Mein Nachbar, der KZ-Mörder

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Am 20. April 1945, kurz vor Kriegsende, erhängten Nazi-Schergen im Keller der Hamburger Schule am Bullenhuser Damm zwanzig jüdische Kinder. Zuvor hatte man sie für medizinische Versuche missbraucht. Einer der Täter: der SS-Mann Arnold Strippel. In mehreren Konzentrationslagern hat er eine Blutspur hinterlassen, doch vor der Nachkriegs-Justiz musste er sich nicht fürchten. Er bekam sogar eine Haftentschädigung von 121 500 Mark.  Eine Spurensuche von Helmut Ortner

 

Die sechs Männer kommen am helllichten Tag. Unbemerkt dringen sie in das Treppenhaus ein. Die Vorbereitungen für eine geplante Ruhestörung beginnen: Flurwände werden mit Parolen besprüht, Flugblätter verstreut, Scheiben zertrümmert. Erregte Hausbewohner stürmen aus ihren Wohnungen. Es kommt zu heftigen Wortgefechten mit den Eindringlingen. Vor dem Haus bleiben die ersten Passanten stehen.

»Strippel – freier – Kinderhenker!«, skandiert die kleine Demonstranten-Gruppe. Der Mann, dessen Name immer wieder und immer lauter gerufen wird, steht unbeweglich hinter den Gardinen im zweiten Stock und beobachtet die Szene. Arnold Strippel, den viele Nachbarn als den ruhigen älteren Herrn aus der Talstraße hier im Frankfurter Vorort Kalbach kennen, ist wieder einmal von seiner Vergangenheit eingeholt worden. Aus Empörung darüber, dass sich der Mann, der für die Ermordung von zwanzig jüdischen Kindern verantwortlich ist, an denen im Konzentrationslager Neuengamme bei Hamburg zuvor Menschenversuche unternommen worden waren, noch immer in Freiheit befindet, ist die Gruppe französischer Juden nach Frankfurt gefahren. Ihre Aktion haben sie lange vorbereitet. Auf Flugblättern, die sie in den Briefkästen der umliegenden Häuser werfen, ist die Rede von einer »langen Blutspur«, die der ehemalige KZ-Mann Arnold Strippel in Buchenwald, Ravensbrück, Majdanek und Peenemünde hinter sich ließ. »Strippel, Mörder!«, rufen die Demonstranten auch jetzt, als aufgebrachte Nachbarn beginnen, handgreiflich zu werden. Nach heftigen Diskussionen und gegenseitigen Beschuldigungen werden die Demonstranten festgenommen, abtransportiert, und dem Haftrichter vorgeführt. Ihr Ziel haben sie trotz der Verhaftung erreicht: Am nächsten Tag berichtet alle Frankfurter Tageszeitungen über die Aktion gegen den ehemaligen SS-Mann.

Und danach? Die Staatsanwaltschaft wird wegen Hausfriedensbruch ermitteln, denn nicht nur Strippel, auch seine Nachbarn haben Strafanzeige gegen die jüdischen Demonstranten erstattet. Wenige Tage später sind die demolierten Fenster wieder ersetzt, die Parolen – und damit die Erinnerung an die unbequeme Vergangenheit – wieder von den Flurwänden gewischt. Ist das ein Problem für die Nachbarn? »Nee, das ist hier kein Thema … Aggressionen oder so etwas gegen den Mann – nein, die gibt’s hier nicht«, verrät mir der Postbote. Dass der ehemalige SS-Mann für seine Kalbacher Nachbarn ein durchaus ehrenwerter Bürger ist, zeigt mir die Reaktion eines älteren Mannes, der mir unwirsch zuruft, »könne Sie den Mann net in Ruh‘ lasse? «Wer ist dieser Mann, über den hier kaum einer reden will, über dessen Vergangenheit sich niemand entrüstet und dessen Nachbarschaft sich hier keiner schämt?

