„Free Horses“ von Luigi Pirastu in der aquabitArt Galerie Berlin

Die Realität neu schreiben! Momente der reinen Möglichkeit

Free Horses, Luigi Pirastu, Foto: © Luigi Corda

Der italienische Architekt und Bildhauer Luigi Pirastu ist ein Künstler, der Tradition mit Innovation verbindet. Seine Ausbildung am Istituto Universitario di Architettura in Venedig hat seinen künstlerischen Ansatz bereichert. Er begann seine Karriere als Bühnenbildner in renommierten Häusern wie dem Corderie dell’Arsenale in Venedig und dem Italian Trade Center in London und arbeitete auch mit dem bekannten katalanischen Künstler Antoni Miralda für den spanischen Pavillon auf der Biennale von Venedig zusammen.

In den letzten Jahren hat sich Pirastu vor allem auf die Bildhauerei konzentriert und dabei zwei unterschiedliche Themen entwickelt. Zum einen schafft er abstrahierte Pferdefiguren aus Stein, Malachit, Türkis oder Blaukristall, zum anderen Fische aus Verbundwerkstoffen. Sein jüngstes skulpturales Projekt, das nun in Berlin gezeigt wird, nennt er „Free Horses“.

Das Pferd ist ein klassisches Thema der europäischen Kunstgeschichte. Vor allem seit der Epoche der Renaissance rückt die Darstellung des Pferdes in den Fokus und findet ihren Höhepunkt in der Barockzeit. War das Pferd ehemals ein Herrschaftssymbol oder auch ein Symbol für Kraft, Eleganz und Schönheit, so wird diese Auffassung mit der Moderne brüchig: Künstler wie etwa Joseph Beuys, Jannis Kounellis, Stephan Balkenhol, Daniele Buetti oder Andreas Slominski – um nur einige zu nennen – haben einen neuen Blick auf das Sujet gefunden.

Luigi Pirastus Pferdedarstellungen sind archaisch, stilisiert und skizzenhaft: Sie erinnern an von der Natur geschliffene Steine. Das Tier transzendiert die Realität, um zu handeln, zu spielen und zu fliegen und verkörpert ein Gefühl von Freiheit und Freude. Pirastu sucht nicht nach der genauen Anatomie des Pferdes, sondern konzentriert sich auf die erfundene, phantastische Geste.

Free Horses, Luigi Pirastu, Foto: © Luigi Corda

Der Künstler beschreibt seine Werke als „skulpturale Installationen“ und stellt sich damit zwischen die ehemals starren Grenzen der künstlerischen Medien. Er zelebriert mit seiner Kunst eine fließende, fluide Welt großer Ausdrucksfreiheit. Seine Pferde sind frei, „Free Horses“, freier als die Kategorisierungen, in denen wir Menschen ihr Leben für gewöhnlich denken.

Die skulpturalen Installationen von Pirastu weisen faszinierende technische Details auf: Wir erkennen Darstellungen von Wiesen mit grünen Glasfasereinsätzen oder auch Plexiglas-Träger, die von speziellen LEDs in verschiedenen Farben beleuchtet werden. Wir werden Zeugen von erstaunlichen Flügen und Tauchgängen der Pferde. Was wir hier entdecken können, ist ein allegorisches und surreales Werk, eine Hymne an die Freiheit und die Möglichkeit, das scheinbar Unmögliche zu erreichen. Jedes Pferd ist ein Einzelstück und repräsentiert auf ungesehene Weise Dynamik und Vitalität. Der Künstler nimmt uns mit auf eine Reise, die zum Nachdenken über Konzepte von Freiheit, Fluidität und Identität führt.

Ein kurzer Exkurs dazu: Das Flüssige, das Liquide ist ein markantes Phänomen unserer Zeit. Von Zygmunt Bauman in „Liquid Modernity“ soziologisch beschrieben, bei Zaha Hadid architektonisch gedeutet als „Total Fluidity“, ist das Fluide als Zeichen der Postmoderne gedeutet worden, als ein Aufweichen von Grenzen und ehemals starren Einheiten.

Prominent tritt die Denkfigur der Verflüssigung schon in der Romantik auf, am Beginn der Moderne, zeitgleich mit einer rasanten Industrialisierung. Hier nimmt sie ihren Ausgang in der Literatur und auch in der Bildenden Kunst. In der Kunst William Turners ist die Verflüssigung des Festen omnipräsent. Die Natur, Steine, Felder, Wälder zeigt sich hier immer wieder in formaufgelöster, gleichsam verflüssigter Art und Weise.

