Anne Germaine Louise de Staël-Holstein, geborene Necker, geboren 1766, gestorben 1817, war eine der ungewöhnlichsten Frauen an der Schwelle des 18. zum 19. Jahrhundert. Wer war sie, eine patriotische Französin, eine in der Wolle gefärbte Schweizerin, eine reiselustige Europäerin avant la lettre? Und: was war Heimat für die unstete, über 20 Jahre aus Frankreich exilierte Intellektuelle, deren Besuch in Weimar im Winter 1803/04 hier in Hofkreisen, aber insbesondere auch bei Goethe, Schiller und Wieland für große Aufregung sorgte?
Zunächst zur Biographie.
Sie wurde als einzige Tochter von Jacques Necker und seiner Gattin Suzanne, geborene Curchod, 1766 in Paris geboren. Jacques Necker, dessen Vorfahren aus Pommern und Brandenburg stammten, der jedoch in der Schweiz Bankier geworden war, wurde wenig später der erste bürgerliche Finanzminister Frankreichs. Seine Frau Suzanne stammte aus einem Pfarrhaus im Schweizer Waadt-Land. Ihre Eltern waren früh verstorben, sodass ihr dank ihrer ausgezeichneten Bildung — sie hatte Latein, Griechisch und andere Sprachen gelernt, aber besaß auch naturwissenschaftliche Kenntnisse, solche der Literatur, Philosophie und Musik — ein Posten als Erzieherin im Hause einer reichen Witwe in Lausanne angeboten wurde. Sie konnte ihren Lebensunterhalt verdienen und daneben am Luzerner künstlerisch-akademischen Leben teilnehmen.
Zwischen dem schon gereiften Necker und der schönen, gebildeten Suzanne entsteht eine Neigung, die mehr den jeweiligen Nutzen der künftigen Ehe ins Kalkül zieht, als als Liebesheirat zu werten ist, damals ohnehin ein eher seltenes Phänomen. Suzanne verspricht sich von ihrem Mann ein finanziell sorgloses Leben und die Möglichkeit, in Paris einem glänzendem philosophisch-literarischem Salon vorzustehen, Necker glaubt, genau dies fehle ihm, um gesellschaftlich zu reüssieren.
Und wirklich gründet Suzanne Necker kurz nach ihrer Ankunft in Paris genau einen solchen Salon, den die berühmtesten Männer ihrer Zeit, etwa die Enzyklopädisten Diderot und D`Alembert, Buffon, Grimm und der Dichter Thomas besuchen.
Als Rousseau-Adeptin stillt sie, als Anne Louise Germaine geboren ist, die Kleine zunächst selbst, in ihren Kreisen ein im Grunde undenkbares Vorgehen. Erst als das Kind zu verhungern droht, stellt sie eine Amme ein. Ihre Erziehung ist von starken Widersprüchen gezeichnet. So spielt neben der Aufklärungsphilosophie auch die Religion eine große Rolle, die die Pfarrerstochter auch ihrer kleinen Tochter ab dem 3. Lebensjahr durch die Lektüre der Bibel und der unterschiedlichsten Andachtsbücher vermitteln möchte.
Überhaupt geht die Erziehung der Tochter bis in deren 14. Lebensjahr ausschließlich von der Mutter aus, die das Kind einerseits an sich kettet, sie aber gerade deswegen andererseits auch in ihren berühmten Salon integriert, wo die Kleine früh durch kluge Fragen auffällt und sich die gesellschaftlichen Comments quasi spielerisch aneignet, daneben aber ein durch die geistigen Anregungen stark ausgeprägtes Expansionsbedürfnis entwickelt.
Dieses Leben im Salon ist entscheidend für die Tochter und tritt quasi an die Stelle einer Heimat: Sie erfährt eine besonderes Situation, dass man sich ausschließlich wohlfühlt im Kreise von ausgezeichneten sogenannten „hommes supérieurs“, mit denen man – wohlgemerkt als Frau –auf Augenhöhe diskutiert, wobei die geistreichen, eleganten bonmots Teil des Diskurses sind und nicht nur Beiwerk. Hieraus wird Anne Louise Germaines Liebe zu Paris als geistiger Heimat resultieren, denn Paris war in ihren Augen der einzige Ort, an dem sich die Spitzengeister Frankreichs, und entsprechend des Überlegenheitsgefühls der Franzosen: damit der Welt, versammelten.
Dieser Heimatbegriff ist insofern interessant, als er sich eigentlich auf einen äußerst begrenzten Raum bezieht, der im Grunde theoretisch gerade nicht an einen bestimmten Ort gebunden ist, auf den Salon einer gebildeten Dame, die in der Lage ist, bedeutende Männer um sich zu scharen. Doch geht Anne Louise Germaine und mit ihr alle Besucher des Salons im Grunde davon aus, dass ein solcher Salon nur in Paris zu verwirklichen war. Erst aufgrund ihrer späteren Erfahrungen wird sie hierzu andere, differenziertere Gedanken entwickeln.