Beginn einer blutigen Täter-Karriere

»Ich Arnold Strippel, wurde als zweiter Sohn des Landwirts Friedrich Strippel und dessen Ehefrau Martha, geb. Wald, am 4. Juni 1911 in Unshausen, Bezirk Kassel, geboren«, schreibt er in seinem Lebenslauf für das »Rasse- und Siedlungshauptamt SS«. Und weiter: »Vom 6. bis zum 14. Lebensjahre besuchte ich die Volksschule dortselbst. Nach meiner Schulentlassung erlernte ich das Handwerk der Zimmerer. Auch nach bestandener Gesellenprüfung, welche ich nach 3-jähriger Lehrzeit ablegte, blieb ich weiterhin bei meinem Lehrmeister und war später, als das Baugeschäft daniederlag, in der Landwirtschaft meiner Eltern tätig. Im Frühjahr 1934 bewarb ich mich um die Einstellung in die aktive SS.«

Arnold Strippel wird angenommen. Äußerlich und innerlich entspricht er den Anforderungen dieses Blutordens: ein blonder germanischer Recke von 1,85 Metern, der nach dem allgemeinen Untersuchungsbefund der SS- Ärzte sowohl »straff-aufgerichtet« als auch »nordisch« ist. Im Oktober 1934 beginnt Strippel bei der Wachgruppe des Konzentrationslagers Sachsenberg seinen Dienst. Es ist der Beginn einer blutigen SS-Karriere. Es wird nur wenige Konzentrationslager geben, die er in den nächsten Jahren nicht betreten wird. Schon vier Jahre später ist er Rapportführer im Konzentrationslager Buchenwald. Eine seiner Aufgaben ist die Bestrafung der Lagerhäftlinge.

Strippel ist unter den Lagerinsassen gefürchtet. Er gilt als besonders brutal, als übler Schläger und Peiniger. Später wird ein Zeuge vor Gericht über ihn sagen: »Strippel war ein Mann, der den größten Wert darauflegte, hundertprozentig seine Aufgaben zu erfüllen. Ich habe ihn wiederholt und mit Lust prügeln sehen … er trat Leuten mit den Stiefeln ins Gesäß oder schlug sie mit der Faust oder einem Knüppel ins Gesicht.« Ab Juni 1942 hinterlässt er seine blutige Spur im Vernichtungslager Majdanek, wo er rasch zum Untersturmführer befördert wird. Nun folgen das KZ Ravensbrück, das Arbeitslager Peenemünde, das KZ Vught in Holland. Nach einer kurzen Zwischenstation im KZ Drütte wird er noch einmal befördert: als SS-Obersturmführer übernimmt er das Kommando für sämtliche Hamburger Außenlager des Konzentrationslagers Neuengamme. In einem der ihm unterstellten Außenlager, im Keller einer ehemaligen Schule am Bullenhuser Damm, werden in der Nacht vom 20. auf den 21. April 1945 – wenige Tage vor Kriegsende – 20 jüdische Kinder bestialisch ermordet.

Der Hintergrund: Das SS Arzt Kurt Heissmeyer wollte eine Professur erhalten. Dazu musste er originäre Forschungsergebnisse präsentieren. Obwohl zuvor widerlegt, war seine Hypothese, dass die Injektion von lebenden Tuberkulose Bazillen in Probanden würden als Impfstoff wirken. Eine weitere Komponente seiner Experimente basierte auf der pseudowissenschaftlichen Rassentheorie der Nazis, wonach die Rasse einen Faktor bei der Entwicklung der Tuberkulose spielte.

Zunächst wurden medizinischen Experimente an Häftlingen aus der Sowjetunion und anderen Ländern im Konzentrationslager Neuengamme durchgeführt. Dann wurden die Experimente auf Juden ausgedehnt. Dafür entschied sich Heissmeyer für jüdische Kinder. Zwanzig jüdische Kinder (10 Jungen und 10 Mädchen) aus Auschwitz Konzentrationslager wurden von Josef Mengele ausgewählt und nach Neuengamme geschickt.  Der Transport wurde von einer SS-Wache begleitet. Es gab 20 Kinder, eine Ärztin, drei Krankenschwestern. Der Transport erfolgte in einem separaten Wagen, der in einem normalen Zug gekoppelt war. Nach einer zweitägigen Reise kamen sie um zehn Uhr nachts in Neuengamme an.

