Mehr als 20 Milliarden Euro haben Anleger 2020 durch die Insolvenz des ehemaligen DAX-Konzerns Wirecard verloren. Betroffene aus den neuen Bundesländern berichten, wie es ihnen ergangen ist.
Ja, sie wollen reden, sagen sie. Aber nur anonym und mit selbst gewähltem Pseudonym. Denn die Scham sitzt tief. Über ihre Leichtgläubigkeit, und dass sie der deutschen Finanzaufsicht BaFin in Bonn auf den Leim gingen. Die drei haben viel Geld verloren und engagieren sich in katholischen Pfarreien, quer durch die neuen Bundesländer. Alle wurden sie Opfer dreister Finanzspekulanten des früheren DAX-Konzerns Wirecard aus Aschheim bei München, von denen einige in Haft sitzen, darunter der ehemalige Vorstandsvorsitzende Markus Braun (52), der von früheren Kollegen schwer belastet wird.
Konfetti und Druckerpatronen
Das Drama um den Wirecardkonzern begann im Sommer 2020. Da riss es die Anleger aus dem Schlaf. Am Ende waren ihre Ersparnisse weg. Tausende, Zehntausende Euro, aufgelöst in Schall und Rauch. Ein britischer Großinvestor verlor knapp 68 Millionen Euro, so dessen Berliner Kanzlei, die ihn in dieser Sache vertritt. Neben der staatlichen Finanzaufsicht sollen vor allem die Wirtschaftsprüfer versagt haben. Ob sie bestochen wurden, konnte bislang nicht bewiesen werden. Die Wirecardaktie, einst dreistellig auf dem Frankfurter Börsenparkett gehandelt, ist heute nur noch wenige Cent wert, flog den Investoren wie Konfetti um die Ohren, als die Party vorbei war. Akribisch bemüht sich der Insolvenzverwalter, alles Verbliebene zu Geld zu machen, um die Gläubiger zu bedienen. Viel ist nicht zu holen. Denn wer will schon für gebrauchte Computer, Druckerpatronen und abgenutztes Büromobiliar zahlen … Das alles hat die Investorenlaune auf den Nullpunkt getrieben. Und doch gibt es auch heute noch Stimmen, die im drahtlosen Zahlungsverkehr, dem angeblichen Geschäftsmodell bei Wirecard, eine große Zukunft sehen und weiter spekulieren.
Verlorene Träume
Eine, die ihr ganzes Vermögen in diese gesteckt hatte, ist Greta M. aus Mecklenburg-Vorpommern; etwas, vor dem seriöse Bankberater immer warnen: Bloß nicht all sein Geld in eine einzige Anlage stecken, stattdessen breit streuen, um Verluste abzufangen. Greta M. stammt aus einem kleinen Dorf nahe Stralsund und hat früher an einer Grundschule Heimatkunde unterrichtet. Bis ihr kurz vor der Rente 2014 ein Bekannter ein „Geheimtipp“ gab und sie rund 35.000 Euro anlegte. Da könne sie „nichts falsch machen“ hatte ihr der Bekannte selbstsicher erklärt und auf die hohen Wachstumsraten bei Wirecard verwiesen. Immerhin: Greta M.‘s Einlage hatte sich zwischenzeitlich mal mehr als verdoppelt, und M. wähnte sich sicher, „alles richtig gemacht“ zu haben. Als in der DDR Großgewordene war sie eigentlich immer etwas skeptisch gegenüber Heilsversprechen aus dem Westen, sagt sie. Doch das starke Wachstum der Aktie seit Beginn der Jahrtausendwende habe sie dann doch überzeugt – und geblendet, wie sie heute einräumt. Mit dem Geld wollte Greta M. den Sportbootführerschein Binnen machen und sich ein gebrauchtes Boot kaufen, ein Kindheitstraum der 67-Jährigen, die nahe der Mecklenburgischen Seenplatte wohnt und nach dem Sonntagsgottesdienst ihrer Kirchengemeinde gern Waffeln backt, Kaffee kocht und sich um die Kinder kümmert. Greta M., die kinderlos blieb, ist im Herzen ein Familienmensch, sagt sie, eine, die viel in der Natur ist, eine Katze hat und sich gerne unterhält. Ein paar Mal versagt Greta M. beim Telefonieren die Stimme, da „alles wieder hochkomme“, sagt sie und berichtet noch, dass sie nun von knapp 1.300 Euro Rente lebe und damit „besser, als viele andere“ in ihrem Alter, bevor das Gespräch abrupt endet.