Natürlich wählt nicht sie ihren Ehemann, sondern sie wird verheiratet. Ab ihrem 12. Lebensjahr sinnen ihre Eltern eigentlich über nichts anderes nach, als darüber, wie sie eine möglichst vorteilhafte Partie für die Tochter einfädeln können. Sie selbst geht derweil ins Theater und schreibt ihre ersten philosophischen Traktate, die jedoch ihrer Kritik der späteren Jahre nicht mehr standhalten und von ihr vernichtet werden.
Beide Leidenschaften, die für gebildete Gesellschaft im Salon und die eher einsame des Schreibens, wird sich unsere Protagonistin lebenslang bewahren. Sie hat mit der strengen und je älter die Tochter wird, fast neurotischen Art der Mutter ihre Probleme, den Vater betet sie an, und wie auch nicht: Ab ihrem 10. Lebensjahr ist er nach dem König Louis XVI. als Finanzminister der zweitwichtigste Mann Frankreichs.
Zehn Jahre später, 1786 schließlich, findet die Hochzeit zwischen der steinreichen Ministertochter und dem auf Schulden sitzenden kleinen schwedischen Freiherrn de Staël-Holstein statt.
Die Braut sieht die Gründe für diese Verbindung illusionslos, sie wird Zugang zum Hof haben, da sie nun selbst einen Adelstitel hat, und sie wird als verheiratete Frau nun endlich ein eigenständiges Leben führen können, denn dass sie ihrem Mann anders als durch Bezahlung seiner Schulden beistehen wird, ist undenkbar für sie. Die Installierung eines eigenen Salons ist ihre wichtigste Tat zu Beginn der Ehe, und anders als der eher schöngeistig ausgelegte Salon der Mutter ruht ihr Schwerpunkt mehr auf der durch Philosophie untermauerten Politik.
Und natürlich werden ab sofort auch wechselnde Liebhaber eine Rolle spielen, etwa der schillernde Abbé Talleyrand. Mit dem schwedischen Freiherrn hat sie bald zwei Kinder, von denen das erste jedoch bald wieder stirbt.
Die Politik, das ist klar, muss die Ministertochter gerade jetzt in ihren Bann ziehen, schreiben wir doch das Jahr 1789, für die europäische Geschichte der Markstein überhaupt. Das Jahr des Sturms auf die Bastille erlebt sie begeistert mit, ist sie doch dem Ideal der Freiheit passioniert zugetan und möchte der Entwicklung derselben ihr Leben weihen.
Den mächtigen Finanzminister Necker jedoch kostet das Freiheitsbedürfnis des Volks den Posten und dazu beinahe das Leben: er wird abgesetzt und flieht nach Brüssel.
Jetzt beginnt auch für seine Tochter die Phase des Reisens. Sie wird nie wieder jene geborgene Sesshaftigkeit genießen wie vor der Revolution. Sie folgt dem Vater nach Brüssel, dann nach Basel, dann wieder heißt die Parole „Paris“, denn Louis XVI. ruft seinen Finanzminister reuig zurück. 18 Monate sollte dieser zweite Pariser Einsatz für Necker dauern. Daraufhin sieht er sich gezwungen, auf seinen Landsitz Coppet in der Schweiz am Genfer See zu flüchten, den er 1784 erworben hat.
Inzwischen hat die umtriebige Tochter einen neuen Liebhaber, den sie politisch groß machen möchte, den Vicomte Louis Narbonne-Lara. Und wirklich: Dank der Beziehungen Madames und ihrer kommunikativen Fähigkeiten gelingt es, den Vicomte 1791 als Kriegsminister unter Napoleon als Erstem Konsul berufen zu lassen. Schon jetzt hat Madame und mit ihr alle politisch Wachsamen den Eindruck, dass die Revolution mehr als gefährdet ist, und zwar in zwei Richtungen: hin zur Restauration einerseits, andererseits zur Herrschaft des Pöbels. Ein einziges probates Mittel erhoffen die Intellektuellen noch, nämlich die Verabschiedung einer Verfassung. Die Zeiten sind aber so kompliziert, dass sich Narbonne als Kriegsminister nur ein Jahr halten kann. Madame schenkt ihm derweilen einen Sohn, ihren zweiten.
Indes werden die hohen Erwartungen Madames an den Sieg von Vernunft und Freiheit getäuscht, das Terrorregime nimmt in Frankreich nun seinen Lauf. Der König wird verhaftet, ebenso Marie Antoinette. Alle Adligen und damit auch Madame sind nun gefährdet. Sie überlegt aber dennoch, wie sie der Königin zur Rettung verhelfen kann. Endlich begreift sie, dass es niemandem etwas nutzt, wenn auch sie selbst hinter Gittern landet, und sie flieht daher in die Schweiz, um ihren Freunden von hier aus beizustehen. Sie kann sowohl dem Abbé Talleyrand wie auch ihrem Geliebten Narbonne zur Flucht nach England verhelfen und findet sich wenig später ebenfalls in England wieder, doch nicht für lange Zeit, denn Narbonne beendet die Beziehung zu ihr.
Wenig später verfasst sie ihren ersten veröffentlichten Roman, „Zulma“, in welchem sie sich über die gescheiterte Beziehung zu Narbonne Rechenschaft ablegt.
Das Jahr 1793 beginnt mit der Hinrichtung Louis XVI., ein halbes Jahr später folgt ihm Marie Antoinette auf die Guillotine.
