Lou Andreas-Salomé – eine Femme fatale?

mädchen silhouette zurück hut frau porträt person, Quelle: thatsphotography, Pixabay License Freie kommerzielle Nutzung Kein Bildnachweis nötig

Lou Andreas-Salomé (1861 – 1937) wurde als Schriftstellerin, Philosophin und Psychoanalytikerin bekannt. Die andauernde Faszination ihrer Persönlichkeit und ihres Werkes spiegelt sich in fast 20 Biographien und ausführlichen Porträts in Sammelbänden. Der Verlag Welsch-Edition veröffentlicht gerade eine Werkausgabe von 18 Bänden. Das bis ins 21. Jahrhundert fortgesetzte Interesse wird nicht unwesentlich durch ihren legendären Ruf als „Femme fatale“ stimuliert. Aktuelle Darstellungen der letzten Jahre verleihen ihr dieses „Prädikat“ (Lütkehaus 2002, 2011; von Arnim 2006; Leibold 2016; Buckard 2016; Pop 2018).

Die ersten englischsprachigen Biographien über Lou Andreas-Salomé von Rudolph Binion und H.F. Peters widmeten sich bereits ausführlich ihrem Liebesleben. In der ersten deutschsprachigen Übersetzung der Peters-Biographie (Kindler 1964, Heyne 1989) steht die Chiffre „Femme fatale“ bereits auf der Rückseite im Klappentext. Die Folge-Ausgabe aus dem Jahr 1995 trägt den Untertitel „Femme fatale und Dichtermuse.“ In Biographien und Artikeln taucht seit der Peters-Biographie immer wieder die Bezeichnung „die Hexe vom Hainberg“ auf (Peters 1964; Gunnar Decker 2002; Kerstin Decker 2011). Der Hainberg war jahrzehntelang die Wohngegend von Lou Andreas-Salomè in Göttingen. Die Dämonisierung des Weiblichen als Hexe hat ähnliche Sterotype wie die der Femme fatale: beide stellen eine Bedrohung des Männlichen dar und stimulieren Ängste des Mannes vor der gefährlichen Frau.

In ihrer Jugendzeit schon erhielt Lou ihren ersten Heiratsantrag von einem deutlich älteren verheirateten Mann. Er kam von Hendrik Gillot, ihrem Pfarrer und Philosophielehrer. Es folgten Heiratsanträge der Philosophen Friedrich Nietzsche und Paul Rée, des Schriftstellers und Landtagsabgeordneten Georg Ledebour und des Arztes Friedrich Pineles. Lou hat all diese Heiratsanträge zurückgewiesen.

Aber wie und warum hat sie diesen älteren Männern den „Kopf verdreht“? Wodurch wurde sie so begehrenswert? Sie war schön und klug. Das lobten viele. Bis in ihr viertes Lebensjahrzehnt hielt ihre Sexualverweigerung an. Askese statt Leidenschaft? Oder der Triumph des Intellekts? Die Dominanz des Geistigen über das Triebhaft-Körperliche?

Sigmund Freud, dessen jahrzehntelange „Mitdenkerin“ und Vertraute sie war, attestierte ihr eine „gefährliche Intelligenz“ (Csef 2020). In ihrem 26. Lebensjahr erhielt sie einen erneuten Heiratsantrag, den sie ablehnte wie alle anderen Heiratsanträge zuvor. Doch dann kam eine dramatische Wende: der sie umwerbende Friedrich Carl Andreas rammte sich in ihrer Gegenwart ein langes Messer in die Herzgegend, um seinem Begehren Nachdruck zu verleihen. Die erschrockene und aus der Fassung geratene Lou ließ sich so zur Heirat drängen – allerdings unter der bemerkenswerten Bedingung, dass es zu keinen sexuellen Aktivitäten käme. Sie ging als Jungfrau in diese „Ehe ohne Sex“, die immerhin 43 Jahre „hielt“. In ihrem 4. Lebensjahrzehnt startet dann das „Deflorationsprojekt“ (Lütkehaus 2011). Die sehr zahlreichen Biographen rätseln, ob der Lyriker Rainer Maria Rilke, der Arzt Friedrich Pineles oder der Reichstagsabgeordnete Georg Ledebour der „erste Mann“ im Sexualleben von Lou Andreas-Salomé waren. Vermutlich war es Rilke.

