Martin Lohmann – Missbrauchsskandal – Der 11. September für die katholische Kirche : Wenn der Glaube fehlt, wird alles schräg

Eine tabulose angstfreie Aufklärung ist jetzt alternativlos

Kreuz auf dem Vatikan, Foto: Stefan Groß

Wenn jemand wie Georg Gänswein im Blick auf die Missbrauchsskandale und angesichts der aktuellen Situation von einem 11. September für die katholische Kirche spricht, dann sollte man genau hinhören – und den bitteren Ernst der Lage begreifen. Und wenn sich viele Katholiken, darunter auch Kardinäle, für das, was jetzt offenbar wird, öffentlich schämen, dann ist die Zeit des Beschönigens und Wegredens definitiv vorbei. Die Zeit des (Ver)Schweigens auch. Die Zeit der radikalen Aufklärung hingegen darf nicht weiter verschoben werden. Das verlangt schon der Minimalanstand gegenüber allen Opfern. Das verlangt auch eine ehrliche Scham. Wer jetzt noch Ausreden zu suchen können glaubt, macht sich mitschuldig. Mitschuldig an der Zerstörung einer Kirche, die als auf den Gottessohn Jesus Christus gegründetes Zeichen des Widerspruchs und der Berufung zur Klarheit als Mittel zum Gottesheil nicht auf Lügen und Vertuschung oder Selbstbetrug gebaut sein kann, sondern allein auf Wahrheit. Das klingt vielleicht frömmelnd. Ist es aber nicht.

Der Kirchenstifter Jesus Christus machte und macht keine Fehler. Gott macht keine Fehler. Die Kirche schon. Oder genauer: In der Kirche werden viele Fehler gemacht. Verstöße gegen Gott und den Nächsten nennt man Sünden. Die Kirche besteht aus Menschen, aus fehlbaren Personen, die immer wieder neu vor der Herausforderung stehen, ihre Berufung zum Guten durch Bekämpfung des Bösen neu auszurichten und ihr gerecht zu werden. Und dazu gehört die Ordnung der gegebenen Triebe, Kräfte und Begabungen. Es gehört dazu, die Achtung vor sich selbst und dem Nächsten zu üben. Es gehört dazu, die vom Schöpfer selbst in die Natur gelegte Ordnung, also das Naturrecht als das, was Gott von seinen Geschöpfen erwartet und für möglich hält, anzuerkennen und danach zu leben. Auch der allzu lange gepflegte Versuch, das natürliche Koordinatensystem zu missachten, zu verdrängen und durch eine sogenannte Selbstverantwortung zu leugnen, erweist sich im Angesicht der aktuellen Situation als gefährliche Versuchung. Eine grundsätzliche Verdrängung, könnte man sagen.

In der Politik würde es heißen: Eine radikalst mögliche Aufklärung ist alternativlos. Ist sie auch, wenn man wirklich statt Nebel und Dunkelheit wieder Licht haben will. Dabei ist bekannt, dass alles Schräge und Falsche das Licht scheut wie der Teufel das Weihwasser. Wer Eiterbeulen immer wieder mit Placebo-Salben zukleistert wird ahnen, dass so ein ohnehin angeschlagener Körper dereinst gänzlich vergiftet sein wird. Bisweilen hilft nur noch der radikale Schnitt, um jeden Eiter aus dem Körper zu bekommen. Das ist schmerzhaft, und das geht nicht ohne möglichen Schaden und Verlust. In der Kirche ahnen derweil viele, dass es auch heute nicht ohne Schaden, ohne Verlust vieler Gläubiger und ohne erhebliche Glaubwürdigkeitsdifizite gehen wird. Doch nicht der Heilungs- und Sanierungsprozess ist dafür verantwortlich, nicht die aufklärenden und operierenden Chirurgen, sondern diejenigen, die Krankheitszustände übersehen haben oder gar sehenden Auges zugelassen haben. Besonders verantwortlich für die Folgen sind alle, die den Krankheitszustand mitverursacht haben.

Tabus darf es keine mehr geben. Schon allein aus Respekt vor dem eigentlichen Herrn der Kirche. Und erst recht aus Verantwortung für die Menschen von heute und morgen. Weiterer Zeitverlust würde das Drama nur noch tragischer machen. Darüber aber dürfte sich eigentlich nur der gefallene Erzengel Lucifer freuen, dem es sicher sympathisch war, das man ihm auch innerhalb der Kirche durch die Leugnung seiner Existenz jahrzehntelang eine Tarnmaske schenkte, so dass er ungestört und „unerkannt“ überall sein tödliches Gift streuen konnte.

Jetzt müssen alle – in Worten: alle – Fakten auf den Tisch. Personell und inhaltlich. So verständlich es sein mag, dass höhere Geistliche andere aus Sympathie schützen wollten oder noch wollen, so falsch ist das – und so schadensintensiv für die gesamte Kirche und deren Verantwortung wie auch ihren eigentlichen Glaubens- und Heilsauftrag wäre das. Und daher müssen nun auch alle Ablenkungsmanöver durch vermeintlich logische Diskussionen vermieden werden. Hier ist Unterdrückung dann etwas Gutes und Notwendiges.