Madame de Staël verfolgt inzwischen den kometenhaften Aufstieg Napoleon Bonapartesmit allergrößtem Interesse. Sie hält ihn, ebenso wie ihren eigenen Vater und etwas später den Weimarer Dichter Goethe für einen „homme supérieur“, einen Übermenschen, einenMenschen, der aufgrund seiner moralischen wie intellektuellen Fähigkeiten allen übrigen weit überlegen ist.
1794 stirbtdie Mutter Suzanne Necker. Im gleichen Jahr noch lernt die immer noch die Beziehung zu Narbonne mühsam verdauende Madame einen nahezu gleichaltrigen Mann kennen, der schon ähnlich weit in Europa herumgekommen ist wie sie, den Schriftsteller Benjamin Constant. Der hochbegabte und frühreife Junge verfasste mit 12 Jahren seine erste Tragödie. Das mutterlose Kind war wechselweise bei den unterschiedlichsten Verwandten untergebracht worden, besuchte mit 12 Jahren in Oxford die Schule, studierte dann mit 14 in Erlangen, wo er sich auch die erste Geliebte hielt. Mit 16 Jahren dann schickte ihn sein Vater nach Edinburgh zum Studium, mit 18 erhält er den finalen Schliff seiner Ausbildung in Paris durch den Kritiker Suard. Er schnupft Opium, damals in Intellektuellenkreisen äußerst beliebt, hat Schulden und sucht mit 27 Jahren nach dem Sinn des Lebens. Im Grunde ist er Nihilist, ein Mensch, der schon alles kennt und weiß, den nichts mehr begeistern kann.
Dass Madame jedoch sich für so vieles begeistert, besonders aber für die Freiheit, (auch die Freiheit der Frau) dass für sie „raison“ und „passion“ die Schlüsselworte ihrer Existenz sind, wirkt geradezu belebend auf ihn. Er beginnt sie anzubeten. Sie hingegen findet zwar seine Gesellschaft interessant, als Mann ist er zunächst jedoch unattraktiv für sie.
1797 veröffentlicht Madame de Staël ein neues Werk, den „Essai sur les fictions“, im Jahr 1800 entsteht die Abhandlung „De la littérature“.
Nicht nur in Frankreich selbst, auch im fernen Deutschland, ganz genau: hier in Weimar, leuchtet Madames Stern bereits gewaltig auf. Goethe hat den „Essai sur les fictions“ noch im Jahr seines Erscheinens als interessanten Beitrag für die Zeitschrift „Die Horen“ übersetzt, und entsprechend rezipiert auch Schiller die Werke der Staël. Die Französin ist auch wichtig in der Korrespondenz der beiden Dichter. So schreibt Goethe an Schiller:
„Es ist äußerst interessant zu sehen, wie eine so passionierte Natur durch das grimmige Läuterfeuer einer solchen Revolution, an der sie soviel Anteil nehmen mußte, durchgeht, und ich möchte sagen, nur das geistreich menschliche an ihr übrig bleibt.“
Goethe und Madame korrespondieren ebenfalls. Das Interesse am deutschen Dichterheros weckt ihr Interesse für die deutsche Literatur insgesamt, für die deutsche Sprache und Kultur, ja letztlich für Deutschland. Im Bereich der Literatur stellt sie Goethes Werther und Rousseaus La Nouvelle Héloïse gar auf dieselbe Rangstufe, etwas Ungeheuerliches für eine nationalstolze Französin. Sie schreibt an Goethe:
„Die Lektüre des Werther hat in meinem leben Epoche gemacht wie ein persönliches Ereignis, und dieses Buch zusammen mit der Nouvelle Héloïse sind meiner Ansicht nach die beiden Meisterwerke der Literatur. Seit zwei Monaten lerne ich Deutsch, um Sie im Original zu lesen.“
Ein großes Kompliment fürwahr, doch noch ist es nicht die Reise nach Deutschland, sondern die Rückkehr nach Frankreich, nach Paris, in ihren Salon, der Heimat einer im Grunde Heimatlosen, die sie plant, wenngleich mit höchst untauglichen, ja kontraproduktiven Mitteln, sprich dem Verfassen einer politischen Flugschrift, die im Geheimen gedruckt wird und Frankreich mit der Europäischen Koalition versöhnen soll. Ein hehres Ziel, das jedoch ganz im Gegensatz zu Napoleons Hegemonialansprüchen in Europa steht.
Madame hofft allen Ernstes, mit derartigen Aktionen Napoleon für sich zu gewinnen. Er jedoch fürchtet sie und lehnt sie daher ab, er hat nämlich gehört, dass sich in ihrem Salon eine große freidenkende Opposition, bereichert etwa auch durch Freunde aus seinem Umkreis und die eigenen Verwandten, allen voran den Bruder Joseph, versammelt. Diskutiert wird meist über nichts anderes als über Politik. Da zudem in Napoleons Sicht der Dinge eine Frau ganz Frau sein sollte, reduziert auf die berühmten drei Ks, Kinder, Küche und Kirche, und er Erkundigungen über Madames Lebenswandel und ihren freidenkerischen Protestantismus eingezogen hat, so darf man sich das Ressentiment des Korsen gegen diese französische Walküre mit dem großen Vermögen im Hintergrund gar nicht groß genug vorstellen. Sie ignoriert alle Anzeichen einer solchen Ablehnung und widmet Napoleon ihre Bücher.