Die Kinder wurden mit einem Lastwagen zur Bullenhuser Damm Schule im Hamburger Vorort Rothenburgsort gebracht und nach der Ankunft in den Keller geführt. Laut einer späteren Aussage eines SS-Mannes setzten sich die Kinder „ringsum auf die Bänke und waren fröhlich und froh, dass sie einmal aus Neuengamme herausgelassen worden waren. Die Kinder waren völlig ahnungslos.“ Sie mussten sich dann ausziehen und bekamen ein Morphium-Spritze. In einem angrenzenden Raum wurden sie erhängt. Überwacht wurde die Hinrichtung von SS-Obersturmführer Arnold Strippel. Das erste Kind, das gehängt wurde, war so leicht, dass sich die Schlinge nicht festzog.

Als die Truppen der Alliierten immer näher an Hamburg heranrückten, sollten alle Spuren vertuscht werden. So wurden auch 28 erwachsene Häftlinge, die als Betreuer der Kinder eingesetzt und deshalb Mitwisser waren, in einem ebenfalls Strippel unterstehenden Außenlager ermordet. Danach ziehen die Täter ihre Blutuniform aus. Sie tauchten unter. Auch Strippel.

Nur seine Pflicht erfüllt – sonst nichts

Am 31. Mai 1946 erhebt der englische Brigadier H. Shapcott vor dem Militärgericht im Hamburger Curiohaus Anklage gegen ihn und zwei weitere SS-Täter wegen »killing of 20 children at the Bullenhuser Damm« – aber er muss das Verfahren ohne Strippel durchführen. Der hat sich zuerst bei einem SS-Kumpan in der Nähe von Rendsburg versteckt, später als Landarbeiter im Hessischen. Im Herbst 1948, als sich die SS-Führer in Westdeutschland schon wieder sicher fühlen, als die Entnazifizierungs-Prozedur nur allzu grobmaschig auch zahllosen NS-Tätern die Rückkehr ins bürgerliche Leben ermöglicht, stellt sich auch Arnold Strippel unter seinem richtigen Namen im amerikanischen Internierungslager Darmstadt. Anstandslos bekommt er ordentliche Papiere und wird entlassen.

Doch am 13. Dezember 1948, mittags um 14 Uhr, holt Strippel zum ersten Mal seine Vergangenheit ein. Ein Buchenwald-Häftling, der früher von Strippel zum berüchtigten »Baumhängen« verurteilt worden war, erkennt seinen einstigen Peiniger in der Frankfurter Innenstadt. Der Mann ruft die Polizei. Strippel wird verhaftet.

Am 31. Mai 1949 beginnt vor dem Frankfurter Schwurgericht der Prozess. Strippel wird angeklagt, im KZ Buchenwald nicht nur zahllose schwere Körperverletzungen an Häftlingen begangen zu haben, sondern auch bei der Erschießung von 21 jüdischen Gefangenen dabei gewesen zu sein. Diese waren am 9. November als Racheakt für den Bombenanschlag auf Hitler im Münchner Bürgerbräukeller ermordet worden. Der Anschlag, von dem Schreinergesellen Georg Elser geplant und durchgeführt, war gescheitert. Zur Abschreckung und als Rache für die acht Hitler-Anhänger, die bei dem Attentat ums Leben kamen, wurden von den Nazis zahllose Rachemorde begangen. Auch in Buchenwald. Auf den Befehl »Marsch« – so die Anklage – seien die »Häftlinge strahlenförmig auseinandergelaufen«. Jeder SS-Mann habe dann den ihm zu- geteilten Häftling erschossen. Strippel bestreitet seine Beteiligung: er habe an diesen Erschießungen nicht mitgewirkt, weil ihn diese Angelegenheit »seelisch zu sehr mitgenommen« habe, sagt er vor Gericht. Ganz anders hat der ehemalige Häftling Walter Poller die Rolle Strippels an der Mordaktion in Erinnerung, wie er in seinem Erinnerungsbuch Arztschreiber in Buchenwald (1946) berichtet:

