Mal wieder eine Mauer sehen?

„Berliner, wollt ihr mal wieder eine Mauer sehen?“ Was sich wie ein verunglückter Scherz aus einer karnevalistischen Büttenrede liest, entspricht leider bitterer Realität. Mit diesem Spruch werben nämlich die Berliner Flughäfen in dicken Lettern auf großformatigen Plakaten für eine Flugverbindung aus ihrer einstmals geteilten Stadt nach China.

Es sind solche Begebenheiten wie dieser peinliche, ja beleidigende Werbespruch, die den gedankenlosen Umgang mit der deutsch-deutschen Vergangenheit illustrieren, wie er sich immer unverhohlener öffentlich Bahn bricht. Und das nicht erst seit Erstarken der Linkspartei. Waren es anfangs in den Jahren nach der Wende von 1989 noch verunglückte, schiefe oder manchmal harmlose – und damit umso gefährlichere – Petitessen und alberne Sotissen, die sich schleichend in den öffentlichen Diskurs einwoben, so sind es seit geraumer Zeit immer offensichtlichere, aggressivere und offensiver vorgetragene Verbalinjurien, die sich auf dem Marktplatz des demokratischen Diskurses anbieten und damit einem gedanken- und verantwortungslosen Geschichts-, Gesellschafts- und Demokratieverständnis Vorschub leisten. Ein Oskar Lafontaine mit seiner eigenwilligen historischen Interpretation über den Zusammenschluss von KPD und SPD ist da ebenso zu nennen wie ein Regierender Bürgermeister Klaus Wowereit, der mit seinem links-linken Schmusekurs nicht nur auf der kommunalpolitischen Bühne der Hauptstadt kokettiert.

Natürlich ist Berlins Regierender – übrigens stammt er aus Tempelhof, dem Stadtteil mit dem Flughafen der Luftbrücke, die von Juni 1948 bis zum Mai 1949 Monate lang die im Westteil abgeriegelte Stadt versorgte – nicht für ein solches Werbeplakat verantwortlich. Gleichwohl sind es führende Protagonisten der politischen Verantwortung für Berlin, die mit ihrer in mehrfacher Hinsicht fragwürdigen politischen und gesellschaftlichen Orientierung zu einem Klima beitragen, in dem irgendwelche Wirrköpfe überhaupt erst die Chuzpe aufbringen, einen solchen Werbespruch zu kreieren sowie mit einem Placet abzusegnen. Gnade Gott, wenn ein derartiges Geschichts- und Gesellschaftsbild all der Wowereits mehrheitsfähig wird! Gesellschaftsfähig ist es vielerorts ja ohnehin schon lange.

Wenn es in der deutschen Gesellschaft noch weiter möglich wird, Geschichte im Allgemeinen und die jüngste Zeitgeschichte im Besonderen zu relativieren und subjektiven Erwägungen nach zu verrücken, weil immer mehr Menschen unfähig sind, die differenzierende Betrachtung des Gesamten einerseits sowie die verantwortungsvolle Urteilsfähigkeit über Werte andererseits zu leisten, führt das geradewegs in die Dekadenz – um einen Gedanken des herausragenden Kulturphilosophen Jakob Burckhardt aufzugreifen.

Dekadent und im wahrsten Sinne wertlos scheint sich in diesem Land der Umgang mit der zweiten deutschen Diktatur zu entwickeln. Noch vor einer Woche wünschte der Schriftsteller Joachim Walther im Interview mit der katholischen Tageszeitung Die Tagespost, „etliche Leute an den Hammelbeinen zu ziehen, damit sie den Begriff Diktatur überhaupt in den Mund nehmen, wenn es um die DDR geht“. Und Anfang November stellte der ehemalige Bundesbeauftragte für die Akten des Staatssicherheitsdienstes der DDR, Joachim Gauck, fest: „Ostalgie verringert all das, was unsere Demokratie ausmacht.“ Plakate wie das in Berlin sind Indizien für diese Besorgnis erregende Entwicklung. Bleibt zu hoffen, dass das kommende Jahr mit dem 20. Jahrestag des Mauerfalls zum Anlass, mehr noch als Chance genommen wird, eines der entscheidenden Daten der deutschen Geschichte nicht nur durch wohlfeile Sonntagsreden aufzuarbeiten. Sonst braucht sich niemand mehr zu wundern oder aufzuregen, wenn eines Tages die unverantwortliche Banalisierung der deutschen Teilung mit all ihren grauenvollen Konsequenzen – wie eben der Mauer – als gescheitertes Experiment oder Betriebsunfall allenfalls wie eine Fußnote in den Geschichtsbüchern interpretiert wird.

Über Constantin Graf von Hoensbroech 74 Artikel
Constantin Graf von Hoensbroech absolvierte nach dem Studium ein Zeitungsvolontariat über das "Institut zur Förderung publizistischen Nachwuchses - ifp". Nach Stationen in kirchlichen Medien war er u. a. Chefredakteur von "20 Minuten Köln", Redaktionsleiter Rhein-Kreis-Neuss bei der "Westdeutschen Zeitung", Ressortleiter Online bei "Cicero" sowie stellvertretender Pressesprecher der Industrie- und Handelskammer zu Köln. Seit März 2011 ist er Mitarbeiter der Unternehmenskommunikation der Rheinland Raffinerie der Shell Deutschland Oil GmbH.

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