Seine Reaktion hierauf sollte wie ein Schlag ins Gesicht wirken: Er beginnt ab 1796 ihre Post zu überwachen. Sie reagiert nur insofern, als sie auf ihren Landsitz in die Schweiz reist. Dort erreicht sie jedoch am 22. April 1796 ein polizeiliches Mandat, das ihr den Aufenthalt in Paris unter Androhung einer Verhaftung untersagt. Das Exil.
Hier wären einige Überlegungen zum staatsbürgerlichen Status Madames angebracht, den es so jedoch im 18. Jahrhundert gar nicht gibt. Wir können sie vielleicht als eine Person mit mehreren Staatsbürgerschaften ansehen, insofern ihr Vater, ein gebürtiger Preuße und später Schweizer, einmal französischer Minister war und der französischen Regierung sehr viel Geld geliehen hatte. Da die Familie darüberhinaus zahlreiche Immobilien in Paris und Umgebung besaß, muss Madame jedenfalls auch als Französin gegolten haben, wenngleich sie rein rechtlich als Frau des schwedischen Freiherrn de Staël-Holstein vielleicht auch einen schwedischen Pass besaß. Vielleicht werden aber all diese äußeren Aspekte nur wenig gegolten haben angesichts des Vorwurfs, den Napoleon der de Staël machte, nämlich eine Opposition gegen ihn um sich zu scharen, und vielleicht handelte er einfach gar nicht aufgrund von rechtlichen Verbindlichkeiten, sondern durch das Recht des Stärkeren. Hier können wir nur spekulieren. Fakt ist, dass Napoleon Madame bis zu seiner Abdankung 1814 das Recht auf ihre Heimat in Paris untersagte, und zwar durch immer wieder neu aufgelegte Exilierungen, die Androhung der Verhaftung etc..
In der jetzigen Situation, 1796, bittet sie Napoleon um Gnade und erhält Ende desselben Jahres immerhin ein Aufenthaltsrecht in Frankreich, mit Ausnahme allerdings von Paris.
Doch was bedeutet ihr Frankreich ohne Paris? Für die Intellektuelle zwischen ancien régime, Revolution und Restauration wird es – so obstinat ist sie – ab sofort immer nur der Salon sein, in dem sie sich aufhält und der durch ihre Anwesenheit Glanz erhält, der ihre Heimat sein sollte. Zumeist war es ein Salon, den sie selbst aufbaute, doch in einem Falle sollte sie überrascht verwandte Strukturen an einem Ort vorfinden, wo sie es am wenigsten erwartete. Wir erraten, wo das sein wird.
Vorderhand intensiviert sich ihre Korrespondenz mit Goethe, damit wächst bei Madame auch ihre Liebe zu Deutschland, das sich bisher nur in der Literatur, und radikaler zugespitzt: in Goethes Werk, komprimiert (und sicherlich hat die Tatsache, dass Madames literarisches und philosophisches Werk in Deutschland stark und positiv rezipiert wird, gerade auch durch Goethe und Schiller, auch einen Anteil an dieser wachsenden Liebe).
Am 22. April 1797 freut sich Madame über ein Widmungsexemplar des Wilhelm Meister, das Goethe ihr zusendet. Leider kann sie zu diesem Zeitpunkt noch nicht genug deutsch, um das Buch im Original lesen zu können. Die briefliche Beziehung zu Goethe verdrängt kann aber immer noch nicht die im Grunde durch Kommunikation wenig ausgelebte Beziehung zu Napoleon verdrängen, für den die starrsinnig ihre revolutionären Ideale weiterverfolgende und die Hegemonialansprüche des Ersten Konsuls boykottierende Bankierstochtermehr und mehr zum Dorn im Auge wird.
Im gleichen April 1797, in dem sie so glücklich auf die Zusendung des Meisters reagierte, ist gleichzeitig ihre politische Hoffnung für Frankreich und damit auch für die Zukunft ihres Pariser Salons geschwunden. Sie erwartet ab sofort – und wird damit recht behalten – „eine Monarchie, die despotischer ist als die von 1788.“ Wenig später, der Verbannungsbefehl war für kurze Zeit aufgehoben worden, kommt in Paris Madame de Staëls 4. Kind, ein Mädchen, Albertine, zur Welt, mit seinen roten Haaren deutlich als Sproß aus der Verbindung zu Benjamin Constant zu erkennen. Doch Mutterfreuden mochten die streitbare Liebhaberin der Freiheit nie lange zu beschäftigen. Gemeinsam mit Benjamin Constant begibt sie sich in Opposition zu den Royalisten und versucht, die Ideale der gescheiterten Revolution und damit in ihren Augen der Aufklärung in das neue Jahrhundert hinüberzuretten. Erneut wird der Mann an ihrer Seite auch zu einer Schachfigur in ihrem Strategiekonzept: Benjamin Constant soll Karriere machen, denn immer noch hält Madame es für möglich, den Ersten Konsul von ihren lauteren Idealen zu überzeugen, ihn für sich zu gewinnen, zumal sie eng mit seinem Bruder Joseph befreundet ist. Immer noch verkennt Madame also Napoleons Machtstreben, das ihn weit entfernt von jedwedem abstrakten Ideal, zumal dem der Freiheit. Doch das Unmögliche gelingt: Auf Josephs Betreiben wird Benjamin Constant tatsächlich als Tribun in die Regierung berufen. Er glaubt, in diesem Amt die Regierung Napoleons kontrollieren zu können, doch schon wenige Tage nach Amtsantritt hat Madames wichtige Schachfigur nur noch Feinde, und damit sie selbst nicht minder.