Mit diesem sexuellen Initiationserlebnis wandelte sich das Sexualleben von Lou Andreas-Salomé drastisch. Nicht sie wurde weiterhin nicht mehr von älteren Männern begehrt und bedrängt, sondern sie wählte sich deutlich jüngere Männer als außereheliche Sexualpartner aus. Dabei bevorzugte sie Ärzte und Psychoanalytiker. Diese Liebesaffären wurden meist von Lou Andreas-Salomé abrupt beendet, dauerten allerdings wie bei Rilke etwa vier Jahre und bei Friedrich Pineles immerhin zwölf Jahre lang. Dieses extravagante Liebesleben brachte ihr den legendären Ruf, eine Femme fatale zu sein. Unter den von ihr oft sehr drastisch, abrupt oder brutal erzwungenen Trennungen und Beziehungsabbrüchen haben ihre männlichen Liebespartner sehr gelitten. Friedrich Nietzsche war extrem gekränkt und verarbeitete seinen Liebeskummer in seinem berühmt gewordenen Werk „Also sprach Zarathustra“. Paul Ree war tief verletzt, als er von den Heiratsabsichten Lous erfuhr und ist einige Jahre nach der Trennung tödlich verunglückt oder hat sich suizidiert. Ebenfalls durch Suizid starb ihr früherer Liebespartner Victor Tausk. Der Liebespartner Poul Pierre berichtete von großen Trennungsschmerzen. Der Dichter Rainer Maria Rilke sprach in seinem Abschiedsgedicht vom „Abgrund, der mich verschlang“. (Csef 2021).

In fast allen Liebesbeziehungen ging die Trennung von Lou Andreas-Salomé aus. Sie vollzog diese direkt, abrupt oder „brutal“. Ihre männlichen Liebespartner waren die Verlassenen oder Leidtragenden. Lou hingegen sprach von ihrem „entriegelten Freiheitsdrang“. In ihrem posthum herausgegebenen Tagebuch des Jahres 1912/13 unter dem Titel „In der Schule bei Freud“ hat sich Lou Andreas-Salomé mehrmals zum Thema von Treue und Untreue geäußert. Dabei vertrat sie apodiktisch folgende Thesen:

„Untreue ist kein Verrat! Untreue ist Heimkehr zu sich selbst.“

Die folgenden zwei Aussagen von Lou Andreas-Salome zur Untreue werden häufig zitiert:

  • „Es ist weder Schwäche noch Minderwertigkeit zum Erotischen, wenn es seiner Art nach auf Gespanntem mit der Untreue steht, vielmehr bedeutet es an ihm das Abzeichen seines Aufstiegs zu noch weiteren Zusammenhängen.“
  • „Ich bin Erinnerungen treu: Menschen werden es niemals sein.“

Hendrik Gillot – der erste Heiratskandidat

Hendrik Gillot war Theologe, protestantischer Pastor und Philosophielehrer von Lou Andreas-Salomé. Er stammte aus den Niederlanden, war Pastor der Niederländischen Gesandtschaft in Petersburg und gleichzeitig Hauslehrer der Kinder des Zaren. Er brachte Lou die Philosophie von Immanuel Kant, Sören Kierkegaard, Jean-Jaques Rousseau, Voltaire, Gottfried Wilhelm Leibniz, Johann Gottlieb Fichte, Baruch de Spinoza und Arthur Schopenhauer nahe. Lou wuchs

zu einer hübschen jungen Frau heran und war im Geiste außergewöhnlich scharfsinnig und brillant. Gillot verliebte sich immer mehr in sie. Er machte ihr schließlich einen Heiratsantrag, obwohl er selbst verheiratet und Familienvater von Kindern war. Lou war über dieses Begehren ihres Lehrers extrem schockiert und wendete sich abrupt ab. Kurze Zeit später reiste sie mit ihrer Mutter in die Schweiz und begann dort ein Philosophie- und Theologiestudium. Die Beziehung mit dem Pastor Hendrik Gillot hat Lou Andreas-Salomé im Jahr 1886 wieder aufgenommen, nachdem sie sich mit Friedrich Carl Andreas verlobt hatte. Ihre Entscheidungskonflikte hat sie in einem Briefwechsel mit ihrem ehemaligen Pastor ausgetauscht. Die kirchliche Trauung mit Friedrich Carl Andreas im Jahr 1887 erfolgte schließlich in einer kleinen Kirche in den Niederlanden durch Hendrik Gillot.

Friedrich Nietzsche und Paul Rée – befreundete Philosophen mit Heiratsabsichten. Fallstricke einer Ménage à trois.

