Wer erinnert sich noch an y2k?
y2k! Es handelte sich um den weltweit Panik verbreitenden, so genannten „Millenium-Bug“ – ein Computerproblem, das durch die interne Behandlung von Jahreszahlen als zweistellige Angabe entstand und angesichts des Jahreswechsels 1999/2000 einen globalen Ausfall von vielen Computersystemen vermuten ließ, die dann nicht mehr „wissen“ konnten, ob sie denn im Jahr 2000 weiterrechnen oder halt ins Nirwana des Jahres 1900 zurückfallen sollten.
Nun hat der österreichische Autor keineswegs ein Buch über kollabierende Computersysteme oder den kollateralen Zusammenbruch unseres mittlerweile weit vernetzten Lebens geschrieben, sondern sein Erzählband vereint 14 Geschichten, die allesamt ein bedeutendes oder aber ein persönliches Erinnerungsmoment implizierten und globale oder individuelle innere Aufruhr verursachten. Menasse schreibt über die Ermordung Kennedys und des chilenischen Präsidenten Salvador Allende. Er berichtet vom völlig unerwarteten Sieg Griechenlands über Portugal bei der Fußballeuropameisterschaft 2004 und der dabei verpassten Chance eines Riesengewinns in der Fußballlotterie. Oder er erinnert an die „Bedeutung“ der Zerstörung Dresdens am 13./14. Februar 1945: „Es gab noch nie eine Diktatur, in der die Menschen gefragt wurden, was sie wollen. Die Deutschen wurden gefragt. Das war einmalig. Sie wollten den totalen Krieg. Ohne Dresden hätten sie nie begriffen, was sie sich gewünscht hätten.“
Da steht auf der einen Seite die Wiederzusammenführung von Ost- und Westdeutschland, auf der anderen die Trennung aus einer Partnerschaft. Menasse erzählt von der persönlichen „Bedeutung“ des 9. November 1977, an dem der österreichische Textilindustrielle Walter Palmer von der „Bewegung 2. Juni“ entführt wurde oder dem Abbruch der Berliner Mauer. Genau 10 Jahre später befürchtet man eine andere Zerlegung, eben jene, zu Beginn angeführte: „Mit 'Y₂K' hat die westliche Welt die entsprechende Erfahrung digitalisiert und postmodern wiederholt: die hysterische Angst vor dem Zusammenbruch des Systems. (…) Dass im Jahr 1999 Firewalls die Menschen mehr beschäftigten als die längst verschwundene Mauer, ist daher verständlich: Was ist schon der Fall der Mauer gegen den Fall der Börsen?“
Robert Menasse stellt sich in diesem Buch immer wieder die Frage wie bedeutsam ein historisches Datum neben Zukunftsoptionen und Termingeschäften ist? „Was ist die Erinnerung an eine verschwundene Bedrohung im Vergleich, oder zeitgenössisch formuliert: in Konkurrenz mit einer akuten Bedrohung?“ Ist der Reichtum eines Autors, den er immer wieder erzählend ausbreitet, eigentlich nichts als eine Lüge? Wie beliebig ist Erlebtes, das Leben überhaupt? Sind Geschichten im Grunde nicht nur „Varianten immer derselben Geschichte“?
Gekonnt verknüpft der Autor dabei Kindheits- und Jugendereignisse mit dem „Schock im weltgeschichtlichen Maßstab“. Persönliche Reminiszenzen wie Scheidung, Einsamkeit und Verhöhnt-Werden wechseln mit signifikanten Retrospektiven ab, werden vermischt, verknüpft und neu zusammengestellt. Entstanden ist ein kleiner, aber umso wirkungsvoller Abriss im Zeitlauf der Geschichte. Menasse bringt dem Leser den „Geruch der Zeit“ ins Wohnzimmer. Er watet sozusagen durch den persönlichen Lebensmorast und bedient sich verdrängter, vergessener und universaler Begebenheiten. Vielleicht um sein Erwachsenenleben mit seiner Kindheit zu versöhnen, vielleicht auch seine Generation mit der Geschichte. „Wir stapften durch den Schnee von gestern – und waren die Ersten, die darin ihre Eindrücke hinterließen.“ Aber letztendlich ist das Leben doch nur „ein noch größerer Irrtum als der Tod.“
Robert Menasse
Ich kann jeder sagen
Erzählungen vom Ende der Nachkriegsordnung
Suhrkamp Verlag, Berlin (August 2009)
185 Seiten, Gebunden
ISBN-10: 351842114X
ISBN-13: 978-3518421147
Preis: 17,80 EURO
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