»Kurz nach 10 Uhr rief mich Hauptscharführer Strippel telephonisch an. Seine Stimme klang rauh und betrunken: ˃ Na, weißt du, wo die 21 Mistvögel sind?˂ Ich wusste nicht recht, was ich antworten sollte. Zwar bestand für mich über das Schicksal der Juden kein Zweifel, auch wusste ich, dass man dem Hauptscharführer gegenüber nicht jedes Wort auf die Goldwaage zu legen brauchte, aber der Ton seiner Stimme war derart grauenhaft, dass ich mich schnell entschloss, mich unwissend zu stellen. … Und dann diktierte mir Strippel telephonisch 21 Häftlingsnummern und 21 Namen. Ich ging an die Kartei und zog 21 Karten, schrieb 21 Totenmeldungen, und 21mal schrieb ich als Todesursache: –- Auf der Flucht erschossen.˂ Am nächsten Tag sah ich die Leichen in der Totenbaracke.«

Doch Strippel bestreitet jegliche Mitwirkung an der Erschießungsaktion. Es hilft ihm nichts. Am 1. Juni 1949 fällt das Gericht sein Urteil: Strippel wird »wegen gemeinschaftlichen Mordes in 21 Fällen« zu 21-mal lebenslänglich verurteilt. Obendrein erhält er noch zehn Jahre Haft wegen schwerer Körperverletzung »in einer unbestimmten Zahl von Fällen«.

Er kommt in die Haftanstalt Butzbach, 40 Kilometer nördlich von Frankfurt. Hier wird er Kalfaktor beim Anstaltsarzt und hat, nicht zuletzt wegen seines selbstbewussten, häufig auch barschen Auftretens, bald erheblichen Einfluss unter den Häftlingen und den Aufsehern. Im KZ, so sagt er gegenüber den Beamten, habe er nur seine Pflicht getan, sonst nichts. Nicht wenige stimmen ihm zu.

Die inhaftierten Nazi-Verbrecher, neben Strippel unter anderem auch der Frankfurter Gestapo-Chef Heinrich Baab, können sich über mangelndes Verständnis von Seiten der Beamten ohnehin nicht beklagen. Am 20. April feiert die Gruppe ganz ungestört Hitlers Geburtstag. Dabei hätte Strippel gerade an diesem Tag Anlass, sich an Vorfälle zu erinnern, die das Finale seiner grausamen SS-Karriere markierten: Es war der Tag, an dem die 20 jüdischen Kinder in den Kellerräumen am Bullenhuser Damm ermordet wurden. Strippel aber will sich an nichts mehr erinnern. Am wenigsten an seine Mitwirkung.

»Von einer Exekution, die im Keller der Schule am Bullenhuser Damm stattgefunden haben soll, erfahre ich heute zum ersten Mal. Ich habe für diese Exekution weder Befehle von irgendeiner Stelle erhalten, noch habe ich Befehle an mir Untergebene weitergegeben. Wo ich mich in der Nacht vom 20. zum 21. April 1945 befunden habe, kann ich heute nicht mehr sagen«, gibt er am 10. Mai 1965 zu Protokoll, als ihm ein Ermittler der Staatsanwaltschaft in Butzbach gegenübersitzt.

Die Erklärung von vier tatbeteiligten SS-Männern, auch er habe an der Erhängung der Kinder teilgenommen, stellt Strippel als Verschwörung hin. »Das kann ich mir nur so erklären, dass jeder der Angeschuldigten jedes erdenkliche Interesse hatte, die Schuld an der Tötung der Kinder auf mich abzuwälzen«, sagt er zu den Vorwürfen. Die Staatsanwaltschaft akzeptiert die Schutzbehauptung und stellt das Ermittlungsverfahren ein.

Kurz danach nimmt auch das Frankfurter Schwurgericht zu Strippels Gunsten wieder den Buchenwald-Prozess auf. Einer der Belastungszeugen war in einem anderen Verfahren als »allgemein unglaubwürdig« bezeichnet worden. Zwar war dieser Zeuge im Prozess gegen Strippel nur eine Randfigur, aber die Justiz gewährt Strippel nun Strafrabatt: Aus einer zehnjährigen Haftstrafe für die schweren Körperverletzungen »in einer unbestimmten Zahl von Fällen« werden fünf Jahre. Lebenslänglich bleibt bestehen. Die 21 toten Juden aus Buchenwald sind nicht wegzuplädieren. Doch Arnold Strippel gelingt ein weiterer Coup: Noch einmal wird die Wiederaufnahme des Verfahrens zugelassen, weil Strippel beim kollektiven Morden möglicherweise »nicht als fanatischer Nationalsozialist« gehandelt habe, wie das erste Urteil bislang unterstellte. Zunächst wird der Haftbefehl aufgehoben. Strippel verlässt am 21. April 1969 das Butzbacher Gefängnis. Als Mann mit brauner Vergangenheit muss er sich in Deutschland keine existenziellen Sorgen machen. Rasch findet er wieder eine Anstellung. Bei einer Frankfurter Firma führt er die Buchhaltung. Er arbeitet gewissenhaft, die Firma ist mit ihrem Buchhalter zufrieden.