 Im Jahr 1882 lernte Lou Andreas-Salomé auf einer Reise nach Rom den Philosophen Friedrich Nietzsche persönlich kennen. Ihre Schönheit und Ausstrahlung faszinierten Nietzsche von Anfang an. Zusätzlich bewunderte er ihre umfassende philosophische Bildung und ihr eigenständiges, selbstbewusstes Denken. Diese beiden Phänomene stimulierten wesentlich das Begehren von Friedrich Nietzsche. Er lobte Lou in einem Brief an den befreundeten Komponisten Peter Gast mit den Worten:

„Lou ist scharfsinnig wie ein Adler und mutig wie ein Löwe.“

Nietzsche war in dieser Zeit mit dem Philosophen Paul Rée befreundet. Dieser war – mehr oder weniger heimlich – ebenfalls in Lou Andreas-Salomé verliebt. Die „drei Philosophen“ träumten von einer „philosophischen Wohngemeinschaft“ und einer besonderen „Dreieinigkeit“. Das geistige Band, das die drei Philosophen verband, wurde immer mehr durchsetzt von einer leidenschaftlichen „Ménage à trois“. Die beiden Männer Friedrich Nietzsche und Paul Rée waren beide in Lou Andreas-Salomé verliebt Sie kommunizierten jedoch ihre Rivalität und ihre Interessenskonflikte nicht offen. Schließlich war es der impulsive Friedrich Nietzsche, der einen Schritt weiterging und Lou einen Heiratsantrag machte. Von da an war die „Dreieinigkeit“ dahin – die drei Beteiligten verloren ihr Gleichgewicht. Lou war ja zu dieser Zeit noch sexuell vollkommen unerfahren und lehnte Nietzsches Heiratsantrag sofort ab. Dieser war tief gekränkt. Zusätzliche Verwirrungen und Zerwürfnisse kamen durch Nietzsches Schwester Elisabeth Förster-Nietzsche.

Die von Nietzsche hoffnungsvoll und stürmisch entworfene Liebesbeziehung war nach wenigen Monaten zu Ende. Die Liebe schlug um in Hass. Zuletzt beschimpfte Nietzsche Lou mit den Worten: „Dieses störrische schmutzige Äffchen mit ihren falschen Brüsten – ein Verhängnis!“

Ganz anders verhielt sich der sehr einfühlsame und gefühlvolle Paul Rée. Mit großer Empathie durchlebte er die Konflikte und blieb an der Seite von Lou Andreas-Salomé. Er behielt jahrelang seine „trügerischen Hoffnungen“. Paul Rée zog mit Lou Andreas-Salomé nach Berlin und sie gründeten dort einen neuen erweiterten Philosophenkreis.

„Vergiss die Peitsche nicht!“

Noch während ihrer gemeinsamen Anfangszeit der „Dreieinigkeit“ in der Schweiz kam es zu einem Foto, das in Luzern aufgenommen wurde. Die Inszenierung hierzu ging von Nietzsche aus. Dieses Foto ist international das wohl bekannteste Bild von Nietzsche und Lou Andreas-Salomé. Es zeigt Friedrich Nietzsche und Paul Rée, die einen Wagen ziehen, in dem Lou Andreas-Salomé mit einer Peitsche schwingend sitzt. Nietzsche hat die großen Kränkungen durch die Zurückweisung seines Heiratsantrages von Lou Andreas-Salomé in seinem epochalen Werk „Also sprach Zarathustra“ verarbeitet.

„Du gehst zu Frauen? Vergiss die Peitsche nicht!“. In der gesamten Nietzsche- und Salome-Rezeption wird das Schweizer Foto aus dem Jahr 1882 mit dem Werk „Also sprach Zarathustra“ und mit der „Nietzsche-Salomé-Beziehung“ verknüpft. Carol Diethe (2000) hat dieser Rezeptionsgeschichte eine ausführliche Monographie gewidmet.

Erzwungene Heirat in Berlin – die merkwürdige Ehe mit Friedrich Carl Andreas.

