Martin Schulz – Der große Schweiger

Leere Stühle, Foto: Stefan Groß

„Nur wenn wir selbst begeistert sind, können wir auch andere begeistern.“ Es war einer dieser Sätze, mit denen Oskar Lafontaine 1995 den glücklosen Rudolf Scharping vom Thron des SPD-Vorsitzenden stieß und so den Weg ebnete für den SPD-Wahlsieg 1998. Geschichte wiederholt sich nicht unbedingt. Aber damals wie heute ist die SPD von sich begeistert. Ja man kann sagen: Sie ist von sich berauscht.

Man könnte glauben, die SPD hätte sich bereits vor einem halben Jahr für Schulz als Kanzlerkandidaten entschieden. Die Maschinerie im Willy-Brandt-Haus jedenfalls läuft perfekt und reibungslos. Deshalb hält der am 29. Januar ausgebrochene Schulz-Hype unverändert an – freundlichst unterstützt von den meisten Medien. Deren überwiegend grün-rot gesinntes Personal wirkt wie befreit, endlich wieder einen Sozialdemokraten ins Kanzleramt befördern zu können.

Martin Schulz ist seit sieben Wochen Kandidat. Was er jedoch tun will, falls er mit Hilfe von SPD und Linken zum Regierungschef gewählt wird, bleibt weiterhin sein Geheimnis. Am Sonntag macht er, was er am besten kann: Er gibt den großen Kleine-Mann-Versteher, den intimen Kenner der angeblich verängstigten „breiten Mitte“, den Vorkämpfer für soziale Gerechtigkeit, den Pathos-Politiker, der mit Tremolo in der Stimme Respekt für jeden Mann und jede Frau fordert. Schulz präsentiert sich als Sankt Martin, als Schutzpatron aller, denen es schlecht geht oder die von Abstiegsängsten geplagt sind. Dabei strengt er sich mächtig an, dass möglichst viele Menschen sich wenigstens abgehängt und verunsichert fühlen, auch wenn sie das objektiv gar nicht sind.

Eine Stunde und 19 Minuten lang hat der neue SPD-Vorsitzende gesprochen, hat die Delegierten zu Jubelstürmen bewegt, hat den Eindruck vermittelt, der Sieg bei der Bundestagswahl am 24. September wäre nur noch eine Formsache. Das alles machte er geradezu perfekt – ein begnadeter Populist. Nur inhaltlich blieb er wie immer vage. Weil er natürlich weiß, dass jede Festlegung auf Widerspruch stoßen kann – innerhalb der eigenen Partei wie auch bei seinen Wunschpartnern Grüne und Linke. So zeichnete sich die Schulz-Rede durch eine seltsame Mischung aus: grenzenloses Pathos und dröhnendes Schweigen.

Hier eine kleine Aufstellung von Sankt Martins gesammeltem Schweigen:

Koalition: Kein Wort, mit wem er koalieren will. Dabei pfeifen es die Spatzen vom Dach des Willy-Brandt-Hauses: Rot-Rot-Grün sind die Farben der Saison.

Gerechtigkeit: Schulz will „Schluss machen mit dem unerträglichen Lohngefälle“ zwischen Männern und Frauen, verspricht gleichen Lohn für gleiche Arbeit. Das will er gemeinsam mit den Gewerkschaften durchsetzen. Per Gesetz etwa? Oder sonstwie? Die Antwort kennt nur Sankt Martin.

Innere Sicherheit: Der SPD-Chef will Polizei, Feuerwehr, Rettungskräfte besser unterstützen. Durch höhere Gehälter, eine bessere Ausbildung, eine modernere Ausstattung? Die Antwort kennt nur Sankt Martin.

Wirtschaft: Neu ist, dass Schulz auch mal von Unternehmern spricht. Er will die digitale Infrastruktur ausbauen, „richtige Rahmenbedingungen für neue Jobs“ herstellen. Wie, wo, was? Die Antwort kennt nur Sankt Martin.

