jean Amery, der sich ebenfalls umgebracht hat und meinte: „Selbstmörder ist man lange, bevor man sich umbringt.“

Der russische Dichter Maxim Gorki drückte diesen Sinnzusammenhang mit ähnlichen Worten aus:

„Sein Leben wie sein Tod sind ein grossartiges Kunstwerk, ein Roman, den das Leben selbst geschaffen hat.“

Nadeshda Mandelstam beschrieb dies mit folgenden Worten:

„Der Tod eines Künstlers ist kein Zufall, er ist der letzte schöpferische Akt, der mit einem hellen Lichtstrahl sein ganzes Leben beleuchtet.“

Literatur

Jessenin, Sergej, Gesammelte Werke in drei Bänden. Hrsg. Von Leonhard Kossuth, Verlag Volk & Welt, Berlin 1995

Mierau, Fritz, Sergej Jessenin. Biographie. Reclam, Leipzig 1992

 

Korrespondenzadresse:

Professor Dr. med. Herbert Csef, An den Röthen 100, 97080 Würzburg

Email: herbert.csef@gmx.de

Über Herbert Csef 150 Artikel
Prof. Dr. Herbert Csef, geb. 1951, Facharzt für Psychosomatische Medizin und Psychotherapie, Psychoanalytiker. Studium der Psychologie und Humanmedizin an der Universität Würzburg, 1987 Habilitation. Seit 1988 Professor für Psychosomatik an der Universität Würzburg und Leiter des Schwerpunktes Psychosomatische Medizin und Psychotherapie an der Medizinischen Klinik und Poliklinik II des Universitätsklinikums. Seit 2009 zusätzlich Leiter der Interdisziplinären Psychosomatischen Tagesklinik des Universitätsklinikums. Seit 2013 Vorstandsmitglied der Dr.-Gerhardt-Nissen-Stiftung und Vorsitzender im Kuratorium für den Forschungspreis „Psychotherapie in der Medizin“. Viele Texte zur Literatur.