Haftentschädigung für einen Mord-Gehilfen 

Dann folgt der Wiederaufnahmeprozess. Wie so viele andere NS-Verfahren zieht sich der Prozess in die Länge. Ehemalige Häftlinge – soweit sie das Lager überlebt haben – können sich häufig nur schwerlich an Details erinnern. Die Verteidiger wissen dies im Sinne ihres Mandanten zu nutzen. Nach fünf Monaten endlich verkündet das Gericht das Urteil der Wiederaufnahme: Es steht nach wie vor fest, dass Strippel am 9. November an der Erschießung von 21 jüdischen Häftlingen beteiligt war. Aber: Die Frankfurter Richter Seiboldt, Steffgen und Dr. Zander sehen in ihm nur einen »Gehilfen« – und dafür verurteilen sie ihn zu einer Gefängnisstrafe von sechs Jahren, verbüßt durch die Butzbacher Haft. Nun bekommt Strippel eine Haftentschädigung: 121.500 Mark. Viel Geld in dieser Zeit, siebenmal so viel wie seine KZ- Häftlinge als Wiedergutmachung für die gleiche Zeit erhalten hätten – falls sie Strippel entronnen wären.

In einer Fragestunde des Bundestages spricht der SPD-Abgeordnete Norbert Gansel für viele, wenn er fragt:

»Wie beurteilt die Bundesregierung, dass der ehemalige SS-Obersturmführer und KZ-Wächter Strippel … eine Haftentschädigung von 120 000 Mark erhält, während Opfer der NS-Gewaltherrschaft nur eine Entschädigung von 5 DM pro Tag der Freiheitsentziehung erhalten haben; und wird die Bundesregierung eine Änderung des Bundesentschädigungsgesetzes mit dem Ziel in die Wege leiten, dass Opfer der NS-Gewaltherrschaft nicht gegenüber ihren Peinigern auf diese makabre Weise diskriminiert werden?«

Dagegen verwahrt sich CDU-Staatssekretär Hermsdorf in der Fragestunde im Bundestag vom 9. Mai 1973:

»Die Entschädigung des KZ-Wächters Strippel bezog sich demgemäß nur auf materielle Schäden wie Verdienstausfall, Erstattung von Sozialversicherungsbeiträgen sowie Auslagen im Strafverfahren. … Angesichts des Ausmaßes der Schäden und der Zahl der Opfer konnte der durch den Verlust an Freiheit eingetretene Schaden weder voll ausgeglichen noch voll abgegolten werden.«

Arnold Strippel kümmern die parlamentarischen Erklärungen und öffentlichen Debatten wenig. Er ist jetzt ein wohlhabender Bürger. In Frankfurt-Kalbach kauft er sich eine komfortable Eigentumswohnung. Und der Ex-SS- Obersturmführer weiß seinen Besitz und seine Rechte zu wahren. Als hinter dem Haus Bäume gepflanzt werden sollen, erscheint er auf einer Sitzung des Ortsbeirates. Einer der Teilnehmer erinnert sich: »Ein großer, strammer Mann, lautstark und selbstbewusst. Er beschwerte sich darüber, dass die Bäume seinen Balkon beschatten würden.« Die Bäume werden schließlich weit weg von Strippels Wohnung gepflanzt. Doch auch in seiner bürgerlich-beschaulichen Eigentumswohnung kann er der Vergangenheit nicht entfliehen. Im November 1975 steht er mit dreizehn anderen KZ-Schergen wieder einmal vor Gericht. Diesmal im Düsseldorfer Majdanek-Prozess.

