Matthias Bath (Hg.): Mauerfall. 25 und eine Erinnerung an die Nacht des 9. November 1989, Berlin (Neuhaus Verlag), 2019, 173 Seiten (Herbert Ammon)
Die Bundesregierung bereitet das Volk mit einer Video- und Plakatserie auf das Jubiläum des Einheitsjahres 1989/1990 vor in einer ›Informationsreihe‹ unter dem Titel: Das ist sooo deutsch. Richtig, das Ganze verziert mit schwarz-rot-goldenem Herzen in Großformat (und mit Herzchen rechts oben auf den Plakaten) soll witzig wirken. Die staatlichen Öffentlichkeitsarbeiter präsentieren sämtliche Klischees deutscher Fremd- und Selbstwahrnehmung: deutscher Dackel mit Winterleibchen, fröhlich tanzende Funkenmariechen, nackter Hintern (weiblich) am FKK-Strand, Gartenzwerge im Kastenfenster, dazwischen auch zwei Bilder zum Mauerfall: DDR-Grenzer auf der Mauer, lächelnde Menschen darunter, eine Trabi-Kolonne auf dem Weg nach Westen, dann wieder ein seinen Trabi wienernder Ossi (Kennzeichen PCH ), eine Batterie von Verbotsschildern im deutschen Wald, danach in holzhämmerndem Kontrast eine zu Höckeschem Tiefsinn einladende Waldlichtung. Kurz: nichts als krampfiger Kitsch – sooo deutsch – statt historisch aussagekräftiger Szenen des Geschichtsdramas vor dreißig Jahren.
Wer ›in diesem Land‹ deutsche Geschichte – und deutsche Biographien vor und nach dem 9. November 1989 – verstehen will, wird sich anderswo orientieren (siehe z.B. hier ). Faktenreiche Information bietet ein soeben in einem Kleinverlag erschienenes schmales Buch, herausgegeben von Matthias Bath. Das Buch ist Produkt seiner Vita: Matthias Bath, geboren 1956 in West-Berlin, betätigte sich ab 1975 als Fluchthelfer, wurde 1976 verhaftet, zu fünf Jahren Gefängnis verurteilt und kam 1979 über einen Gefangenenaustausch frei. Danach studierte er Jura und Geschichte an der FU Berlin. Von 1988 bis 2017 fungierte er als Staatsanwalt in Berlin. Anno 1989 war er zudem als wissenschaftlicher Mitarbeiter der rechts der CDU angesiedelten Republikaner im Berliner Abgeordnetenhaus tätig.
Angesichts der Biographie des Herausgebers sowie einiger Autoren – namentlich der nach langjährigem Bemühen fleißiger ›Linker‹ in die rechte Ecke verbannte Siegmar Faust – werden all jene, welche die Diktaturgeschichte der DDR am liebsten vergessen machen wollen, das Buch nicht erst zur Kenntnis nehmen. Der Herausgeber selbst will angesichts der Stimmungslage (»Das interessiert doch kaum noch jemanden«) nicht ausschließen, »dass unsere Anthologie ein Juwel im Verborgenen bleiben wird« (S.54). Nichtsdestoweniger werden die von 25 Zeitzeugen verfassten Texte auch einige jüngere Lesern finden, die wissen wollen, wie es im geteilten Deutschland vor, während und nach dem Tag des Mauerfalls eigentlich war.