Erst dieser Konflikt leitet ein irreversibles Umschlagen der einstigen Bewunderung des „homme supérieur“ Napoleon bei Madame ein, die ab sofort Hass gegen ihn empfindet, ein Gefühl, das durchaus gegenseitig ist. Napoleon sollte seine Gefühle in diese Worte kleiden:
„Man behauptet, daß sie weder über Politik noch über mich spricht; aber irgendwie trifft es sich immer, daß man mir weniger zugetan ist, wenn man mit ihr zusammen war.“
Im 19. Jahrhundert sprach man von dem Konflikt des ungleichen Paars als dem Kampf zwischen Esprit und Säbel.
Natürlich wird Madame erneut aus Frankreich ausgewiesen, ihr Salon war für Napoleon viel zu gefährlich, eine Keimzelle künftigen Umsturzes. Madame zieht auf ihren Schweizer Landsitz Coppet und gestaltet den Ort sowohl zum Zentrum des Widerstandes gegen Napoleon wie auch zum Musenhof nach Weimarer Vorbild, indem sie alle ihre kreativ begabten und philosophisch gebildeten oder politisch aktiven Freunde einlädt und in ihrer Mitte Hof hält. Platz ist genug da, und Geld eben auch. Man liest gemeinsam die neuesten Schriften, spielt Theater, musiziert und diskutiert die neuesten politischen und philosophischen Entwicklungen.
Anders als die Herzogin Anna Amalia in Weimar, die eine Erfüllung in kulturellem Tun verspürt, ist für Madame ihr Tun oft wenig mehr als eine dürftige Ersatzhandlung: Ihre Heimat waren die Netzwerke von Paris, sie glaubte, eine wichtige Funktion dort auszufüllen. Diese Heimat ist ihr nun verboten, insofern kann Coppet nur ein schwaches Surrogat sein.
Anders das Schreiben. Madame arbeitet jetzt an einem Briefroman, Delphine, der massiv an den neu eingerammten Pfeilern der napoleonischen Staatsmoral rütteln sollte: Sie propagiert in ihm die Ehescheidung als einziges Mittel in desperaten Eheverbindungen und preist die freie, wahrhaftige Liebe, die über allem stehe, dazu natürlich die Ideale der Französischen Revolution. Der Roman spielt in den ach so glücklichen Zeiten von 1790-92, erscheint hingegen in einer historisch völlig veränderten Zeit, 1802. Auch in Weimar wird Delphine sofort rezipiert, und auch hier identifiziert man die Autorin mit der Heldin. Trotz all ihrer Vorbehalte glaubt Madame nach wie vor, mit dem neuen Buch Gnade vor den Augen Napoleons zu finden und die Erlaubnis zu erhalten, wieder nach Frankreich zurückkehren zu dürfen, ein verhängnisvoller Irrtum.
1802: Dies ist auch das Jahr, in welchem Benjamin Constant aus dem Tribunat ausgestoßen wird und Napoleon der Konspiration mit den Generälen Bernadotte und Moreau angegriffen wird. Baron de Staël, bislang immer noch der offizielle Ehemann Madames, war fast unbemerkt im selben Jahr gestorben. Hingegen schäumte Napoleon, als er die letzte Veröffentlichung von Madames Vater, des alten Necker, studierte, in der dieser die neue Verfassung und die Konzentration der Macht auf die Armee kritisierte, die diese vorsah. Napoleon sollte so reagiert haben: „Niemals darf Neckers Tochter nach Paris zurückkehren.“
Die dauernde Ausweisung ist jetzt so gut wie sicher, wenngleich Madame sie immer noch nicht wahrhaben möchte und weiter tapfer dagegen kämpft. Doch gleichzeitig, vielleicht von ihrem Instinkt geleitet, korrespondiert sie mit allen Kontaktpersonen in Deutschland und den Deutschen im Ausland, die sie kennt.
1803, im September, muss sie dringende Finanzangelegenheiten in Paris klären und besucht die Stadt, heimlich, wie sie glaubt. Doch Napoleons Spitzel haben sie genau beobachtet, und der Erste Konsul fordert sie umgehend auf, Paris bis zum 7. Oktober zu verlassen. Am 8. Oktober schreibt sie ihm:
„Wenn Sie wollen, daß ich Frankreich verlasse, lassen Sie mir einen Pass für Deutschland ausstellen und geben Sie mir eine Woche Zeit in Paris, um mir für meine Reise Geld zu beschaffen und mit meiner sechsjährigen Tochter, die die Fahrt überanstrengt hat, einen Arzt aufzusuchen…“
Am 13. Oktober 1803 identifiziert Madame in ihrem Garten einen Gendarmen. Sie hat zwei Tage zuvor durch Napoleon den Befehl erhalten, Paris und seinen Umkreis innerhalb von 40 Meilen zu verlassen. Sie war geblieben. Drei Tage später steht ihr Reiseplan.