Lou Andreas-Salomé ist nach den Zerwürfnissen mit Friedrich Nietzsche nach Berlin gereist. Dort lebte sie mit Paul Rée und beide fanden einen neuen Kreis von Philosophen. Zu diesem gehörten der Psychologe Hermann Ebbinghaus, der dänische Literaturhistoriker Georg Brandes, der Soziologe Ferdinand Tönnies, der Historiker Hans Delbrück und die Philosophen Paul Deussen, Heinrich Romundt und Heinrich von Stein. Paul Rée und Lou Andreas-Salomé lebten in dieser Zeit wie Geschwister in einer Wohngemeinschaft. Im Jahr 1886 tauchte in dieser Wohnung von Lou Andreas-Salomé der Privatgelehrte, Orientalist und Philosoph Friedrich Carl Andreas auf. Dieser bedrängte sie – ohne sie näher zu kennen – mit einem Heiratsantrag. Lou lehnte diesen wie alle anderen vergleichbaren Heiratsanträge vorher vehement ab. Andreas jedoch überraschte sie erneut und verblüffte sie: Er zog unvermittelt ein langes Messer aus einer Aktentasche und stieß sich dieses in seine Herzgegend. Er wäre fast verblutet. Lou Andreas-Salomé war sehr erschrocken und überwältigt, so dass sie schließlich einen Tag später bereits in eine Heirat einwilligte. Sie stellte jedoch die Bedingung, dass die Beziehung „platonisch“ bleiben müsse und es zu keinerlei sexuellen Aktivitäten käme.

Andreas hat diese Bedingungen akzeptiert. Es war und blieb eine „Ehe ohne Sex“. Trotz aller Belastungen und Konflikte hatte diese Ehe eine lange Überlebensdauer, nämlich 43 Jahre. Sexuell treu geblieben ist Lou Andreas-Salomé ihrem Ehemann jedoch in dieser Zeit nicht. Diese von Anfang an konfliktträchtige Ehe wurde bereits in der Zeit zwischen der Verlobung und Trauung belastet: Der langjährige Freund und Gefährte Paul Rée, der sich wohl immer noch Hoffnungen gemacht hatte, hat sich tief verletzt von Lou getrennt und verabschiedet. Er ist in die Schweiz gegangen und ist dort wenige Jahre später tödlich verunglückt oder durch Suizid gestorben. Der Verlauf und das Ende der Beziehung zu Paul Rée ist eine der wenigen Beziehungen, die bei Lou Andreas-Salomé nachhaltig Schuldgefühle ausgelöst hat. Vier Jahre nach der schicksalshaften Trennung von Paul Ree sollte eine zweite schwere Krise die Ehe von Lou Andreas-Salomé und Karl Friedrich Andreas erschüttern.

Schwere Lebenskrise und drohender Doppelsuizid – die Affäre mit dem Reichstagsabgeordneten Friedrich Georg Ledebour.

Im Dezember 1891 lernte Lou Andreas-Salomé in Berlin den Schriftsteller und Reichstagsabgeordneten Georg Ledebour kennen. Dieser war 11 Jahre älter als sie und war eine starke und energische Persönlichkeit. Im Umgang war er sehr charmant, gewandt und weltoffen. Von ihm fühlte sie sich angezogen und fasziniert, jedoch auch durchschaut. Sehr konfrontativ sagte er ihr ins Gesicht, dass sie seiner Meinung nach wie eine Blinde über die Farbe spräche, wenn sie von der Liebe redet. Er vermutete, dass sie sexuell unerfahren sei und ihre Ehe eine Selbsttäuschung. Was für Lou neu war, war diese offene direkte Art und der große Besitzanspruch in seinem Werben. Er präsentierte sich sehr fordernd, machte ihr einen Heiratsantrag und verlangte ostentativ, dass ihr Ehemann Friedrich Carl Andreas sie freigeben müsse. Der Ehemann reagierte mit heftigsten Eifersuchtsszenen und schwankte zwischen Aggression und Verzweiflung. Beide erwogen sogar mehrere Tage lang, durch einen Doppelsuizid den Konflikt zu beenden. Schließlich versprach Lou, ein Jahr lang auf Treffen mit Ledebour zu verzichten. Ledebour war ein sehr offensiver und kritischer Politiker, der mehrmals wegen Majestätsbeleidigung ins Gefängnis musste. Insofern gab es eh eine von außen erzwungene Pause. Später fanden noch einige Begegnungen mit Ledebour statt, doch Lou entschied sich dann letztlich gegen ihn und die Beziehung war beendet.

Pariser Nächte mit Frank Wedekind

Von Februar bis Juli 1894 reiste Lou Andreas-Salomé alleine nach Paris. Dort lernte sie den Schriftsteller Frank Wedekind kennen. Mit ihm verbrachte sie die meiste Zeit und genoss mit ihm das Pariser Nachtleben. Zum Auftakt ihrer Beziehung versuchte Wedekind eine sexuelle Annäherung, wurde jedoch von Lou schroff zurückgewiesen. Wedekind akzeptierte schnell diese Grenzziehung und pflegte weiterhin mit ihr die Freundschaft. Nach ihrer Rückkehr nach Berlin trafen sie sich auch dort. In Berlin wurde am 20. November 1906 das Stück „Frühlingserwachen“ von Frank Wedekind durch Max Reinhardt uraufgeführt. Lou war bei dieser Uraufführung anwesend. Zahlreiche Literaturwissenschaftler vermuten, dass Frank Wedekind sein bekanntes Werk „Lulu“ nach Lou Andreas-Salomé benannt hat. Die Protagonistin Lulu gilt als zentrale moderne Gestalt des Femme-fatale –Mythos (Csef 2019).

