Liv Strömquist feiert den klitoralen Orgasmus – Schluss mit den teuflischen Vorurteilen

Teufel an der Marienkirche in Lübeck, Foto: Stefan Groß

Ein Comic erzählt die Geschichte der Vulva. Ein Organ, das gesellschaftlich verfemt, pseudowissenschaftlich vernunglimpft und zum Spielball von männlicher Willkür und Dominanz wurde. Mit dem „Der Ursprung der Welt“ bringt Strömquist Licht in ein langes und dunkles Kapitel der Menschheitsgeschichte, das absurder und grausamer nicht gewesen sein konnte.

Die Geschichte zeichnet sich meist in schwarz oder weiß, aber im Falle der Kulturgeschichte des weiblichen Geschlechtsteils wohl eher in dunkelgrau – das zeigt der Comic von Liv Strömquist – „Der Ursprung der Welt“ in aller Deutlichkeit.

Einst war die Vulva erklärtermaßen die Wiege des Lebens, die Keimzelle der Fruchtbarkeit – vereint mit der sexuellen Neugier. In der Antike, im alten Ägypten – in vielen indigenen Kulturen und Volkstämmen der Frühzeit wurde sie verehrt. Kunst und Kultur waren vaginal durchtränkt, feierten mit Lobeshymnen, auf Altären, in Reliefs und als Statuen das weibliche Geschlechtsteil orgiastisch als den Ursprung der Welt.

Doch die Geschichte vom heiligen Zauber, von Anbetung und Verklärung, verkehrte sich nicht zuletzt durch eine männlich dominierte Wissenschaft und religiöse Institutionen in das pure Gegenteil. Der Mythos des Heiligen wurde durch die Stigmatisierung ersetzt. Und anstelle der Verehrung traten Repressalien, abgrundtief-sinnlose Verrohungen sowie Verunstaltungen wie im Falle der auch heute noch praktizierten Klitorisbeschneidungen oder Genitalverstümmlungen in vielen Teilen Afrikas und in einer Vielzahl muslimischer Länder.

Widerliche Exzesse am weiblichen Geschlechtsorgan

Über 2000 Jahre hinweg landete die Vulva auf dem Opfertisch männlicher Geltungs-, Macht-und Überlegenheitsansprüche. Das einst verehrte weibliche Geschlecht wurde in die Niederungen des Lebens verbannt und zum bloßen Objekt sexueller Begierde. Der Selbstermächtigung des Männlichen ging die Ächtung der Vulva einher. Weibliche Sexualität galt das widernatürlich, die Vulva als eklig, die Sexualität der Frau als sinnliche Raserei ohne Verstand. Und mit der Abwertung der Vulva ging die Abwertung der Frau und der Weiblichkeit bis in jüngste Geschichte hinein weiter. Sie war nichts anderes als der experimentelle Ort, wo widerliche Exzesse vollzogen wurden. So galten übergroße Schamlippen – über die Aufklärung hinaus – als Zeichen animalischer Sexualität, die Menstruation letztendlich gar als das böse Blut der Verblendung und als Zeichen von Unkeuschheit und Unreinheit. Der Menstruationshass rief im schließlich die Hexenprozesse auf den Plan. Und kirchliche Engstirnigkeit – samt religiösem Aberglauben – initiierten ihrerseits einen gerade absurden Verfolgungswahn auf die Vulva.

Weiblicher Sex galt als unrein

Weiblicher Sex galt – nicht zuletzt durch das Veto Augustinus’ – als Schande, als Abfall von Gott. Und so wurde die Vulva zum Giftbecher des Bösen, aus dem zu trinken die heilige Ratio in Absurditäten und rastlose Triebhaftigkeit stürzte. Weibliche Onanie wurde gar als so gefährlich eingestuft, dass man die Lust nur in Karbolsäure ertränken konnte. Die Entfernung der Klitoris – meist von Ärzten und Psychologen empfohlen – war und ist traurige Tagesgewissheit, einzig dazu da, die Ohnmacht des Weiblichkeit zu unterstreichen und die Dominanz des Männlichen hervorzuheben. Die Sexualität des Mannes in lasziver Freizügigkeit wurde goutiert, die der Frau als Hure abgestempelt.

Die Zerstückelung der Weiblichkeit

Selbst der Mythos von der zerstörerischen Kraft der Menstruation hält sich bis in die Gegenwart. Und die Größe der Klitoris wurde, trotz einer Vielzahl von Forschungen am Genital, erst 1998 entdeckt und damit der alte Konflikt von vaginalem und klitoralem Orgasmus neu entfacht. Die Überraschung dabei: „Forschungsergebnisse der letzten Jahre,“ so schreibt Strömquist, „lassen vermuten, dass die Klitoris tatsächlich noch grösser ist – und ihre Venenenden sich über einen großen Teil des Körpers erstrecken“ und das ganze Organ bei der Stimulation anschwillt. Diese Entdeckung „macht die ganze Diskussion über klitorale / vaginale Orgasmen bedeutungslos, da alle Orgasmen durch den Klitoriskomplex ausgelöst werden.“ Der weibliche Orgasmus ist fast ausnahmslos klitoral!

