Mehr Europa statt Nationalismus: Wie Emmanuel Macron Frankreich vor dem Front National bewahren will

Foto: Marius Mestermann

Emmanuel Macron verteidigt Angela Merkels Flüchtlingspolitik und zeigt sich angewidert von Populisten, die Terroranschläge für ihre Abschottungspläne instrumentalisieren. Stattdessen wählt der französische Präsidentschaftskandidat einen mutigen Weg zur Stärkung Europas – mit wachsendem Erfolg.

 

In den Gemeinschaftsnarrativen der Europäischen Union spielt die deutsch-französische Beziehung meist die zentrale Rolle. Bilderbuchartig versöhnten sich die Erbfeinde nach Jahrhunderten grausamer Kriege, um geschlossen am Friedens- und Wachstumsprojekt Europa zu arbeiten – mit Erfolg. Daran wird dieser Tage besonders gerne erinnert, weil die Europäische Union zunehmend im Kreuzfeuer von Populisten und Nationalisten steht.

Dieser sturmwerdende Gegenwind beruht vor allem auf dem Unmut jener Menschen, die sich abgehängt und vergessen fühlen und den verlockend einfachen Lösungen von AfD, UKIP und Co. anheimfallen. Die Unzufriedenheit richtet sich auch gegen eine als elitär wahrgenommene politische Kaste, die „von oben herab“ regiert und sich um die Interessen des berüchtigten „kleinen Mannes“ nicht schert. Die Wahlkämpfe des Jahres 2017 schicken sich an, regelrechte Schlammschlachten um die Themen Sicherheit, Wirtschaft und Migration zu werden.

Macron, das elitäre Überraschungsei

Davon kann Emmanuel Macron ein Lied singen. Der 39-Jährige, dem unter Frankreichs Präsident François Hollande der Einstieg in die Politik gelang, führt jetzt selbst Wahlkampf für den Chefsessel im Élysée-Palast. In einem traditionell von Parteikadern dominierten politischen System ist Macron der Außenseiter. Dabei kann auch er seine Zugehörigkeit zur Elite nicht verbergen: Der Ausbildung an den Pariser Kaderschmieden Sciences Po und ENA folgte ein rasanter beruflicher Aufstieg vom Finanzdirektor in der französischen Verwaltung zum Investmentbanker bei Rothschild & Cie, bis hin zum Berater von Hollande. Der Sozialist machte den sozialliberalen Macron letztendlich zum Wirtschaftsminister.

Heute hat Macron fast alle Brücken zu seiner bisherigen politischen Karriere eingerissen. Mitte 2016 gab er seinen Rücktritt als Minister bekannt und handelte sich vom Chef der Sozialisten, Jean-Christophe Camabdelis, das tadelnde Fazit „Überraschungsei aus persönlichen Motiven“ ein. Doch da hatte Emmanuel Macron bereits seine eigene politische Bewegung gegründet. „En marche!“ hat mittlerweile rund 136.000 Mitglieder und trägt einen Namen, der Veränderungen „in Gang“ setzen soll – vorwärts! Aufbruchsstimmung verbreitet Macron im Land der Französischen Revolution zudem mit seinem Buch: „Revolution. Es ist unser Kampf für Frankreich“. Seine Reden begeistern, er ist jung und beliebt. Er kann laut werden bis seine Stimme bricht, und manchmal stampft er mit dem Fuß auf, wenn er etwas betonen will.

Fillon, Le Pen, Valls? Macron stehen große Namen im Weg

Mangelnde dramaturgische Fähigkeiten kann man ihm also nicht vorwerfen. Doch er braucht mehr als das, um eine realistische Chance auf das Amt des Präsidenten zu haben. Im zweistufigen Wahlsystem Frankreichs ist für ihn der erste Schritt die größte Hürde. Denn seine stärksten Konkurrenten heißen derzeit François Fillon und Marine Le Pen. Der eine entschied die Vorwahlen der Konservativen überraschend klar für sich, die andere ist seit Jahren unumstrittene Führungskraft des rechtsextremen Front National (FN). Beide liegen in einer aktuellen Umfrage des Elabe-Instituts für die Zeitung „Les Echos“ vor Macron.

Während Fillon im ersten Wahlgang bis zu 28 Prozent erreichen könnte, wählten 22 bis 24 Prozent der Befragten Le Pen. Bei Macron ist die Unsicherheit am größten, ihm werden zwischen 16 und 24 Prozent zugetraut. Alle weiteren Überlegungen sind Spekulationen: Erreicht Macron im April etwa die Stichwahl und tritt direkt gegen Marine Le Pen an, könnte sich wiederholen, was 2002 Jacques Chirac gegen Le Pens Vater zu einem klaren Wahlsieg verhalf: Eine Front-National-Verhinderungswahl. Doch bis dahin ist der Weg weit.

Besuch in Berlin: Anteilnahme und proeuropäische Offensive

In Frankreich gibt es derzeit wohl kaum jemanden, der glaubt, dass es ohne größere Reformen weitergeht. Während der FN rückwärtsgewandte Umwälzungen in Aussicht stellt und die EU bei jeder Gelegenheit kritisiert, wagt Emmanuel Macron jedoch die Europa-Offensive. Bei einem zweitägigen Besuch in Berlin sucht er nicht nur den Kontakt zu Bundeswirtschaftsminister Sigmar Gabriel und zum Präsidenten des Europäischen Parlaments Martin Schulz. Am Dienstag sprach er zunächst vor der französischen Gemeinde in Berlin und legte Blumen am Breitscheidplatz nieder, wo im Dezember bei einem Terroranschlag elf Menschen starben und dutzende weitere verletzt wurden. Am Abend nutzte er dann die Bühne im Audimax der Humboldt-Universität für einen proeuropäischen Diskurs.