Die Liebesbeziehung mit Rainer Maria Rilke

Im Jahr 1897 lernte Lou Andreas-Salomé in München Rainer Maria Rilke kennen. Sie wurden ein Liebespaar und lebten zuerst in Bauernhaus in Wolfratshausen. Als Lou im Oktober 1897 nach Berlin zurückkehrte, mietete sich Rilke in der Nähe der Wohnung des Ehepaars ein Zimmer. Rilke verbrachte jedochdie meiste Zeit mit Lou in der Küche der Wohnung des Ehepaares, während der Ehemann Friedrich Carl im Wohnzimmer nebenan arbeitete. Offensichtlich hatte der Ehemann diese Ménage à trois akzeptiert. Er war ja mittlerweile nach 10 Jahren Ehe gewohnt, dass Lou ihre eigenen Wege ging. Friedrich Carl ging ebenfalls seine eigenen Wege und hatte eine sexuelle Beziehung mit ihrer Hausangestellten und mit ihr ein Kind. Lou hat nach dem Tod ihres Ehemannes dieses Kind sogar adoptiert. Das Ehepaar hat sich also arrangiert und einen fragiles Gleichgewicht gefunden: Am Fortbestehen der Ehe haben beide nicht gezweifelt und jeder ging seine eigenen Wege. Es ginge sicherlich zu weit, dieses Ehe-Arrangement als einen Vorläufer der modernen Polyamorie-Bewegung aufzufassen, denn die meisten sexuellen Affären von Lou blieben ein Geheimnis. Diese Seite hat sie vor ihrem Ehemann verheimlicht und dieser hat dies wohl immer mehr akzeptiert. Von April bis Juni 1898 machten sie sogar zu dritt eine Russlandreise – das Ehepaar Andreas und der Geliebte Rilke. Dass dies so möglich war, offenbart eine hohe Anpassungsbereitschaft aller drei Beteiligten. Etwa ein Jahr später – von Mai bis August 1900 machten Lou Andreas-Salomé und Rainer Maria Rilke zu zweit eine weitere Russlandreise, bei der sie die Schriftsteller Leo Tolstoi und Boris Pasternak besuchten. Rilke verhielt sich Lou gegenüber sehr anklammernd, was dieser sehr mißfiel. Bereits am Ende des Jahres 1900 schrieb Lou in ihr Tagebuch, dass sie sich von Rilke stark eingeengt fühle und seine Nähe nicht mehr ertrage. „Er muss fort!“ war ihre Parole. Dies setzte sie schließlich am 26. Februar 1901 in die Tat um. Sie beendete das intime Verhältnis zu Rilke, blieb ihm allerdings als mütterliche Freundin verbunden und hatte mit ihm einen intensiven Briefwechsel bis zu Rilkes Leukämie-Tod im Jahr 1926.

Psychoanalytiker und Ärzte als jüngere Liebhaber

 Bei einem Aufenthalt in Wien lernte Lou Andreas-Salomé bereits im Dezember 1895 den Arzt Friedrich Pineles kennen. Sie traf ihn auch während der Beziehung mit Rilke einige Male. Nach der Trennung von Rilke begann sie mit ihm eine sexuelle Beziehung, die bis zum Jahr 1908 dauerte. Diese Beziehung mit Pineles – genannt Zemek – war die längste außereheliche Beziehung von Lou Andreas-Salomé. Von ihm wurde sie sogar schwanger, verlor aber das Kind nach einem Sturz von einer Leiter. Pineles machte Lou zahlreiche Heiratsanträge. Diese machte ihm jedoch immer klar, dass eine Scheidung von Friedrich Carl Andreas für sie nicht in Frage komme. Pineles gab im Jahr 1908 frustriert auf. Er widmete sich mehr seinem Arztberuf und der Wissenschaft und wurde habilitierter Internist an der Universität Wien. Die Liebesenttäuschung und die tiefen Kränkungen, die er in der langjährigen Beziehung mit Lou Andreas-Salomé erlitten hat, ließen ihn sehr vereinsamt zurück. Er lebte noch fast 30 Jahre und hat nie geheiratet.

