„Trotz Gericht ist da auch Ungerechtigkeit“

urteil richter richterhammer auktionshammer auktion, Quelle: TPHeinz, Pixabay License Freie kommerzielle Nutzung Kein Bildnachweis nötig
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Gerichtliche Entscheidungen sind geronnenes Recht. Sie sind zugleich Verlautbarungen der Judikative. Dem Gerichtsentscheid haben die Bürgerinnen und Bürger Folge zu leisten – ob sie wollen oder nicht. Sie sind dem Recht unterworfen. Das hat etwas mit Macht zu tun, aber auch mit Vertrauen. In das bestehende Rechtssystem nämlich. Das ist jedoch nicht perfekt, weil menschengemacht. All das wusste schon Leo Tolstoi, als er in seinem Roman „Krieg und Frieden“ schrieb: „Wo Gericht, da ist auch Ungerechtigkeit.“

Dabei geht es nicht um Gerichtsschelte, sondern vielmehr um das Bewusstsein für Fehler im Rechtssystem und um das menschliche Streben nach Gerechtigkeit. Fakt ist: Eine Gerichtsentscheidung kann rechtlich zutreffend, aber dennoch ungerecht sein. Sie kann in jeder Hinsicht überzeugen oder in keiner. Damit müssen wir leben. Und auch damit, dass eine Entscheidung nie besser sein kann als die ihr zugrunde liegenden Gesetze.

In der Organisationshaft zeigt sich dieser Umstand besonders deutlich. In der Organisationshaft warten Menschen nach ihrer rechtskräftigen Verurteilung darauf, in eine Klinik des Maßregelvollzugs überstellt zu werden. Häufig sind Menschen mit Drogenproblemen betroffen, bei denen das Gericht im Urteil zugleich die Unterbringung in einer Entziehungsanstalt gemäß § 64 Strafgesetzbuch angeordnet hat. Die Organisationshäftlinge befinden sich regelmäßig in Justizvollzugsanstalten. Damit gleicht die Organisationshaft einer regulären Strafhaft und ist mit Blick auf den Therapiestart für die Betroffenen verlorene Zeit.

Doch das ist nicht das einzige Problem. Besonders kritisch ist der Umstand zu sehen, dass es an einer gesetzlichen Grundlage für die Organisationshaft fehlt. Zwar spricht unser Grundgesetz in Artikel 104 davon, dass die Freiheit der Person „nur aufgrund eines förmlichen Gesetzes und nur unter Beachtung der darin vorgeschriebenen Formen beschränkt werden“ kann. Zudem heißt es dort: „Über die Zulässigkeit und Fortdauer einer Freiheitsentziehung hat nur der Richter zu entscheiden.“ Im Falle der Organisationshaft scheint das jedoch kaum zu stören. Auch das Bundesverfassungsgericht gibt sich angesichts dieser erheblichen Abweichung von den Vorgaben des Grundgesetzes erstaunlich gelassen. Es hat in zwei Entscheidungen (aus den Jahren 1997 und 2005) die Organisationshaft nicht allgemein für verfassungswidrig erklärt. Dabei führten die Karlsruher Richter jedoch nicht aus, wie genau das Institut der Organisationshaft mit den Garantien aus Artikel 104 des Grundgesetzes zu vereinbaren ist.

Ein weiteres Problem ist schließlich die überlange Haftdauer. Nicht nur ist der Freiheitsentzug gesetzlos, er ist häufig auch noch unangemessen lang. Für die Organisation eines Therapieplatzes brauchen die Strafvollstreckungsbehörden aktuell mehrere Monate – auch bei bundesweiter Suche. Als Folge entschied jüngst das Oberlandesgericht Düsseldorf mit Beschluss vom 2. Februar 2023 (Az. 1 Ws 97/22), dass nach fünf Monaten (!) erfolgloser Suche der weitere Vollzug der Organisationshaft rechtswidrig sei. Hintergrund dieser langen Suchzeiten ist der Platzmangel im Maßregelvollzug, für den die Landesgesundheitsministerien verantwortlich sind.

Den Betroffenen wird es egal sein, wo genau das Problem liegt. Für sie ist das Ergebnis entscheidend. Und das lautet: Freiheitsentzug ohne gesetzliche Grundlage für einen unklaren Zeitraum. Wem die Situation von inhaftierten Menschen und die Garantien des Grundgesetzes wichtig sind, der muss hier aufhorchen. Es gilt der Satz von Leo Tolstoi – freilich in abgewandelter Form: Trotz Gericht ist da auch Ungerechtigkeit. Und der ungerechte Zustand gehört beseitigt. Das ist jedoch vor allem die Aufgabe des Gesetzgebers.

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Lorenz Bode, Jahrgang 1989, promovierter Jurist, Proberichter, lebt in Magdeburg.