Dabei durfte die emotionale Erinnerung an die historischen Errungenschaften der Europäischen Union natürlich nicht fehlen. Zugleich baute er darauf seine Kritik am Europa der Gegenwart auf. Die größten Krisenherde sieht der Präsidentschaftskandidat in den Bereichen Sicherheit, Migration und Wirtschaft. Diese Schieflage verleitet Macron aber nicht zu Abschottungsgedanken, sondern motiviert ihn dazu, für die Weiterentwicklung und Stärkung der EU zu kämpfen. Zwar kann auch Macron nicht alle hohlen Phrasen über Solidarität und gemeinsame Werte vermeiden. Doch seine Ideen zur europäischen Erneuerung haben im Vergleich zur Zurückhaltung vieler anderer Spitzenpolitiker eine erfrischende Bestimmtheit.

Europa zuerst, dann läuft es auch zu Hause

Macron beschwört die deutsch-französische Freundschaft, weil beide Länder die gleichen Sorgen teilen: Terror, Klimawandel, Verschiebungen im globalen Handel. Er will, dass die EU nicht nur im Inneren stärker zusammenhält, sondern auch nach außen ihre gemeinsamen Interessen und Werte stärker vertritt. Helfen soll da sein Credo von „mehr Souveränität“, womit er allerdings nicht die Lesart der Nationalisten meint. Macron will die EU in Sicherheitsfragen stärken, indem er ihr eine echte gemeinsame Polizei verschafft. Das Dublin-Abkommen hält er für einen der Hauptgründe für die Eskalation der Flüchtlings- und Migrationskrise und fordert Reformen hin zu einer gemeinsamen europäischen Asylpolitik. Den Deal mit der Türkei bezeichnet er zugleich als „Wischiwaschi“.

Bei alledem sei es die Pflicht der Europäer, Flüchtlinge zu schützen – unter anderem, indem man sie durch Entwicklungshilfe und Investitionen von der gefährlichen Überquerung des Mittelmeers abhalte, so Macron. Deutschland sei zwar wirtschaftlich stark, verhalte sich im Angesicht globaler Bedrohungen jedoch naiv. Daher sei es unabdingbar, dass Europa seine Augen öffne und gemeinsam Verantwortung übernehme. Dazu gehöre nicht nur eine stärkere Zusammenarbeit in der Fiskalpolitik in Form eines gemeinsamen Budgets der Eurozone, um die angeschlagene Währung zu retten.

Visionen von gemeinsamer Verteidigung und einer Digitalunion

Auch eine wirtschaftliche Offensive mit mehr Investitionen insbesondere von deutscher Seite sei notwendig. In Handelsfragen solle man sich nicht den Entscheidungen aus Washington oder Peking unterwerfen, sondern als geeintes Europa auftreten, so der ehemalige Investmentbanker. Das gleiche gelte für die Einhaltung des Klimaschutzabkommens von Paris und den Umgang mit der Digitalisierung.

Macron schlägt die Schaffung neuer europäischer Institutionen vor, etwa um eine „Digitalunion“ zu schaffen, die die Privatsphäre der Europäer schützt. Frankreich allein könne zum Beispiel keinen Konkurrenten zu Google hervorbringen, Europa als Ganzes schon. Die gemeinsame Außen- und Sicherheitspolitik der EU will Macron mittels eigener Headquarters und eines „Verteidigungsfonds“ weiterentwickeln, um militärische Forschung und den Ausbau von Verteidigungskapazitäten voranzutreiben.

Dabei solle man weder die NATO vor den Kopf stoßen – deren Verlässlichkeit als Verteidigungsgemeinschaft nicht erst seit der Wahl Donald Trumps zum US-Präsidenten in Zweifel gezogen wird – noch den Dialog mit Russland abbrechen. „Aber wir müssen als Europäer sprechen, um glaubwürdig und effizient zu sein“, resümiert Macron. „Wir müssen Wege finden, um schneller voranzukommen – zur Not auch in kleineren Gruppen.“ Damit unterstreicht er sein Vorhaben, die deutsch-französischen Beziehungen wieder ins Zentrum der EU zu rücken.

Mehr Partizipation für eine effizientere EU

Auch gegen die Unzufriedenheit mit dem politischen System der EU will Emmanuel Macron entschlossen vorgehen. Dazu schlägt er „demokratische Versammlungen“ in allen Ländern der EU vor, um gemeinsam mit den Bürgern eine zehn- bis fünfzehnseitige „Roadmap“ für Europa zu entwerfen. Strategiepapiere mit mehreren Hundert Seiten seien nutzlos, man brauche klare und bestimmte Reformvorschläge. „Wir müssen jetzt damit beginnen, unsere Politiken zu erneuern, die Menschen wieder zu vereinen und eine neue Ära für Europa zu starten. Heute stehen die Errungenschaften Europas auf dem Spiel.“

Interessant ist Macrons Wahlkampf auch im Hinblick auf die Bundestagswahl im September. Wenngleich der Franzose Merkel lobte und mehr Zusammenarbeit der beiden Länder forderte, gehen seine Vorstellungen und die der Unionspolitiker doch oft auseinander. Ein Proeuropäer wie Martin Schulz könnte vor diesem Hintergrund deutlich glaubhafter versichern, dass die Zusammenarbeit mit Frankreich für ein

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