Sigmund Freud und das Prä des vaginalen Orgasmus

Männer spielten bei der Verbrämung des weiblichen Geschlechtsteils keine rühmliche Rolle. So mag Sigmund Freud ein guter Philosoph und vielleicht auch Psychoanalytiker gewesen sein, wenngleich aus heutiger Sicht überholt, aber das weibliche Geschlechtsteil verhöhnte er. Den vaginalen Orgasmus feierte er, den klitoralen stempelte er ab. Die Klitoris nannte er einen „männlichen Apparat“. Seine Äusserungen „über die Höherwertigkeit des vaginalen Orgasmus hatten zur Folge, dass Generationen von Frauen total verunsichert waren, weil sie ihre Sexualität für fehlend oder gestört hielten, wenn sie nur einen Klitoris-Orgasmus bekamen.“

Sartre – Das Sein und die vaginale Leere

Auch Jean-Paul Sartre zeigt sich bezüglich des weiblichen Geschlechts als bemerkenswert unaufgeklärt. Für Sartre, der mit seinem Buch „Das Sein und das Nichts“ den Existentialismus begründete, blieb das weibliche Geschlecht etwas, das nicht existierte, in das der Mann seinen Penis stecken kann. Und in „Das Sein und das Nichts“ heißt es: „Das Sexualorgan ist vor allem ein Loch. (…) Das weibliche Geschlechtsorgan ist (…) ein Ruf nach Sein wie überhaupt alle Löcher; die Frau an sich ruft nach einem fremden Fleisch, mit dem sie durch Eindringen und Auflösen in Seinsfülle verwandelt werden soll.“ „Die Frau hat also ein geringeres Selbstwertgefühl, da sie kein Geschlecht hat, sie ist durchlöchert und sehnt sich nach einem Penis, der ihr Loch stopft und diesen Mangel (Die leere Stelle, wo ein Geschlechtsorgan sein sollte) behebt“, fügt Strömquist an. Für Sartre war das weibliche Geschlechtsorgan also nur ein Loch, ein Nichts, das gefüllt werden sollte. Und trotz seines Existentialismus, bei dem es immer wieder um die Abgründe des menschlichen Selbst ging, einen Humanismus gegenüber der Vulva leitete er daraus nicht ab. Dies ist um so verwunderlicher, weil seine Lebensgefährtin Simone de Beauvoir mit ihrem Buch „Le Deuxième Sexe“ 1949 ein Skandalwerk hingelegt hat, wo von der „Sensibilität der Vagina“, den „Zuckungen der Klitoris“ und dem „männlichen Orgasmus“ immer wieder die Rede ist. Für de Beauvoir war der Existentialismus schließlich ein Feminismus, in Bezug auf das weibliche Geschlechts war sie Sartre um Lichtjahre voraus.

Courbet war viel moderner als Freud und Sartre zusammen

Gustave Courbets „Ursprung der Welt“ schlug buchstäblich wie eine Bombe ein. Als Auftragsarbeit 1866 gemalt, war das Bild die Provokation schlechthin. Blanke Pornographie meinten die einen, die Entdeckung und Entmystifizierung die anderen. Der Realismus Courbets hatte mit der blinzelnden Vagina die Moderne berührt und an einem tausend Jahre alten Tabu gerüttelt. Courbets „Ursprung“ war zu provokativ, zeigte es doch die nackte Wahrheit, die Entbergung dessen, was dem Heiligen über Jahrhunderte hinweg konträr lief. Sein „Ursprung“ wurde erst 1995 der großen Öffentlichkeit – und das unter strenger Bewachung – im Musée d’Orsay in Paris zugänglich und provoziert bis heute noch die Besucher.