Majdanek – die Ortsbezeichnung für ein Konzentrationslager, das fünf Kilometer östlich der polnischen Stadt Lublin von der Waffen-SS angelegt worden war. Wie viele Menschen hier in Gaskammern den Tod fanden, wie viele erschossen oder totgeprügelt wurden – keiner weiß es. Historiker nennen die Zahl von 350.000 Toten. Mehr als 1.500 SS-Verbrecher und KZ-Wächter haben hier ihren mörderischen Dienst getan. Nur wenige von ihnen sind nach Ende des Krieges vor Gericht gestellt, geschweige denn verurteilt worden. Die Justiz zeigte trotz überreichen Belastungsmaterials, das aus Polen zur Verfügung gestellt wurde, nur geringes Interesse an der Verfolgung der Majdanek-Verbrecher.

Zwölf Jahre lang haben die Staatsanwälte ermittelt: zunächst gegen 47 Beschuldigte, schließlich nur noch gegen 14 Angeklagte. Es ist der Rest, der in dem allzu grobmaschigen Netz der bundesdeutschen Justiz hängen geblieben ist. Ein Hundertstel der Mörderbande in Uniform.

Als der Vorsitzende Richter Günter Boden im Saal L 111 des Düsseldorfer Landgerichts den Prozess eröffnet, ahnt er noch nicht, dass dieser Prozess zu einem der längsten in der Justizgeschichte der Bundesrepublik Deutschland werden wird. Erst im Mai 1981 sollten die Urteile verkündet werden. Und er kann an diesem Tag nicht wissen, dass dieser über fünfjährige Prozess, dieser jahrelange Streit über Täter und Taten, über Schuld und Strafe eher zum Symbol für die deutsche Rechtsprechung werden würde, als Wirklichkeit und Dimension der »Todesfabrik von Lublin« erkennbar zu machen.

»Ich habe nur Befehle ausgeführt«…

Am Eröffnungstag des Prozesses sitzt auch Arnold Strippel auf der Anklagebank. Der Vorwurf: In Majdanek soll er im Juli 1942 an der Tötung von 42 sowjetischen Kriegsgefangenen beteiligt gewesen sein. Selbstverständlich – der Angeklagte Strippel streitet alles ab. Wieder einmal. Mit düsterer Miene, zeitweise seine Augen mit einer dunklen Sonnenbrille geschützt, dann wieder den Eindruck verbreitend, dies alles langweile ihn, ginge ihn nichts an, sitzt er auf der Anklagebank. Am 337. Verhandlungstag, es ist der 6. Juni 1979, kommt es im Gerichtssaal zu einem Tumult – Strippel gerät ungewollt in den Mittelpunkt. Im Zuhörerraum verfolgen elf Franzosen, Mitglieder der Vereinigung »Söhne und Töchter deportierter Juden aus Frankreich«, den Prozess. Unter ihnen der Pariser Zahnarzt Henri Morgenstern. Sein Vater ist in Dachau ermordet worden, und seine Cousine Jacqueline ist am 20. April 1945 im Keller der Hamburger Volksschule am Bullenhuser Damm gehängt worden. Sie war gerade zwölf Jahre alt. Kommandoführer der Mordaktion war Arnold Strippel.

»Nazimörder, Nazimörder …!«, skandiert die Gruppe und sie zeigt auf Strippel. Saalordner greifen ein, die Richter verlassen den Saal, mit ihnen einige Angeklagte und deren Anwälte. Strippel bleibt demonstrativ sitzen. Henri Morgenstern stellt sich vor ihn. Mit ungeheurer Erregung beginnt er zu reden – in deutscher Sprache: »Wir sind hier, weil wir die Kinder der Opfer sind, die Sie hingerichtet haben. Dass wir heute noch leben, haben wir einem wahren Wunder zu verdanken. Es ist fast unglaublich, dass heute überhaupt noch jemand von uns diesen Protest erheben kann, weil nahezu alle Juden hingerichtet wurden … Seht Strippel an, diesen Mörder, der es nicht wagt, mir ins Gesicht zu sehen, ein Feigling, ein Kindermörder …! Er hat meine kleine Cousine Jacqueline Morgenstern aufgehängt … Sehen Sie diesen Mörder an, wie er seinen Kopf senkt …!«

»Eine Szene wie aus dem Alten Testament«, schreibt Günther Schwarberg später über diese Augenblicke in seinem Buch Der Juwelier von Majdanek, ein aufrüttelndes Zeitdokument, in dem er Leben und Tod des jüdischen Juweliers Samuel Antmann und dessen Familie im Konzentrationslager Majdanek schildert.