Sie möchte nach Deutschland, das Land, das anders ist, indem die Ideale blühen, vielleicht keine neue Heimat, aber doch ein neuer geistiger Horizont und nur der könnte die Voraussetzung für eine neue Heimat sein …
Madame de Staëls Kampf wird weitergehen, mit Hilfe der Ideale der Deutschen und ihrer Vertreter, der deutschen Autoren und Philosophen, Kant, Fichte, Goethe, Herder, Schiller und Wieland. Sie weiß es genau: Sie und nur sie kann die Autorin eines Buchs über Deutschland werden, dieses Land der Phantasten, die so anders sind als die Franzosen. Es wird erstmals ein Buch sein, das sich bewusst gegen Napoleon wendet, den pragmatischen Töter aller Ideale, den Gewaltmenschen, der ihre Hilfe so lange vehement zurückgewiesen hatte.
Ironischerweise ist es Joseph Bonaparte, sein Bruder, der sie mit Pässen und Empfehlungsschreiben für Deutschland, all die vielen Kleinstaaten, die es zu durchreisen gilt, ausstatten wird.
Am 24. Oktober 1803 rollte die Kutsche mit Madame, Benjamin Constant, den Kindern Auguste und Albertine (Albert blieb im Genfer Pensionat), dem neuen deutschen Hauslehrer Bosse und einigen Dienstboten in Richtung Osten ab.
Die Rheingrenze wirkt auf sie wie ein feierlicher Übertritt, das Verlassen Frankreichs jetzt, im nahenden Winter, ist hart für sie. Die Route führt sie über Frankfurt, wo aufgrund der Scharlacherkrankung Albertines eine längere Pause eingelegt werden muss. Es folgen die Stationen Fulda und Gotha, bis sie schließlich, es ist schon Dezember, in Weimar ankommt.
Schon die bevorstehende Ankunft Madames erregt in Weimar die Gemüter. Goethe verzieht sich vorsichtshalber in sein Alternativquartier nach Jena, denn Madame erschien ihm bereits als Korrespondentin reichlich anstrengend, und Schiller fragt sich ängstlich, ob er denn in der Lage wäre, seine ästhetischen Ansichten in einem passablen Französisch zu präsentieren, sodass nicht alle Inhalte falsch kolportiert würden. Zitat Schiller:
„Frau von Staël ist wirklich in Frankfurt, und wir dürfen sie bald hier erwarten. Wenn sie nur Deutsch versteht, so zweifle ich nicht, dass wir bald über sie Meister werden, aber unsre Religion in französischen Phrasen ihr vorzutragen und gegen ihre französische Volubilität aufzukommen, ist eine zu harte Aufgabe.“
Am 14. Dezember 1803 kommt sie in Weimar an und besucht sogleich das deutschlandweit bekannte Theater. Am nächsten Tag macht Herzog Carl August persönlich seine Aufwartung bei ihr im Gasthof und lädt sie für den Abend zu Hofe: Er selbst, seine Frau Louise und seine Mutter Anna Amalia kennen sie über ihre Bücher, schätzen sie und suchen ihre Gesellschaft. Überdies spricht man französisch, was Madame glücklich registriert. Und zudem ist der Weimarer Hof ganz nach ihrem Geschmack, gesellig, kunst- und kulturorientiert, offen gegen Bürgerliche, eine Seltenheit immer noch.
Zitat Madame de Staël: „Man muss Gesellschaft haben, um gescheit zu sein, Gesellschaft um zu lieben, für alles braucht man Gesellschaft … sobald man zu zweit ist, hat man das Bedürfnis nach viel mehr Menschen.“
Ein Vorurteil war ihr vorausgeeilt, sie sei ein Mannweib, bar jeder weiblichen Anziehungskraft, doch dies bestätigt sich in Weimar nicht in vollem Umfang. Sie ist keine Grazie, zugegeben, doch besticht sie durch ihre Empfindsamkeit, ihre Menschenfreundlichkeit und ihr Interesse, so der immer die Neuankömmlinge beschreibende Hofrat Böttiger.
Madame hatte schon vor der Reise entschieden, warum sie nach Deutschland reisen wollte: Zur Abfassung ihres Buchs über Deutschland. Letztlich reiste sie zur Verifizierung ihrer bereits in Frankreich gefassten Gedanken über das seltsam idealistische Land.
In kürzester Frist trifft sie Wieland und Schiller. Herder liegt leider im Sterben. Doch wo ist Goethe, wegen dem sie doch eigentlich gekommen ist, wo bleibt er? Man sagt ihr, er sei in Jena. Auf ihren Wunsch, ihn dort zu besuchen, reagiert er abwehrend, das Wetter sei zu widrig, er werde selbst kommen, sobald es ihm möglich sei.
