Maren-Sophie Fünderich: Wohnen im Kaiserreich. Einrichtungsstil und Möbeldesign im Kontext bürgerlicher Selbstrepräsentationen, De Gruyter, Boston/Berlin 2019, ISBN: 978-3-11-065025-9, 69,95 EURO (D)
Im deutschen Kaiserreich war für die stark wachsende bürgerliche Klasse die Einrichtung der Wohnung eine zentrale Frage der Lebensführung und der Selbstrepräsentation. Dazu gehörten die Auswahl der Möbel, des Möbelstils sowie die Ausstattung mit Teppichen, Tapeten und Vorhängen. Dabei waren eine bewusste Absetzung von schwächeren Klassen und das Nacheifern der hegemonialen Klassen konstitutiv.
In dieser Dissertationsschrift, die im Wintersemester 2018/2019 im Fachbereich Philosophie und Geisteswissenschaften an der Goethe-Universität Frankfurt am Main angenommen wurde, geht es um die Frage, inwieweit Möbelkauf und Einrichtung für den bürgerlichen Mittelstand eine eigenständige Wahl waren, um sich selbst darzustellen, oder in welcher Weise diese Wahl durch die Zwänge von Stilentwicklung, Produktionsverfahren und Marktmechanismen beeinflusst wurde. Außerdem wird gefragt, inwieweit die Wünsche der Verbraucher Rückwirkungen auf Stilentwicklung, Produktionsverfahren und Marktmechanismen hatten. Dabei werden Fragestellungen aus der Wirtschafts-, Sozial- und Technikgeschichte mit denen aus der kunsthistorischen Möbelforschung verbunden.
Nach einer Einleitung zu Forschungsfragen folgt eine Übersicht über die Quellenlage. Danach werden Bürgertum, Bürgerlichkeit und Mittelstand sowie der Begriff „bürgerlicher Lebensstil“ definiert und von anderen Klassen abgegrenzt. Anschließend werden Wohnen und Einrichten als Kernbestand bürgerlicher Selbstrepräsentation untersucht. Dabei wird die Wohnung als symbolische Welt als Spannungsverhältnis von Öffentlichkeit und Privatheit gesehen. Der Salon war dabei ein Repräsentationsraum nach außen und das Wohnzimmer ein privater Rückzugsort. Dann werden die Produktionsabläufe und die Entwicklung des Übergangs von der Tischlerfertigung zur Serienmöbelfertigung behandelt, der fließend verlief. Außerdem wird auf die Möbelherstellung und Möbelgestaltung eingegangen. Die Marktmechanismen werden dann untersucht. Die Möbelhersteller kümmerten sich um die Produktion der Serienmöbel, warben in Zeitungsanzeigen und betrieben die Vermarktung. Dabei werden die unterschiedlichen Betriebsformen des Möbelhandels mit Detailhandel, Möbelmagazinen, Großmagazinen und Großhandel erläutert und Kaufhäuser als Orte bürgerlicher Wohnwelten vorgestellt. Weiterhin werden auch Weltausstellungen, die Leipziger Messe sowie regionale Industrie- und Gewerbeausstellungen sowie Fachzeitschriften untersucht.
Die Stilentwicklung, die Kundenwünsche und die Geschmacksbildung unter den Zwängen der Serienproduktionen kommen dann zur Sprache. Der Stilpluralismus aus Gotik, Renaissance, Barock und Rokoko, die Handwerkerausbildungen und Fachschulen, Ausstellungen zum Wohnen und Einrichten sowie die Bemühungen des Deutschen Werkbundes und des Dürerbundes, industrielle Massenproduktion und künstlerische Gestaltung in Einklang zu bringen, werden dort präsentiert. Danach geht es noch um die Ansätze nach dem Ersten Weltkrieg und die dortigen Diskussionen um die Stilrichtung. Im letzten Kapitel werden die wichtigsten Ergebnisse der Arbeit zusammengefasst.
Im umfangreichen Anhang findet man noch ein Abkürzungsverzeichnis, die benutzten Archive und Bibliotheken, ein Quellenverzeichnis, ein Literaturverzeichnis, Internetseiten, Expertengespräche, ein Abbildungsverzeichnis und ein Personenregister.
Folgende Thesen wurden in dem Werk herausgearbeitet:
Dabei stand die bürgerliche Wohnungseinrichtung für die Ambivalenz von Moderne und Antimoderne des Historismus. Das deutsche Kaiserreich ist durch einen umfassenden Modernisierungsprozess mit drei großen Umbrüchen gekennzeichnet. Der erste Umbruch betraf Innovationen in der Produktion. Vorher wurden Möbel bei Handwerkern in Auftrag gegeben und als teure Einzelstücke von Hand gefertigt, nun begann die Serienmöbelfertigung mit Hilfe von Maschinen. Der zweite Umbruch betraf Innovationen auf dem Markt. Die kleineren Werkstätten konkurrierten nun mit größeren Handwerksbetrieben und Fabriken, die genügend Kapital für den Einsatz von Maschinen besaßen. Der dritte Umbruch betraf die Innovationen im Stil. Lange Zeit waren historistische Stilmöbel gefragt, ein zeitgemäßer Stil mit modernen und schlichten Möbel stand dem entgegen.
Die veränderten, beschleunigten Lebensverhältnisse führten dazu, dass die Kunden kaum noch beim Tischler auf Bestellung nach Vorlagenzeichnungen kauften und monatelang darauf warten wollten. Die Kunden verlangten vielmehr eine Auswahl an fertigen Möbeln im Geschäft und auf eine schnelle Lieferung der bestellten Ware. Dies bedeutete den Durchbruch der Serienmöbelfertigung.
Wohnen und Einrichten war ein vorherrschendes gesellschaftliches Thema innerhalb der wachsenden Mittelschicht, die dies zur Selbstrepräsentation nutzten. Die genaue Beschreibung der Gestaltung der Wohnung mit Möbeln, Teppichen und Tapeten erfasst die Selbstrepräsentation nur partiell. Entscheidend war die Verfügbarkeit der Möbel und der gesamten Raumausstattung. Die Verfügbarkeit ergibt sich aus der Verbindung von Produktionsverfahren, Stilbildung und Marktmechanismen.
Der gewählte Ansatz der Verbindung der Forschungsansätze aus der Wirtschafts-, Sozial- und Technikgeschichte mit denen aus der kunsthistorischen Möbelforschung ist als gelungen zu bezeichnen. Hier stehen Möbel, Teppiche und Tapeten und verschiedene Stile im Mittelpunkt. Dazu wurden ausgewählte Geschäftsmodelle von Möbelherstellern und Möbelhändlern, zeitgenössische Ratgeberliteratur, Lebenserinnerungen und Briefe neben Forschungsliteratur herangezogen. Es zeigt auch ein wenig die Entwicklungen im Kunstgewerbe nach und macht die Umwälzung durch die fortschreitende Industrialisierung deutlich. Die Frage, ob und wenn ja welche Unterschiede es zwischen Stadt und Land gab, wird hier leider nicht verfolgt. Die Zahl an Zeichnungen, Grundrissen oder Bildern hätte noch erhöht werden können, um eine bessere Visualisierung zu erreichen.