Martin Heidegger und der Ursprung des Kunstwerkes

Aber wie immer in der Kunst zählt die Idee, der andere Blick, die andere Technik, die es über die Vergänglichkeit hinaus in die Ewigkeit hebt und Stein des Anstoßes bleibt. Nicht Gott ist der Vater aller Dinge, sondern das geradezu metaphysisch neu aufgeladene weibliche Geschlechtsorgan stand bei Courbet im Mittelpunkt. Courbet zeichnet kein Gesicht, sondern die Vagina und exemplifiziert damit die Ambivalenz zwischen sexueller Begierde und dem Ursprung des Lebens als Ort der sexuellen Verschmelzung. Der Realismus gleicht dabei einer religiösen Verklärung und mit dem Kunstwerk selbst tritt ontologisch „etwas Neues ins Dasein“, das den Gegensatz von „Geistig-Seelischem“ und „Physisch-Materiellem“ zur Entbergung bringt, wo sich, um mit Martin Heidegger zu sprechen, die Wahrheit in ihrer Unverborgenheit zeigt. Courbet hat mit seinem „Der Ursprung der Welt“, die Vagina als „ständiges Sichverschließen“ und „Entbergen“ dargestellt, wie es später Heidegger in seinem Werk das „Ursprung des Kunstwerks“ als das Wesen der Kunst und des Kunstwerks insgesamt in Deutungshoheit brachte; dass Kunst also letztendlich und ursprünglich für Wahrheit steht, die sich im Werk ereignet und damit erst Geschichte stiftet. „Der Künstler ist der Ursprung des Werkes. Das Werk ist der Ursprung des Künstlers. Keines ist ohne das andere. Beide haben ihren Ursprung in der Kunst“, wie es bei Heidegger heißt.

Liv Strömquists Eloge auf das Leben

Liv Strömquist hat mit ihrem Comic die Tabuisierung der Vulva nachgezeichnet und zugleich eine Eloge auf das weibliche Geschlecht geschrieben, auf ein Organ, dass gesellschaftlich verfemt, pseudowissenschaftlich vernunglimpft und zum Spielball von männlicher Willkür und Dominanz wurde. Einst als Ursprung der Lust und des Lebens frenetisch gefeiert, wurde das weibliche Geschlecht in der Kulturgeschichte diskriminiert, tabuisiert, banalisiert und dämonisiert.

Mit dem „Der Ursprung der Welt“ bringt Strömquist Licht in ein langes und dunkles Kapitel der Menschheitsgeschichte, das absurder und grausamer nicht gewesen sein konnte. Ihre Kulturgeschichte gleicht einer „Entbergung“ an deren Ende die Wahrheit über das weibliche Geschlechtsorgan, die Vulva /Vagina steht. Es ist der Hort der Freude und des Lebens zugleich – sie zu missachten bleibt eine Kränkung der menschlichen Natur.

Was kann eigentlich Tinder?

Daran gilt es auch in Zeiten von Dating-Apps wie Tinder wieder zu erinnern. Der schnelle Sex per Internet wird die Sehnsucht nach wahrer Liebe nicht tilgen und der Taumel der Lust bleibt eine kurzfristige Episode, die letztendlich zu neuen Kränkungen an Leib und Seele führt. Durch Tinder vermag man zwar das eigene Ego kurzfristig aufzupolieren, weil man in der Welt der Begehrlichkeiten im ersten Rang sitzt – allein mehr vermag Tinder auch nicht.

Liv Strömquist, Der Ursprung der Welt, avant-verlag

 

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Über Stefan Groß-Lobkowicz 2159 Artikel
Dr. Dr. Stefan Groß-Lobkowicz, Magister und DEA-Master (* 5. Februar 1972 in Jena) ist ein deutscher Philosoph, Journalist, Publizist und Herausgeber. Er war von 2017 bis 2022 Chefredakteur des Debattenmagazins The European. Davor war er stellvertretender Chefredakteur und bis 2022 Chefredakteur des Kulturmagazins „Die Gazette“. Davor arbeitete er als Chef vom Dienst für die WEIMER MEDIA GROUP. Groß studierte Philosophie, Theologie und Kunstgeschichte in Jena und München. Seit 1992 ist er Chefredakteur, Herausgeber und Publizist der von ihm mitbegründeten TABVLA RASA, Jenenser Zeitschrift für kritisches Denken. An der Friedrich-Schiller-Universität Jena arbeitete und dozierte er ab 1993 zunächst in Praktischer und ab 2002 in Antiker Philosophie. Dort promovierte er 2002 mit einer Arbeit zu Karl Christian Friedrich Krause (erschienen 2002 und 2007), in der Groß das Verhältnis von Metaphysik und Transzendentalphilosophie kritisch konstruiert. Eine zweite Promotion folgte an der "Universidad Pontificia Comillas" in Madrid. Groß ist Stiftungsrat und Pressesprecher der Joseph Ratzinger Papst Benedikt XVI.-Stiftung. Er ist Mitglied der Europäischen Bewegung Deutschland Bayerns, Geschäftsführer und Pressesprecher. Er war Pressesprecher des Zentrums für Arbeitnehmerfragen in Bayern (EZAB Bayern). Seit November 2021 ist er Mitglied der Päpstlichen Stiftung Centesimus Annus Pro Pontifice. Ein Teil seiner Aufsätze beschäftigt sich mit kunstästhetischen Reflexionen und einer epistemologischen Bezugnahme auf Wolfgang Cramers rationalistische Metaphysik. Von August 2005 bis September 2006 war er Ressortleiter für Cicero. Groß-Lobkowicz ist Autor mehrerer Bücher und schreibt u.a. für den "Focus", die "Tagespost".