Goethe glaubt, seine geistigen Kräfte zusammennehmen zu müssen, er ist 54 Jahre alt, sie 37. Er hat keine Lust, sich von einem verbalen Lavastrom überrollen und aus seinem Arbeitsprogramm herausbringen zu lassen und bittet daher Schiller, ihn zunächst zu vertreten. Schiller erstattet Goethe Bericht über den französischen Besuch:
„Frau von Staël wird Ihnen völlig so erscheinen, wie Sie sie sich a priori schon konstruiert haben werden; es ist alles aus einem Stück und kein fremder, falscher und pathologischer Zug in ihr … In allem, was wir Philosophie nennen, folglich in allen letzten und höchsten Instanzen ist man mit ihr im Streit und bleibt es, trotz allen Redens … Sie will alles erklären, einsehen, ausmessen, sie statuiert nichts Dunkles, Unzugängliches, und wohin sie mit ihrer Fackel leuchten kann, da ist nichts für sie vorhanden.“
Mit knappen Sätzen ist hier der große Gegensatz zwischen dem kanonischen cartesianischen französischen Denken und dem des deutschen Idealismus bezeichnet. Grund genug, Goethe aus Weimar zu vertreiben, da er befürchtet, falsch verstanden oder zumindest falsch kolportiert zu werden. Er zögert sein Kommen hinaus, die De Staël wartet ungeduldig. Kurz vor Weihnachten trifft er im Haus am Frauenplan ein und lädt die französische Besucherin für den 24. Dezember 1803 in sein Haus, Benjmain Constant incognito ebenfalls.
Antstatt jedoch zu jubilieren über diesen Erfolg, diese Begegnung, dieses Gespräch, zeigt sie sich enttäuscht, denn der, den sie da trifft, Goethe, ist keineswegs die Inkarnation des Werther, wie sie die Inkarnation der Delphine zu sein glaubt . Zitat:
„Goethe verdirbt mir das Ideal Werther ziemlich. Er ist ein fetter Mann ohne Physiognomie. Er will ein wenig Weltmann sein, aber das taugt nichts, wenn es nur halb geschieht, und er hat keinerlei Empfindsamkeit im Blick noch in der Anlage seines Geistes oder in seinen Sitten: doch im übrigen ist er sehr stark, was die Ordnung seiner literarischen und metaphysischen Gedanken angeht, die ihn beschäftigen.“
Von der Desillusionierung unbeirrt arbeitet Madame dennoch am Zustandekommen weiterer Zusammentreffen und versucht, sich dem Olympier, aber auch Schiller und Wieland anzunähern, natürlich immer auch den Hofeinladungen zu folgen, die sie erfreuen. Im wesentlichen geht es ihr darum, möglichst viele der literarischen, ästhetischen und philosophischen Anschauungen aufzusaugen, die die Weimarer Dichter-Philosophen ihr eigen nennen, denn für ihr Buch über Deutschland braucht sie möglichst viel Material. Aus diesem Grunde besucht sie auch die Jenaer Professoren, allen voran Fichte, dessen Theorie sie jedoch in ihrer Art in böser Verkürzung darstellt.
Madame profitierte also von ihren zahlreichen persönlichen Kontakten, um dieses Buch zu verfassen, das erst 1813 erscheinen sollte. Doch wir greifen vor. Sie reist im Frühjahr 1804 weiter nach Berlin, doch empfindet sie den Hof dort als äußerst dekadent, nicht vergleichbar mit Weimar. Die einzige Bekanntschaft dort, die ihr für die Zukunft von Nutzen sein sollte, ist die mit August Wilhelm Schlegel, den sie ab sofort als Hauslehrer und gleichzeitig persönlichen Redakteur ihres Buchs engagieren sollte. Auf der Rückreise nach Weimar erreicht sie die Nachricht vom Tode ihres Vaters.
Madame ist untröstlich, und sie kann nicht zurück nach Frankreich kehren und beschließt daher, nach Italien zu reisen, wo ihr wichtigster Roman entstehen soll, Corinne ou de l`Italie, ihr wohl gelungenster und erfolgreichster Roman, den sie 1806 fertigstellt.
Ab 1807 dann beginnt sie mit der Abfassung des Buchs über Deutschland, lediglich eine Reise nach Wien mit Abstechern nach München und Teplitz, als ihre 2. Deutschlandreise bekannt, unterbrechen diese Schreibphase.
1809 verlässt Benjamin Constant die langjährige Gefährtin, Grund: Er heiratet.
1810 dann soll De L`Allemagne erscheinen. Es ist das Jahr, in welchem Napoleon besonders hart gegen alle Oppositionellen auftritt. Doch Madame fühlt sich nichtdaran gehindert, ihr neues Buch wie schon alle zuvor dem Kaiser zu widmen, in dem Glauben, die Lektüre eines Werks, in dem der „grande nation“ das verträumte Deutschland des Geistes entgegengestellt wird, könnte seine Meinung über die Autorin positiv verändern.
Am 26. September 1810, die letzten Korrekturen am Buch sind gemacht, die Liste der ihr werten Empfänger des Buchs ebenfalls, erfährt Madame, dass neue Zensuren des bereits zensierten Werks drohen. Sie soll zudem das Land binnen dreier Tag verlassen und gleichzeitig das zugrundeliegende Manuskript abgeben. Die 5000 frischgedruckten Exemplare werden von der Polizei eingestampft, der Verleger ist damit ruiniert. August Wilhelm Schlegel, der seiner Brotherrin die Treue gehalten hat, konnte jedoch ein Korrekturexemplar retten, sodass das Napoleon verhasste Buch 1813 in England erscheinen kann, das Buch einer Exilierten also ebenfalls als Exilant.