Nach dem Tumult findet der Prozess rasch zu seiner Normalität zurück. Eine unerträgliche Normalität. Während sich ehemalige Häftlinge mit innerer Erregung und häufig unter Tränen an die Grauen in Majdanek erinnern, sitzen die Angeklagten scheinbar unbeeindruckt auf ihren Bänken, unterhalten sich mit ihren Verteidigern, lesen Zeitung oder dösen vor sich hin – so, als ginge sie das, was hier geschieht, nichts an. Sind sie im Verfahren einmal aufgerufen, sich zu äußern, rechtfertigen sie sich monoton: »Ich habe nur Befehle ausgeführt …« oder »Daran kann ich mich nicht mehr erinnern …« Keiner will sich erinnern. Niemand fühlt sich schuldig. Alle wissen von nichts.

Strippel verhält sich nicht anders als seine Mit-Angeklagten. »Ich habe nur Befehle meiner Vorgesetzten ausgeführt«, sagt er, und sieht in diesem Prozess eine »grobe Ungerechtigkeit«, einen Schauprozess. Einige der Verteidiger scheinen die Meinung ihrer Mandanten zu teilen. Mit allen Mitteln versuchen sie, das Verfahren zu behindern. Immer wieder zweifeln sie die Glaubwürdigkeit der Zeugen an. »Gleich null« sei deren Beweiswert, darf Rechtsanwalt Stratmann ohne Rüge des Richters sagen.

Am 26. Juni 1981 halten die Verteidiger ihre Plädoyers. Alle fordern Freispruch für ihre Mandanten. Und auch der Angeklagte Strippel spricht sein Schlusswort: »Ich bin völlig unschuldig im Sinne der Anklage«, sagt er. Und: »Ich habe in meinem Leben immer für alles das, was ich getan habe, eingestanden.« Die Anklagevertretung hält Strippel in ihrem Schlussplädoyer für einen »Menschen, der für alles zu gebrauchen war«. Am 30. Juni 1981 verkündet Richter Bogen – das Urteil: Für Beihilfe zum Mord in 41 Fällen lautet sein Urteil auf drei Jahre und sechs Monate Haft.

Nach der Urteilsverkündung bricht im Gerichtssaal ein Proteststurm los. »Skandal«, »Pfui«, »Unglaublich« tönt es aus dem Zuschauerraum. Nachdem wieder Ruhe eingekehrt ist, begründet Richter Bogen elf lange Stunden die Urteilssprüche: Lebenslänglich und lange Haftstrafen für die Angeklagten. Und obwohl Arnold Strippel zu einer mehrjährigen Haftstrafe verurteilt wird, kann er noch am gleichen Abend als freier Mann nach Hause fahren. Der Haftbefehl ist außer Kraft gesetzt worden. Strippel kann sich sicher sein: seine Mordtaten in Majdanek braucht er nicht zu büßen. Er hat Anwälte, er hat Ärzte, er hat Atteste. So kehrt er in das gewohnte Leben als wohlversorgter Rentner in seine Eigentumswohnung nach Kalbach zurück.

Und auch im Fall der grausamen Mordaktion an den 20 jüdischen Kindern in Hamburg muss Strippel von Seiten der Justiz keinerlei Störungen seines beschaulichen Pensionärs-Daseins befürchten. Angehörige hatten zwar erneut Anzeige erstattet. Doch die Mühlen der deutschen Justiz mahlen langsam – wie so häufig, wenn es um NS-Täter geht. Bevor es zu einem neuen Prozess kommen soll, wollen die Richter wissen, ob Strippel überhaupt verhandlungsfähig ist. Die Antwort liefern drei Frankfurter Gutachter – allesamt renommierte Herren – auf Bestellung. Ihre Diagnose: Nicht verhandlungsfähig. Ein Professor Fischer, Neurologie, bescheinigt, dass es sich bei Strippel um einen »multimorbiden Patienten« handelt.

Jahre danach, wieder in Kalbach. In der Talstraße findet sich der Name Strippel nicht mehr am Klingelschild. Die Nachbarn erinnern sich nur noch vage an den alten Mann mit dem robusten Auftreten. »Strippel? Nein, den gibt’s hier nicht mehr – der ist vor paar Jahren gestorben«, lässt mich ein älterer Mann wissen.

