Mit fünfzehn hat man zumeist noch keine Vorstellung von Augenblicken, die das eigene Leben mitunter in ein „Davor“ und ein „Danach“ einteilen können, „Ereignisse, auf die Menschen zurücksahen als Tor zu etwas Neuem, einem neuen Leben, neuen Lebensabschnitten, manchmal besser, aber oft auch schlechter.“, wie in Carl Nixons Debütroman zu lesen ist. Um eine derart nachhaltige Begebenheit dreht sich der Plot des neuseeländischen Autors, der im Genre der Shortstory bereits viele Preise gewann.
In einer Sommernacht 1980, fünf Tage vor Weihnachten, wird Lucy Ashers Leiche am Strand angespült, wo sie von einem der 15-jährigen Protagonisten des Romans – Pete Marshall -, gefunden wird. Das 17-jährige Mädchen fiel aller Wahrscheinlichkeit nach einem Sexualverbrechen zum Opfer. Dieses Ereignis stellt einen Wendepunkt im Leben der Jungen wie auch anderer Bewohner von „The Spit“ – einer bei Christchurch ins Meer ragenden Landzunge – dar. Von einem Tag auf den anderen hat das vermeintlich beschauliche Leben seine Unbeschwertheit verloren und öffnet ein „Tor zu einem kargeren Land“, einer Landschaft, „aus der es wie die Ereignisse der Zukunft zeigen sollten, keinen Rückweg gab.“ Fortan sammeln die Jungen in einem alten Lagerraum Erinnerungsstücke der Toten und vermeintliche Indizien, um den Mörder ihrer „ersten großen Liebe“ selbst zu finden. „Wer also hat Lucy Asher ermordet? Das war die Sechsmillionendollarfrage. Sie summte den ganzen Sommer über in unseren Ohren wie eine Schmeißfliege.“ Die ehrgeizige Suche der jungen Burschen endet letztendlich in einem eruptiven Gewaltausbruch, der von Carl Nixon kongenial mit den 1981 tatsächlich stattgefundenen Unruhen, die die Tour einer südafrikanischen Rugbymannschaft hervorruft, verknüpft wird. „Da war diese Gewalt in den Leuten, dieselbe Gewalt, die Lucy getötet hat.“
Rückblickend berichtet ein namenloser Erzähler in der Wir-Form von den drastischen Geschehnissen und der in Folge aus dem Gleichgewicht fallenden empfindsamen menschlichen Symbiosen der kleinen Arbeitersiedlung an der titelgebenden Rocking Horse Road, die als Dreh- und Angelpunkt der Handlung fungiert. „Unsere Welt hatte sich auch in weit subtileren Belangen verändert.“ Die Geister der Vergangenheit flüstern den meisten von ihnen noch heute ins Ohr und lassen sie nicht zur Ruhe kommen. „Wir hatten die Erfahrung gemacht, dass es überall um uns herum dunkle Orte gab, (…) an denen sich Vergangenheit und Gegenwart unangenehm berühren (…), die man besser in Ruhe ließ.“
Einfache Sätze und relativ lakonische Schilderungen geben trotz ihrer vermeintlich emotionalen Distanz großartig die Gefühlslage der recherchierenden Adoleszenten wider, denen aus mangelhafter Eigenerfahrung selbst die Worte fehlen. Analog dem sie ständig begleitenden Rauschen der Meeresbrandung fungiert die Erzählung wie ein Soundtrack, der ihr kompliziertes Erwachsenwerden begleitet. Nixon gelingt es großartig, einen Spannungsbogen aufzubauen und ihn stetig aufrecht zu halten. Die Handlung treibt den Leser nahezu atemlos durch den Text. Entstanden ist ein feinfühliges, atmosphärisch dicht gewebtes Porträt einer Gegend und ihrer Bewohner auf der anderen Seite der Erdkugel.
Stefan Weidle hat den Text des neuseeländischen Autors sensibel und ohne Bruchstellen ins Deutsche übertragen. Ihm ist es gleichfalls zu verdanken, neben dem eindrucksvollen Text, auch ein verlegerisches Kleinod in den Händen zu halten. Wunderbare Fotos der Landzunge, auf der die Rocking Horse Road verläuft, eröffnen das Buch mit einer Bildstrecke in Farbe. Dem Ort der Handlung wird damit ein unvergleichlicher Tribut gezollt und ermöglicht dem Leser, sich neben dem virtuellen auch ein visuelles Bild der Romanhandlung zu machen. Auf der letzten Seite findet sich noch eine Luftaufnahme von „The Spit“. Überdies weisen selbst Typografie und Einband einen engen Bezug zur Romanhandlung auf. So ist zum einen die Titelschrift dieselbe wie auf den Straßenschildern des Schutzumschlags. Zum anderen stammt die Textschrift aus Neuseeland und wurde von Kris Sowersby, einem Schriftgestalter aus Wellington, während der Zeit, als Carl Nixon seinen Roman schrieb, entworfen. Sie fällt vor allem wegen der wunderhübschen 7 „aus dem Rahmen“. Unter der Schutzhülle verbirgt sich wiederum eine Fotografie der gewaltsamen Proteste gegen die südafrikanische Rugbymannschaft bei ihrer Tournee durch Neuseeland.
Fazit: „Wir waren ein Gruppe von Männern, die sich an ihrer gemeinsamen Vergangenheit festhielten. (…) Vielleicht kommt wirklich einmal die Zeit, einen Schlussstrich zu ziehen. Vielleicht sollten wir das auch tun und aufhören, nach etwas zu graben, von dem wir nicht mal wissen, was es ist, geschweige denn, wo. (…) Vielleicht sollten wir wirklich 'endlich' erwachsen werden. (…) Die ausgesprochene Wahrheit ist, dass wir alle noch immer nach etwas suchen. Nicht nur nach Lucys Mörder, sondern nach dem Augenblick in unserem Leben, da wir die unerschütterliche Überzeugung hatten, dass wir einem höheren Zweck dienten, einem übergeordnetem Wohl. Wenn man diese Überzeugung einmal hatte, fällt es schwer, loszulassen. Es ist beinahe unmöglich, eine langfristige Befriedigung in den Alltäglichkeiten des normalen Lebens zu finden.“
Großen Dank an den Weidle Verlag für dieses kleine Juwel sowie die ungewöhnlichen Hintergrundinformationen, durch die die Rezensentin einen achtungsvollen Blick auf die bis dato nicht ansatzweise geahnte Arbeit von Schriftgestaltern werfen konnte.
Carl Nixon
Rocking Horse Road
Titel der Originalausgabe: Rocking Horse Road
Aus dem Englischen von Stefan Weidle
Weidle Verlag, Bonn (Juli 2012)
240 Seiten, Gebunden
ISBN-10: 3938803509
ISBN-13: 978-3938803509
Preis: 19,90 EURO
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