Im Jahr 1911 lernte sie durch die Schwedin Ellen Key den Nervenarzt Poul Pierre kennen. Dieser war 15 Jahre jünger als sie. Bald schon begannen die beiden eine sexuelle Beziehung. Pierre war mit einer unheilbar kranken Frau verheiratet und erwog, sie zu verlassen, falls Lou ihn heiratet. Im September 1911 besuchten beide den Internationalen psychoanalytischen Kongress in Weimar. Dort lernte sie Sigmund Freud kennen. Die Beziehung mit Poul Pierre war für Lou zu konfliktträchtig, so dass sie diese bald abrupt und hart beendete. Paul Pierre hat unter dieser Trennung sehr gelitten.

In den Jahren 1912 bis 1913 begannen Lous Lehrjahre bei Sigmund Freud. Etwa ein halbes Jahr verbrachte sie in Wien. Dort traf sie regelmäßig Sigmund Freud und andere Psychoanalytiker. Die Begegnungen mit Sigmund Freud waren der wichtigste Wendepunkt im Leben von Lou Andreas-Salomé. Sigmund Freud war für sie eine wichtige Vaterfigur und ihr Lehrmeister. Sie widmete sich von dieser Zeit an immer mehr der Psychoanalyse. In Göttingen eröffnete sie eine psychoanalytische Praxis. Sie schrieb psychoanalytische Aufsätze und hatte einen regen Briefwechsel mit Sigmund Freud selbst und mit dessen Tochter Anna. Beide Briefwechsel sind publiziert worden. In der Wiener Zeit flackerte wieder ein erotisches Feuer auf. Den meisten persönlichen Kontakt in Wien hatte sie mit Victor Tausk, einem der begabtesten Schüler von Sigmund Freud. Zu ihm fühlte sie sich von Anfang an sehr hingezogen. Victor Tausk war 10 Jahre jünger als sie, hatte Jura studiert, war zeitweise Rechtsanwalt und hat sich dann ganz der Psychoanalyse gewidmet. Innerhalb der Psychoanalyse hatten beide gemeinsame Interessen, insbesondere das Werk des Philosophen Baruch de Spinoza und die Narzissmus-Theorie. Mit Victor Tausk hatte Lou eine intime Beziehung, die wiederum von ihr beendet wurde. Bald nach Beziehungsende kam der Erste Weltkrieg. Victor Tausk, der als Zweitstudium Medizin studiert hatte, zog als Militärarzt in den Krieg. Nach seiner Rückkehr gab es erhebliche Konflikte zwischen Victor Tausk und Freud, in deren Verlauf sich Tausk suizidierte. Diese skandalträchtige Affäre wurde erst etwa 50 Jahre später durch namhafte Psychoanalytiker aufgearbeitet. Drei Monographien und zahlreiche Artikel in psychoanalytischen Zeitschriften wurden dann darüber veröffentlicht (Csef 2019).

Phänomenologie und Psychodynamik der Femme fatale.

Die Überschrift der vorliegenden Abhandlung stellt die Frage, ob Lou Andreas-Salomé eine Femme fatale war. Nach der Einschätzung zahlreicher Autoren (vgl. Lütkehaus 2002, 2011; von Arnim 2006) trifft diese Charakterisierung durchaus auf sie zu.

Blickt man in die neuere Literatur zur Wesensbestimmung der Femme fatale, so ist die Femme fatale durch folgende Charakteristika gezeichnet (Stein 1985; Hilmes 1990):

  • übererotisierte weibliche Attraktivität
  • Intelligenz und Gefühlskälte
  • manipulative Fähigkeiten
  • Machtstreben
  • selbstbestimmte Sexualität
  • destruktive Norm- und Gesetzesüberschreitung

 Die genannten sechs Merkmale sind bei Lou ‚Andreas-Salomé mehr oder weniger deutlich vorhanden. Besonders ihre Intelligenz und Gefühlskälte, ihr Machtstreben, ihre selbstbestimmte Sexualität und die Tendenz zu Grenzüberschreitungen sind deutlich ausgeprägt. Diese Merkmale finden sich in den Beschreibungen ihrer Liebespartner (besonders von Poul Pierre und Rainer Maria Rilke), aber auch in ihren Selbstbeschreibungen. Sie setzte sich ja vehement für Freiheitsdrang, Grenzüberschreitungen, Selbstbestimmung und Untreue ein. Für sie war sogar Untreue eines der wesentlichen Elemente des menschlichen Liebeslebens. Darüber hat sie in ihren Abhandlungen über die Erotik, über weibliche Erotik und Sexualität sowie in ihrem Tagebuch „In der Schule bei Freud“ ausführlich geschrieben.