Auf dem Friedhof hinter der kleinen Kirche ist sein Grab nicht zu finden.

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Anmerkungen und Hinweise:

Die KZ-Karriere des Arnold Strippel hat Günther Schwarberg, 20 Jahre Reporter beim Stern und Autor zahlreicher Bücher zur Geschichte des Dritten Reichs, recherchiert und an die Öffentlichkeit gebracht. Alle Angaben zum Lebenslauf Arnold Strippels sowie die Zeugen- und die Auszüge aus Gerichtsurteilen sind seinen Büchern Der SS-Arzt und die Kinder vom Bullenhuser Damm, 1988, und Der Juwelier von Majdanek Göttingen 1991, entnommen.

Der Bericht Walter Pollers findet sich in dessen Buch Arzt-Schreiber in Buchenwald, Hamburg 1946, S. 136. Die Antwort von Staatssekretär Hermsdorf aus der Fragestunde des Deutschen Bundestages kann man nachlesen in den Verhandlungen des Bundestages, 7. Wahlperiode, 29. Sitzung, Mittwoch den 63, Stenographische Berichte, Band 81, S. 1424. Die Eindrücke Günther Schwarbergs im Majdanek-Prozess, siehe seinen Kommentar »Der Kreuzworträtsellöser«, erschienen in Prinz, Nr. 10- 1990, S. 49.

Zu Mordaktion am Bullenhuser Damm vgl. Materialien und Dokumentationen der Hamburger Gedenkstätte Bullenhuser Damm: https://bullenhuser-damm.gedenkstaetten-hamburg.de/de/

Die zitierten Ausführungen über die Hinrichtungen im Bullenhuser Damm finden sich u.a: https://at.wikiqube.net/wiki/Bullenhuser_Damm

 

Auszug aus dem neuen Buch von Helmut  Ortner

VOLK IM WAHN – Hitlers Deutsche oder: Von der Gegenwart der Vergangenheit, Nomen Verlag, 296 Seiten, 22 Euro

Finanzen

Über Helmut Ortner 97 Artikel
Geboren 1950 in Gendorf/Oberbayern und aufgewachsen in Frankfurt am Main. Schriftsetzerlehre, anschließend Studium an der Hochschule für Gestaltung in Offenbach am Main, Schwerpunkt Grafik-Design. Es folgt Wehrdienstverweigerung – und Zivildienst. Danach journalistische Lehrjahre: Redakteur, Chefredakteur (u.a. Journal Frankfurt, Prinz). Ab 1998 selbständiger Printmedien-Entwickler mit Büro in Frankfurt. Konzepte und Relaunchs für mehr als 100 nationale und internationale Zeitschriften und Zeitungen, darunter Magazine wie Focus, chrismon, The European und Cicero, sowie Tages- und Wochenzeitungen, u.a. Das Parlament, Jüdische Allgemeine, Frankfurter Rundschau, Allgemeine Zeitung, Wiesbadener Kurier, Darmstädter Echo, De Lloyd Antwerpen, NT Rotterdam sowie Relaunchs in London, Wien, Sofia, Warschau und Dubai. Zahlreiche Auszeichnungen (u.a. European Newspaper Award, Hall of Fame, CP Award Gold). Daneben journalistische Beiträge zu politischen und gesellschaftlichen Themen, veröffentlicht in div. Tageszeitungen und Magazinen. Erste Buchveröffentlichung 1975, seither mehr als vierzig Veröffentlichungen. Übersetzungen in bislang 14 Sprachen (2018). Zahlreiche Preise und Einladungen: Stadtschreiberpreis der Stadt Kelsterbach, Lesereise Goethe-Institut Südamerika, Teilnahme an Buchmessen in Havanna, Istanbul und Buenos Aires sowie Lit.Col. Köln 2017. Zuletzt Lesereisen nach Lissabon, Turin, Tokyo. Helmut Ortner lebt und arbeitet in Frankfurt am Main und in Darmstadt. Er ist passionierter Radrennfahrer, Eintracht Frankfurt-Fan und Pat Metheny-Liebhaber.