Rolling on the gras, Ausstellung Free Horses von Luigi Pirastu, Foto: © Luigi Corda

Und auch in der Kunst von Pirastu verändern sich die Aggregatzustände der Dinge: Feste Strukturen lösen sich auf. Die Elemente ringen miteinander und verschwimmen. Und Luigi Pirastu kommt bei diesem visuell überaus dynamischen Spektakel ganz ohne den Menschen als Bildthema aus.

Diese Kunst vermittelt uns ein Gefühl der Zeitlosigkeit und der Kontinuität mit der Natur. Sie hat ein hybrides Wesen und besitzt die Fähigkeit, mit dem Raum und dem Publikum auf einzigartige Weise zu interagieren. „Wir leben in einer zunehmend fließenden Welt“ sagt Pirastu. „In einer Welt, welche scharfe Kategorisierungen von künstlerischen und identitätsbezogenen Ausdrucksformen immer mehr herausfordert.“

In diesem Sinne sind die Pferde des Künstlers Symbole einer Freiheit, die unsere täglichen Grenzen überschreitet. Sie drücken eine Vitalität aus, die sich traditionellen Definitionen zu entziehen scheint. Sie brechen aus, indem sie handeln, spielen, fliegen und sich gegen den Strom und ihre eigenen Grenzen stellen. Es sind, tatsächlich, „Free Horses“.

Pirastus Pferde fliegen so schnell wie Überschalljets, durchbrechen sogar die Schallmauer, tauchen wie Menschen. Sie sind wunderbare Schöpfungen der Phantasie und der Träume. Surreale Spannung ist das pulsierende Herz dieser Kunst, in der Realität und Fantasie verschmelzen.

„Kairos“, der griechische Gott des günstigen Augenblicks, der sich dem Menschen – manchmal – zeigt, steckt in diesem Werk. Jedes Pferd, in seiner stilisierten Form, fängt einen Moment der reinen Möglichkeit ein, einen Augenblick, in dem die Realität neu geschrieben werden kann. Pirastu versteht sein Werk als Feier der Existenz, der Kraft der Kreativität, der Schönheit und der Freiheit.

Seine Werke sind eine Einladung, die Welt mit neuen Augen zu sehen. Dazu gibt es jetzt in Berlin, erstmals in Deutschland, eine wunderbare Gelegenheit: Die Ausstellung „Free Horses“ von Luigi Pirastu wird vom 11. bis 15. September, während der 13. Ausgabe der Berlin Art Week, in der aquabitArt Galerie Berlin gezeigt.

aquabitArt Galerie
Auguststrasse 35, 10119 Berlin
tel: +49(0)30 260 364 77
www.art.aquabit.com

Öffnungszeiten: 10 bis 14 Uhr, 15.30 bis 19.30 Uhr, Sonntag 10 bis 15 Uhr

Über Marc Peschke 18 Artikel
Marc Peschke, 1970 geboren, Kunsthistoriker, Texter, Kulturjournalist und Künstler, lebt in Wertheim am Main, Wiesbaden und Hamburg. Er hat in Mainz Kunstgeschichte, Komparatistik und Ethnologie studiert. Seitdem schreibt der gebürtige Offenbacher unter anderem über Bildende Kunst, Fotografie, Fotokunst und Popmusik. Gelegentlich arbeitet er auch als freier Kurator, war Mitinhaber und Mitbegründer der Fotokunst-Galerie KUNSTADAPTER in Wiesbaden und Frankfurt am Main – sowie der Kultur-Bar WAKKER in Wiesbaden. In Wertheim am Main ist er Kurator des exklusiven Kunstraum ATELIER SCHWAB. Seit 2008 zahlreiche eigene Ausstellungen im In- und Ausland. Marc Peschkes künstlerische Arbeiten entstehen zumeist auf seinen zahlreichen Reisen und sind in verschiedenen nationalen und internationalen Sammlungen vertreten. Seit 2020 ist Marc Peschke unter dem Namen MASCHERA auch wieder als Musiker aktiv. Im Jahr 2022 wird er kuratorisch die Wiesbadener Fototage unterstützen. www.marcpeschke.de