Es wäre absurd, jetzt – wie das schon teilweise geschieht – eine komplette Änderung der Sexualmoral der Kirche zu fordern. Die Logik will es, dass wohl nichts Übles passiert wäre, hätten sich alle Verantwortlichen stets an das gehalten, was die katholische Sexuallehre will und sagt. Wer jetzt zum Beispiel die Abschaffung des Zölibats fordert, lenkt ab. Es ist eben nicht eine Folge des Zölibats, wenn Moral nicht mehr erkannt und befolgt werden soll. Das ist vielmehr eine Folge von Glaubensabfall. Verstöße gegen das Treuegebot und das freiwillig eingegangene Treueversprechen des Zölibats sind ebenso wenig ein Grund für seine Abschaffung wie Ehebrecher für die Abschaffung der Ehe. Man fordert ja auch nicht die Abschaffung der Straßenverkehrsordnung, weil es viel zu viele Unfälle gibt. Die Richtigkeit der Regeln wird durch Verstöße gegen sie nicht vernichtet.

Auch das gehört auf den Tisch der Aufklärung und Klärung: Wenn mehr als 80 Prozent der Missbrauchsopfer männlich waren, dann liegt der Gedanke nicht fern, dass Papst Benedikt XVI. nicht ganz unüberlegt verlangte, dass Homosexuelle nicht zu Priestern geweiht werden sollten. Ebenfalls sollte dringend er Mut aufgebracht werden, über Sinn und Unsinn der sogenannten autonomen Moral als Ersatz einer im Naturrecht verankerten Moral nachzudenken – und gegebenenfalls Korrekturen zuzulassen. Wo Moral schräg wird und sich aus der unmittelbaren Audienz vor dem Schöpfer entlässt, wird auch der Glaube schräg.

Es deutet manches darauf hin, dass die Krise der Kirche auch etwas zu tun hat mit einer allzu großen und leichtfertigen Anpassung an die Zeitgeistströme der Welt, was die Gefahr des Verlusts stabilen Glaubens immer befördert hat. Und nicht zuletzt eine Theologie, die möglicherweise auf die Vermittlung existentieller Glaubensinhalte nicht immer den gebotenen Wert gelegt hat, mag hier kritisch beleuchtet werden. Maßstab für den Glauben sollte vor allem und stets der Gottessohn sein mit jener Wahrheit, die er als wirklich Unfehlbarer treuhänderisch seiner Kirche anvertraut hat.

Die Krise der Kirche mit all ihren Verirrungen ist auch eine Krise des Glaubens, die längst nicht mehr Halt gemacht hat vor jenen, die als Hirten vor allem eine Verpflichtung haben: den wahren Glauben an Gott und die Berufung zum ewigen Leben zu verkünden. Und dies muss sichtbar werden im irdischen Leben. Denn dort zeigt sich, wer sich wirklich an dem orientiert, dessen Name auch Wahrheit und Klarheit lautet.

So schmerzhaft es jetzt auch sein mag für viele: Falsche Rücksichten darf es nicht mehr geben. Nirgendwo. Das sind alle in der Kirche dem schuldig, dem gegenüber sie eines Tages Rechenschaft geben müssen. Es mag seltsam klingen und könnte sich dennoch als grundrichtig erweisen: Auf den Glauben kommt es an. Erst recht bei Priestern, die weniger Manager und Sozialpropheten sein müssen als Geistliche, die in einer gottesfürchtigen Frömmigkeit mitten in dieser Welt durch heilige Liturgie und gelebte Liebe zu den Sakramenten den Menschen den Glauben an einen gerechten und barmherzigen Gott bezeugen, der als konkrete Vaterperson zur Enthaltsamkeit, zum Respekt und zur verantwortlichen Gestaltung und Ordnung ein Leben mit und in der geoffenbarten Wahrheit als möglich anbietet – und dazu mithilfe der Gebote befähigt.

Vieles wird wehtun. Vieles wird zerbrechen. Vieles wird zum Heulen sein. Und auch, wenn die Zusage, dass die Kirche von den Pforten der Unterwelt nicht überwältigt werden wird und nicht untergehen kann, keine territoriale Zusicherung ist, so gilt: Aufklärung und Analyse ohne falsche Rücksichten ist wirklich alternativlos. Lügen haben kurze Beine und führen über kurz oder lang zum Stolpern. Schräges schafft ein Abrutschen nach unten. Nur die Wahrheit, nur sie allein, schafft Freiheit.

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Über Martin Lohmann 44 Artikel
Martin Lohmann studierte Geschichte, Katholische Theologie, Philosophie und Erziehungswissenschaften in Bonn. Er war Redakteur der Wochenzeitung "Rheinischer Merkur", Ressortleiter "Christ und Welt", stellv. Chefredakteur des "Rheinischen Merkur", Chefredakteur der Rhein-Zeitung, Moderator der TV-Sendung "Münchner Runde" und war u.a. Chefredakteur des Fernsehsenders K-TV. Er ist Autor zahlreicher Bücher zur Gesellschaftspolitik, Familienpolitik sowie Kirche und Ethik. Martin Lohmann ist Mitglied des Neuen Schülerkreises Joseph Ratzinger/Benedikt XVI. und Geschäftsführer der Akademie für das Leben gUG Bonn (www.akademiefuerdasleben.de)