Ortswechsel
Rund 400 Kilometer südlich, im Erzgebirge, nahe der Grenze zu Tschechien. In Annaberg-Buchholz lebt Carlo P., Mitte Zwanzig und Sozialpädagogikstudent im Masterstudium. Von seiner Oma hatte er rund 20.000 Euro geerbt, „fürs Studium“ und eine eigene Zweiraumwohnung mit Küche und Bad im nahen Chemnitz, wo die Wohnraumpreise noch relativ moderat sind. Carlo, wie viele seines Alters, mit dem Internet aufgewachsen, ließ sich blenden von Studienkollegen, die BWL studierten, von positiven Presseberichten über Wirecard und verlor am Ende rund zehntausend Euro. „Schade eigentlich“, sagt der junge Mann mit trockenem Humor. Kürzlich hat er seinen Bachelor gemacht und wird bald zum ersten Mal Vater. Das Geld hätte die kleine Familie, die regelmäßig den Gottesdienst der Gemeinschaft des Neokatechumenalen Weges in Chemnitz besucht, gut gebrauchen können. Neben seinem Masterstudium kümmert sich Carlo bei einem privaten Träger auf Stundenbasis um randständige Jugendliche. Auch, um seiner Frau zu zeigen, dass er sich von Typen wie Ex-Vorstandschef Markus Braun „nicht unterkriegen“ lasse, sagt er trotzig.
Mit dieser Haltung ist er nicht alleine. Im thüringischen Weimar übt Floriane K. auf ihrer Oboe. Die 23-Jährige studiert an der örtlichen Musikhochschule im vierten Semester und engagiert sich in der Katholischen Studentengemeinde in Jena. Durch den Wirecard-Skandal hat sie rund viertausend Euro verloren, sagt sie. Zusammengekommen ist die Summe durch Geldgeschenke zum Geburtstag, zu Weihnachten und jahrelanges Jobben in einer Bäckerei. Und wieder war es ein damaliger Freund, Azubi bei einer Bank, der ihr mantramäßig von der Wirecardaktie vorgeschwärmt hatte, erzählt sie. Dass man damit ein „Bombengeschäft“ mache und sie ohne Risiko „einsteigen könne“. Doch die Bombe platzte. Und am Ende verlor Floriane neben den zwischenzeitlichen Gewinnen alles, was sie sich für ihre Ausbildung zurückgelegt hatte. „Das tut weh“, sagt sie, und auch, dass Herr Braun in seiner Augsburger Gefängniszelle „vielleicht mal darüber nachdenken solle, wie viele er um Hab und Gut gebracht“ habe. „Dieser Herr Braun hat wahrscheinlich keine Ahnung, was er anderen angetan hat“, sagt Floriane, mit ohnmächtig unterdrückter Wut.
Bezüge zur DDR
Das Kuriose: Zeitweilig war Wirecard mehr wert als die Deutsche Bank und spielte gar mit dem Gedanken an eine Übernahme, infolgedessen der Betrug wohl nie aufgeflogen wäre, da die Bilanzen der beiden Häuser dann miteinander verschmolzen wären, so die Politologin Melanie Bergermann (42). Markus Brauns früherer Vorstandskollege und mutmaßlicher Komplize Jan Marsalek (41) ist auf der Flucht, irgendwo in Russland, so vermuten Ermittler. Marsalek hatte einst das Gymnasium abgebrochen, autodidaktisch Programmieren gelernt und war nach Deutschland gegangen, um in der „New Economy“ reich zu werden. 2018 soll Marsalek bei Wircard zwischen zwei und drei Millionen Euro brutto im Jahr verdient und Kontakte zu Nachrichtendiensten gepflegt haben. Seine Münchener Villa kostete knapp 50.000 Euro Miete im Monat, schreibt die Wikipedia. Scheingeschäfte in Asien und manipulierte Bilanzen dürften den Crash des Unternehmens begünstigt haben, glaubt Felix Holtermann (34), Wirtschaftsjournalist und Buchautor. Und dass Marsalek Wirecard in der Tat wie eine KGB-Operation in den 1950er Jahren geführt habe, so Holtermann. Was den Fall brisant macht: Schon Jahre zuvor hatte Wirecard Kritiker mit Anwälten, Anzeigen und Prügelattacken angeheuerter Halbweltgestalten mundtot gemacht, jede Infragestellung des Unternehmens im Keim erstickt, wie einst die SED ihre DDR mithilfe der Stasi bis zum Äußersten verteidigt hat. Der Vergleich zwischen Wirecard und DDR liegt dabei gar nicht so fern: Denn in beiden Fällen basierte das Geschäftsmodell auf einer Lüge. Und in beiden Fällen umgab das Konstrukt eine Mauer, hinter der sich die Macher für ihre Machenschaften zurückgezogen hatten, bevor alles zusammenbrach und die Wahrheit ans Licht kam.
Aktuelle Literaturempfehlung:
Felix Holtermann: Geniale Betrüger. Wie Wirecard Politik und Finanzsystem bloßstellt, Westend-Verlag, Frankfurt am Main 2021, 320 Seiten, Klappenbroschur, 22,00 €, ISBN 978-3-86489-119-9