„Rätsel-Leben“ und bleibende Geheimnisse

Lou Andreas-Salomé liebte das Rätselhafte und bewahrte sich gerne das Geheimnisvolle. Das Leben als Rätsel und Geheimnis ist eine wesentliche Facette ihres Lebens. Michaela Wiesner-Bangard und Ursula Welsch (2008) gaben ihrer hervorragenden Biographie über Lou Andreas-Salomé den Untertitel „Wie ich dich liebe, Rätselleben“. Als Verehrerin und große Vertraute Sigmund Freuds verschrieb sie sich dem Freudschen Diktum „Die biographische Wahrheit ist nicht zu haben“ (vgl. Rath 2003). Jede Form der Autobiographie ist immer auch Selbststilisierung und Selbstinszenierung. Zahlreiche Schriftsteller haben Biographien und umfangreiche Tagebücher geschrieben, schon unter der Perspektive, dass diese später einmal veröffentlicht werden. Das Wechselspiel von „Dichtung und Wahrheit“ ist deshalb sehr spezifisch für den Menschen, der das schreibt. Besonders interessant ist oft das, das weggelassen oder verschwiegen wird. So ist bei Lou Andreas-Salomé bemerkenswert, dass in ihrem „Lebensrückblick“ die vielleicht wichtigsten oder konflikthaftesten Liebhaber weggelassen wurden. Sie schreibt darin nichts über Friedrich Pineles, nichts über Victor Tausk und nichts über Poul Pierre. Das ist ihr gutes Recht. Sie ging mit ihren „Intimen Bekenntnissen“ deutlich diskreter um als manch andere Schriftstellerinnen. Die Fachliteratur über Lou Andreas-Salomé selbst, über ihre Zeitgenossen, ihre Liebhaber, Freundinnen und Freunde ist mittlerweile so umfangreich, dass zu der eigenen Autobiographie zahlreiche andere Mosaiksteinchen hinzukommen, die ein ganzes Bild ergeben. Lou Andreas-Salomé hat sich in ihren Selbstdarstellungen auf Friedrich Nietzsche, Rainer Maria Rilke, Sigmund Freud konzentriert. Das sind die drei großen Männer in ihrem Leben. Über diese drei einzigartigen Dichter und Denker hat sie jeweils selbst ein Buch geschrieben. Dieser Zeitpunkt dürfte wesentlich dazu beitragen, dass mehr als 80 Jahre nach ihrem Tod so viel über sie geforscht und geschrieben wird.

Literatur:

Andreas-Salomé, Lou: Henrik Ibsens Frauengestalten. Nach seinen sechs Familiendramen: Ein Puppenheim, Gespenster, Die Wildente, Romersholm, Die Frau vom Meere, Hedda Gabler. Berlin 1892

Andreas-Salomé, Lou: Friedrich Nietzsche in seinen Werken. Wien 1894

Andreas-Salomé, Lou: Erotik (Enthält auch Der Mensch als Weib, Gedanken über das Liebesproblem, Psychosexualität.) Frankfurt 1910

Andreas-Salomé, Lou: Rainer Maria Rilke. Leipzig 1928

Andreas-Salomé, Lou: Mein Dank an Freud. Offener Brief an Professor Freud zu seinem fünfundsiebzigsten Geburtstag. Wien 1931

Andreas-Salomé, Lou: Lebensrückblick. Grundriß einiger Lebenserinnerungen. Aus dem Nachlaß herausgegeben von Ernst Pfeiffer. (Zürich 1951.) Neu durchgesehene Auflage mit einem Nachwort des Herausgebers. Frankfurt 1994.

Andreas-Salomé, Lou: In der Schule bei Freud. Tagebuch eines Jahres, 1912/13, hg. von Ernst Pfeiffer, Zürich, Max Niehans, 1958

Andreas-Salomé, Lou: Rilke, R.M. und L. Andreas-Salomé: Briefwechsel. Zürich und Wiesbaden 1952

Arnim, von Gabriele: Femme fatale des 19. Jahrhunderts. Eine Bildbiographie. Reclam Leipzig, 2006

Binion, Rudolph: Frau Lou. Nietzsche’s Wayward Disciple. Princeton 1968

Buckard, Christian: Femme fatale und Universalgelehrte. Das Biopic erkundet die Beziehung der Psychoanalytikerin zu Nietzsche, Rilke und Freud. Jüdische Allgemeine vom 5.7.2016