Im Vorwort schreibt sie:
„Es ist, glaube ich, von Wichtigkeit für mich, das Publikum mit diesem verleumdeten Buch bekannt zu machen, das so vieler Leiden Quelle für mich wurde, und obgleich General Savary mir in seinem Briefe erklärt hat, daß dies Werk kein französisches sei, so will ich, mit eben der Überzeugung, mit welcher ich ihn nicht als Repräsentanten von Frankreich anerkenne, den Franzosen, wie ich sie sonst gekannt habe, eine Schrift vertrauensvoll überreichen, in welcher ich, nach den mir verliehenen Kräften, gesucht habe, den Ruhm der Arbeiten des menschlichen Geistes zu erhöhen.“
Und weiter schreibt sie, ebenfalls im Vorwort: „Bei alledem glaube ich, daß man mir eben nicht Schuld geben kann, Frankreich nicht zu lieben. Nur zu sehr habe ich gezeigt, wie sehnsuchtsvoll ich an einem Aufenthalt hänge, wo ich noch so viel Gegenstände meiner Neigung zähle, und die so liebenswürdig finde, die ich liebe.“
Für ihre Verfolger folgt jedoch, anders als für Madame selbst, dass die Liebe zum eigenen Land unabdingbar die Verachtung aller anderen Länder beinhaltet. Madame hingegen bewundert England, da es Europa gegen Anarchie und Despotismus geschützt hat, und nun bewundert sie auch Deutschland, aus welchen Gründen, wird sogleich dargelegt.
Das Buch ist in vier Sektionen aufgeteilt:
1)Sitten und was den Deutschen daran noch mangelt
2)Literatur
3)Philosophie und Moral
4)Religion und Enthusiasmus
Es vermittelt ein ganz bestimmtes Deutschlandbild nach Frankreich, das bald im gesamten europäischen Ausland bekannt sein sollte und bis in die Mitte des 20. Jahrhunderts die Grundlage der Deutschlandsicht der Franzosen darstellte.
Eine wichtige, in diesem Buch immer wieder vorgetragene These ist die von den Deutschen als gefühlvollen Denkern, die jedoch ohne große Energie in einer gewissen Apathie verharrten. Diese Sicht wird von de Staël antithetisch gegen das napoleonische Frankreich konstruiert, das in ihren Augen zwar tatkräftig, doch gedankenarm war. Natürlich musste eine solche Verkürzung den Hass Napoleons und seiner Zensurbeamten auf sich ziehen. Und außerdem war diese Sicht grundfalsch, wie sich spätestens 1870 zeigen sollte.
Wohlgemerkt: Madames Deutschlanderfahrungen waren keineswegs flächendeckend, neben den Stationen der Hinreise und dem Weimarer Hof wird sie im Frühjahr 1804 dann noch Berlin kennenlernen, das jedoch in ihren Augen deutlich gegen Weimar abfällt. Insofern kann man sagen, dass ihre Erfahrungen Mitteldeutschlands, speziell Weimar und Jenas ihr gesamtes Deutschlandbild prägten.
Wohlgemerkt: Auch Aktualität lag unserer Autorin nicht am Herzen, denn wohlweislich stellte sie 1813 eine Situation dar, die zehn Jahre vorher bestanden hatte, während des napoleonischen Eroberungszuges. Auch daher stieß sie bei vielen Lesern gerade in Deutschland, interessanterweise vorwiegend bei Frauen, etwa Rahel Varnhagen und Bettina von Arnim, Betty Gleim und vielen anderen, auf starke Kritik. Goethe hingegen sah das Buch der Französin als sehr positiv an:
„Jenes Werk über Deutschland, welches seinen Ursprung dergleichen geselligen Unterhaltungen verdankte, ist als ein mächtiges Rüstzeug anzusehen, das in die Chinesische Mauer antiquierter Vorurteile, die uns von Frankreich trennte, sogleich eine breite Lücke durchbrach, sodaß man über dem Rhein und in Gefolg dessen über dem Kanal endlich von uns nähere Kenntnis nah, wodurch wir nicht anders als lebendigen Einfluß auf den ferneren Westen zu gewinnen hatten. Segnen wollen wir also jenes Unbequeme und den Konflikt nationeller Eigenthümlichkeiten, die uns damals ungelegen kamen und keineswegs förderlich erscheinen wollten.“
Noch 1835 findet das Buch in Heinrich Heine einen ganz massiven Kritiker (Die romantische Schule). Er beklagt die vielen Verkürzungen und das zu sehr lobende Deutschlandbild.
Im Leben Madames, das sie seit 1813 im Londoner Exil fortsetzt, natürlich wieder in einem von ihr gegründeten illustren Salon, gab es nochmals einen neuen Mann und ein fünftes Kind. Gesundheitliche Probleme nehmen zu, wohl auch aufgrund des ständigen Opium-Konsums.
1814 endlich, als Napoleon abgedankt ist, kann sie in die so lange entbehrte Heimat Frankreich zurückkehren.
Am 14. Juli 1817 stirbt sie im Alter von 51 Jahren an den Folgen eines Schlaganfalls.
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