Im Vorfeld der
Europawahl am 26. Mai wird von vielen Bürgern immer wieder verlangt, dass
Europa endlich »handlungsfähiger« werden müsse, um auf Krisen schneller und
entschlossener zu reagieren. Insbesondere müsse doch die »leidige« Steuerfrage,
wonach amerikanische Großkonzerne wie Google, Starbucks, Amazon u.a. in Europa
praktisch keine Steuern zahlen, schnell gelöst werden. Eine solche
Ungerechtigkeit »schreie doch geradezu zum Himmel« und sei ein typisches
Beispiel für die Unfähigkeit Europas, wichtige Fragen zu
lösen.
Als europäischer Politiker möchte man da laut schreien und sagen »Ja, Frau oder
Herr Bürger, Sie haben ja so recht, aber wissen Sie, dass gerade in
Steuerfragen laut EU-Vertrag immer noch ein striktes Einstimmigkeitserfordernis
gilt?« Und: wenn aus diesem Grunde die Steuern nicht europäisch sondern immer
noch national geregelt werden, entsteht nicht nur ein »gesunder«
Steuerwettbewerb unter den Staaten. Wenn es um derartig hohe Einnahmen
geht, dann unterbieten sich einzelne Staaten in geradezu ruinöser Form nur um
so einen Superkonzern mit niedrigsten Steuersätzen ins eigene Land zu locken.
Die Abschaffung des
Einstimmigkeitserfordernisses wäre für diesen Fallsicher eine Lösung, aber sind
wir wirklich schon bereit, die so sensiblen Steuerfragen nicht mehr national,
sondern europäisch entscheiden zu lassen? Immerhin gehören Steuerfragen zum
Kernbestand der
nationalen Souveränität. Eine Europäisierung dieses Bereiches würde also eine
erhebliche Reduzierung nationalstaatlicher Souveränität bedeuten.
Eine ähnliche Problematik stellt sich bei der Forderung nach mehr europäischer
Handlungsfähigkeit im Sicherheitsbereich: Wo bleibt der Bundestagsvorbehalt,
wenn sicherheitspolitische und evtl. auch militärische Einsätze der
Handlungsfähigkeit wegen europäisch statt national entschieden werden? Viele
der derzeit so aggressiv auftretenden Rechtsaußenparteien nutzen ebenfalls
diese Sorge vor der Abgabe nationaler Souveränität,
um Stimmung gegen Europa zu verbreiten, während sie gleichzeitig die
Unfähigkeit Europas bemängeln, schnell und zügig wichtige Entscheidungen zu
treffen. Auch beim Brexit hat diese Thematik eine entscheidende Rolle gespielt:
Die Brexiteers wollten wieder die »volle Kontrolle«, also die Souveränität über
ihr Land zurückbekommen.
Dass der Wunsch »Wasch mich aber mach mich nicht nass« nicht funktioniert, ist
eine uralte Weisheit, die auch für die europäische Realität gilt: Wer mehr
europäische Handlungsfähigkeit fordert muss auch bereit sein, dafür ein Stück
eigener Souveränität zu »opfern«. Dafür wäre eine bessere gemeinsame
europäische Öffentlichkeit sicher hilfreich und umgekehrt schaden
Internet-Plattformen wie Cambridge Analytica immens, wenn sie Hass, Fakenews
und Misstrauen verbreiten.
Fazit: Je mehr Handlungsfähigkeit wir von Europa verlangen, desto mehr müssen
wir Deutsche (wir Franzosen, wir Polen, wir Italiener) bereit sein, gewisse
Souveränitäts-
bereiche gemeinsam statt allein auszuüben.