Arbeitsmarkt: Schulz bleibt dabei: Hartz IV soll teilweise rückgängig gemacht werden, das Arbeitslosengeld für ältere Arbeitnehmer länger gezahlt werden. Die Agentur für Arbeit soll zur „Agentur für Arbeit und Qualifizierung“ ausgebaut werden. Die Befristung von Arbeitsverträgen ohne sachlichen Grund „muss auf den Prüfstand“. Was bedeutet das konkret, wie soll das vor sich gehen, was soll das kosten? Die Antwort kennt nur Sankt Martin.

Familienpolitik: Die Dreifachbelastung durch Berufstätigkeit, Kindererziehung und Pflege der Eltern darf, so Schulz, Menschen nicht in die Knie zwingen. Deshalb verspricht er Investitionen in Kitas, Schulen, Universitäten und Pflege. Hier wird er sehr konkret: Bildung soll gebührenfrei werden – von der Kita bis zum Studium. Dasselbe soll für die Berufs- und Meisterausbildung gelten. Zudem sollen Eltern für ihre Kinder einen Rechtsanspruch auf Plätze an Ganztagsschulen bekommen. Was soll das kosten? Wie soll das finanziert werden? Die Antwort kennt nur Sankt Martin.

Steuern: Der Kandidat beklagt „obszön hohe“ Einkommen und Vermögen. Seine Forderung: „Wir müssen Gerechtigkeit herstellen.“ Also höhere Steuersätze bei der Einkommensteuer, eine Vermögensteuer oder Vermögensabgabe, eine Reichensteuer, eine höhere Erbschaftsteuer? Die Antwort kennt nur Sankt Martin.

Europäische Union: Schulz ist gegen die „Abwicklung dieses Einigungswerks.“ Sein Versprechen: „Deutschland in Europa stark halten und durch ein starkes Deutschland Europa stark halten.“ Will er eine Vertiefung der Union? Oder ein Europa der zwei Geschwindigkeiten? Die Antwort kennt nur Sankt Martin.

Flüchtlinge: Diese Herausforderung kann, so Schulz, nur in der Gemeinschaft der europäischen Staaten gelöst werden. Er will „klarere Absprachen“, will eine „klarere Haltung“ gegenüber Ländern, die Geld von der EU nehmen, aber sich in der Flüchtlingsfrage unsolidarisch verhalten. Darf’s etwas konkreter sein? Die Antwort kennt nur Sankt Martin.

Türkei und Erdogan: Schulz will nicht hinnehmen, dass türkischstämmige Mitbürger gegeneinander ausgespielt werden, und dass sie mit Nazivergleichen gegen Deutsche aufgehetzt werden. Er will „mit klaren Worten sagen: Das geht nicht.“ Sollen also türkische Wahlkämpfer in Deutschland nicht mehr auftreten dürfen? Will er die EU-Beitrittsverhandlungen endgültig abbrechen? Ist er für die Ausweitung oder Einschränkung der doppelten Staatsbürgerschaft? Die Antwort kennt nur Sankt Martin.

Martin Schulz – der Stimmungspolitiker. Auch bei seiner Krönungsmesse an diesem Sonntag blieb er sich treu: viel Show, wenig Substanz. Was er vor den 600 Delegierten sagte, hat er seit seiner Ausrufung Ende Januar alles schon mehrfach zum Besten gegeben. Gleichwohl löste selbst die 27. Wiederholung Jubel aus: Nur wer sich selbst begeistert, kann auch andere begeistern. Hatte es einen tieferen Sinn, dass die SPD für ihren Sonderparteitag eine „Location“ an der Spree ausgewählt hatte? Wenn Schulz gewollt hätte, hätte er nach seiner Krönung die paar Kilometer zum Kanzleramt auf dem Wasser wandelnd zurücklegen können. Er tat es nicht. Aber bis zur Wahl am 24. September sind es ja noch sechs Monate.

 

Veröffentlicht auf www.tichyseinblick.de

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