Csef, Herbert: Der Femme fatale-Mythos und seine moderne Inszenierung in „Lulu“ von Frank Wedekind. Internationale Zeitschrift für Philosophie und Psychosomatik, Ausgabe 1/2019

Csef, Herbert: Lou Andreas-Salomé und ihre Beziehung zu Friedrich Nietzsche, Rainer Maria Rilke und Sigmund Freud. Tabularasamagazin vom 18. Mai 2019

Csef, Herbert: „Ein Frauenzimmer von gefährlicher Intelligenz.“ – Sigmund Freud über Lou Andreas-Salomé. Tabularasamagazin vom 28. Oktober 2020

Csef, Herbert: „Du wurdest der Abgrund, der mich verschlang.“ Die Liebesbeziehung von Rainer Maria Rilke und Lou Andreas-Salomé. Tabularasamagazin vom 7. Mai 2021

Decker, Gunnar: Lou Andreas-Salomé – Die Hexe vom Hainberg. Neues Deutschland vom 21.12.2002

Decker, Kerstin: Lou Andreas-Salomé. Der bittersüße Funke Ich. Propyläen Verlag, Berlin 2010

Diethe, Carol: Vergiss die Peitsche. Nietzsche und die Frauen. Europa Verlag Hamburg 2000

Hilmes, Carola: Die Femme fatale. Ein Weiblichkeitstypus in der nachromantischen Literatur. J.B. Metzlersche Verlagsbuchhandlung. Stuttgart 1990

Hülsemann, Irmgard: „Mit dem Mut einer Löwin“. Lou Andreas-Salomé, München 2001

Leibold, Christoph: Eine keusche Femme fatale. Jüdische Allgemeine vom 29.6.2016

Lütkehaus, Ludger: Furie und Femme fatale. Die ZEIT vom 22. August 2002

Lütkehaus, Ludger: Gehirnraubtier und Femme fatale – Lou Andreas Salomé.  SWR 2. Essay vom 19.9.2011

Lütkehaus, Ludger: Entriegelter Freiheitsdrang. Lou Andreas-Salomé. Ein Portrait, Basilisken-Presse, Rangsdorf 2011

Peters, Heinz Fr.: Lou Andreas-Salomé. Femme fatale und Dichtermuse. Heyne-Verlag, 1995

Pop, Christine: Rebellin oder Femme fatale? Psychoanalyse im Widerspruch, Jahrgang 30 (2018) Heft 2, S. 119-128

Rath, Norbert: „Wer Biograph wird, verpflichtet sich zur Lüge“. Skepsis gegen Biographen bei Friedrich Nietzsche, Sigmund Freud und Lou Andreas-Salomé. In: Klaus-Jürgen Bruder. „Die biographische Wahrheit ist nicht zu haben“. Psychosozial-Verlag 2003, S. 295-319

Schäfer, Dirk: Im Namen Nietzsches. Elisabeth Förster-Nietzsche und Lou Andreas-Salomé. Fischer Taschenbuch Verlag, Frankfurt a.M. 2001

Stein, Gerd (Hrsg.): Femme fatale, Vamp, Blaustrumpf. Sexualität und Herrschaft. Fischer Taschenbuch Verlag 1985

Weber Inge, Rempp B. (Hrsg.): Lou Andreas-Salomé: Das “zweideutige” Lächeln der Erotik. Texte zur Psychoanalyse, Freiburg 1990

Wiesner-Bangard, Michaela; Welsch, Ursula: Lou Andreas-Salomé „… wie ich Dich liebe, Rätselleben“. Eine Biographie. Reclam Verlag, Leipzig 2002

Korrespondenzadresse:

Professor Dr. med. Herbert Csef

An den Röthen 100

97080 Würzburg

Email: herbert.csef@gmx.de

Finanzen

Über Herbert Csef 149 Artikel
Prof. Dr. Herbert Csef, geb. 1951, Facharzt für Psychosomatische Medizin und Psychotherapie, Psychoanalytiker. Studium der Psychologie und Humanmedizin an der Universität Würzburg, 1987 Habilitation. Seit 1988 Professor für Psychosomatik an der Universität Würzburg und Leiter des Schwerpunktes Psychosomatische Medizin und Psychotherapie an der Medizinischen Klinik und Poliklinik II des Universitätsklinikums. Seit 2009 zusätzlich Leiter der Interdisziplinären Psychosomatischen Tagesklinik des Universitätsklinikums. Seit 2013 Vorstandsmitglied der Dr.-Gerhardt-Nissen-Stiftung und Vorsitzender im Kuratorium für den Forschungspreis „Psychotherapie in der Medizin“. Viele Texte zur Literatur.