Längst vergessen? Noch im Februar 1989 wurde der 20jährige Chris Gueffroy bei seinem Fluchtversuch über die Berliner Mauer erschossen. Im Westen hatte man – teils aus realpolitischen Erwägungen, teils aus ideologischer Blindheit, aus Desinteresse, nicht zuletzt aus moralisch überhöhter Selbstverleugnung – den Gedanken an ›Wiedervereinigung‹ verbannt. In der DDR hingegen machten sich Jugendliche, die dem FDJ-Blauhemd nichts mehr abgewinnen wollten, ihren eigenen Reim auf die Wirklichkeit: / Tausend Meilen im Quadrat, nur / Minenfelder, Stacheldraht, dann / weißt du, wo ich wohne: ich wohne / in der Zone… Der Rest des Songs, mit dem am 10. November Jugendliche ›von drüben‹ Studenten aus Freiburg an der offenen Mauer begrüßten, zielte auf die Bonzen, die man einknasten werde und ein neues Deutschland, das man ohne Russen und Amis aufbauen wolle. (S. 165)
Derlei Volksdichtung wäre nicht erst anno 2019 in einem bundesdeutschen Geschichtslesebuch undenkbar. Siegmar Faust, seinerzeit Redakteur bei der als ›rechts‹ verpönten Internationalen Gesellschaft für Menschenrechte (IGFM), bekam nach einem Kongress, der am 21./22.Oktober 1989 unter dem Motto Deutschland einig Vaterland? plakatiert war, Besuch von zwei Herren des hessischen Verfassungsschutzes. Mit so etwas könne man die Entspannungspolitik mit der DDR gefährden. Drei Wochen später brachte Faust in Berlin einen aus Leipzig gekommenen Vertreter des Neuen Forum auf die Idee, bei der Montagsdemonstration am 13. November ein Transparent aufzuspannen: Deutschland einig Vaterland. Die Szene kam tatsächlich abends zweimal im Fernsehen, in der ARD mit dem Kommentar des Nachrichtensprechers: »Damit wurde das Ende der friedlichen Demonstrationen eingeläutet.« (S.100)
Matthias Bath, Autor von Büchern zum dänischen Widerstand, zum NS-Regime sowie zur Geschichte Berlins, hat seiner Textsammlung einen präzisen Abriss der Geschichte des deutschen – und europäischen – Mirakels vorangestellt. Auf fünfzig Seiten rekapituliert er die Entwicklung von der seit Anfang der 1980er erkennbaren Krise der DDR über die Reformbestrebungen Gorbatschows in der Sowjetunion, den Starrsinn der SED-Führung, die Rolle der oppositionellen Gruppen, die Reformen in Polen und Ungarn samt ungarischer Grenzöffnung, die zur Lawine anwachsende Fluchtbewegung aus der DDR, die sich steigernde Dramatik im Oktober bis zum Mauerfall. Damals wie heute kaum bekannt: Vor der großen Montagsdemonstration in Leipzig am 9. Oktober weigerte sich ein Großteil der 1200 Unteroffiziersschüler der NVA-Luftwaffen in Bad Düben, zu dem – womöglich in einem Blutbad gipfelnden – Einsatz in Leipzig auszurücken. (S.19) Angesichts solcher Fakten erübrigt sich die unendliche, ideologisch aufgeladene Debatte über ›Wende oder friedliche Revolution‹.
Der Reiz des Buches liegt in teilweise sehr verschiedenen Biographien von Männern und Frauen aus West und Ost – außer Matthias Bath und Siegmar Faust noch sechs weitere mit DDR-Knasterfahrungen – sowie in ihren unterschiedlichen Erinnerungen an den 9. November 1989. Der Herausgeber Bath bekennt, dass er an jenem Donnerstagabend, als jemand die Nachricht von der Pressekonferenz mit Günther Schabowski und dessen sprachlich missglückter Ankündigung der Grenzöffnung (›Das tritt nach meiner Kenntnis…Ist das sofort…unverzüglich‹) überbrachte, die weltverändernde Bedeutung dieses Satzes nicht erkannt habe. Er ging nach Hause und legte sich schlafen. (»Ignoranz angesichts der Weltgeschichte«, S.68-75).
Von unsicheren Empfindungen nach dem Mauerfall – noch fortdauernde Angst vor der Stasi, noch kein Gedanke an die Einheit – berichtet Alexandra Bohm, als Christin engagiert in der Gethsemanekirche am Prenzlauer Berg. Doch am Sonnabend, den 11. November, kam der Vorsitzende der Kreissynode Dieter Karpinski mit Sektgläsern in den Sitzungssaal, und alle stießen fröhlich auf die Wiedervereinigung an.
Der dänische Journalist Niels-Birger Danelsen erinnert sich der freudigen Begrüßung eines mit reiselustigen DDR-Bürgern besetzten Fährschiffes aus Warnemünde in Nyköping auf der Insel Falster. Wochen später erklärte ihm in einem Exklusivinterview der DDR-Botschafter, eine Wiedervereinigung werde nur von einer kleinen Minderheit der Bevölkerung gewünscht. Im übrigen sei die Existenz zweier deutscher Staaten Teil des europäischen Gleichgewichts und der Ausgangspunkt des von Gorbatschow eingeleiteten Friedensprozesses.
Mit mehr Realismus erfasste Ralf Hartmann, Jahrgang 1962, Angestellter bei der Volkspolizei, die Lage, als ihn um vier Uhr früh der Nachbar weckte. Der Nachbar, der da in fröhlicher Stimmung aus West-Berlin zurückkam, war Offizier der Nationalen Volksarmee. »Jeder konnte und sollte das hören. Das war für uns der Untergang.« (S.106)