Der Literaturhistoriker Rudolf Haym (1821-1901) aus Schlesien ist heute nur noch Fachleuten ein Begriff, obwohl er im 19. Jahrhundert auch im politischen Leben des in zahlreiche Kleinstaaten, wenn man von Preußen, Bayern und Sachsen absieht, zerrissenen Deutschlands eine bedeutende Rolle gespielt hat. Nicht einmal in Heinz Rudolf Fritsches Nachschlagewerk „Schlesien. Wegweiser durch ein unvergessenes Land“ (1996) wird er noch genannt, obwohl die Schlesier und die Deutschen überhaupt allen Grund hätten, seiner zu gedenken.
Geboren wurde er am 5. Oktober 1821 in Grünberg im Regierungsbezirk Liegnitz, zwei Jahre, nachdem die „Karlsbader Beschlüsse“, mit denen die demokratischen Bestrebungen in den deutschen Staaten unterdrückt werden sollten, veröffentlicht waren. Sein Vater war der Konrektor des Bürgergymnasiums, seine bildungsbeflissene Mutter unterrichtete ihn in Französisch und im Klavierspielen, 1834 zog er zu wohlhabenden Verwandten der Mutter in Berlin.
Nach dem Abitur nahm er 1839 an der 1694 gegründeten Universität Halle in der preußischen Provinz Sachsen, wo auch der oberschlesische Lyriker Joseph von Eichendorff (1788-1857) und sein Bruder Wilhelm (1786-1849) 1805/06 Jura studiert hatten, ein Studium der Evangelischen Theologie, der Klassischen Philologie und der Philosophie auf, das er 1842 an der Friedrich-Wilhelms-Universität in der preußischen Hauptstadt Berlin fortsetzte und 1843 mit einer Dissertation über den altgriechischen Dramatiker Aeschylos abschloss.
Da sein Gesuch, an der Universität eine Habilitationsschrift einreichen zu dürfen, von der preußischen Regierung abschlägig beschieden worden war, nahm er eine Lehrtätigkeit auf. Zur gleichen Zeit trat er einer rationalistisch geprägten Gruppe protestantischer Pfarrer bei, die am 24. Juni 1841 gegründet worden und in der preußischen Provinz Sachsen mit Schwerpunkt in Magdeburg aktiv war. Sie war der Aufklärungstheologie verpflichtet und nannte sich „Verein der protestantischen Freunde“, ihre Gegner nannten sie „Lichtfreunde“. Dieser Verein bekämpfte die reaktionäre Religionspolitik des preußischen Königs Friedrich Wilhelms IV. (1795-1861).
Sein zehn Jahre älterer Freund Max Duncker (1811-1886), Professor für Geschichte in Halle/Saale, über den er 1891 die Biografie „Das Leben Max Dunckers“ veröffentlichte, empfahl ihn der Frankfurter Nationalversammlung, wo er 1848 als Vertreter der Stadt Eisleben einzog. Nachdem er 1849/50 als Chefredakteur für die „Constitutionelle Zeitung“ in Berlin, der Hauptstadt des Königreichs Preußen, gearbeitet hatte, wurde er vom Polizeipräsidenten ausgewiesen und ging nach Halle, wo er sich im Fach Philosophie habilitieren konnte. Er begann 1850 als Privatdozent zu arbeiten, wurde aber erst 1860 zum Außerordentlichen Professor ernannt. Am 18. Oktober 1868 erlangte er schließlich die Berufung zum Ordentlichen Professor für deutsche Literatur. Im Jahr 1873/74 war er Rektor der Universität. Ein Jahr vor seinem Tod wurde er in die „Preußische Akademie der Wissenschaften“ aufgenommen.
Neben seinen Verpflichtungen als Professor hielt Rudolf Haym Vorträge, beispielsweise zur Feier von Friedrich Schillers (1759-1805) 100. Geburtstag 1859 in Halle, und veröffentlichte Bücher. Im Jahr 1900, ein Jahr vor seinem Tod, wurde er in die „Preußische Akademie der Wissenschaften“ aufgenommen.
Er war einer der bedeutendsten Literaturhistoriker des 19. Jahrhunderts in Deutschland, nach Georg Gottfried Gervinus (1805-1871), der eine fünfbändige „Geschichte der poetischen der Deutschen“ (1835-1843) verfasst hatte und der auch nach 1949 von der DDR-Germanistik (Walter Dietze „Georg Gottfried Gervinus als Historiker der deutschen Nationalliteratur“, in: „Sinn und Form“ 1959) stärker wahrgenommen wurde als von der westdeutschen. Zunächst legte Rudolf Haym zwei philosophische Werke vor: „Hegel und seine Zeit“ (1857) und „Arthur Schopenhauer“ (1864). Zwei literaturhistorische Werke aber machten ihn berühmt: „Die romantische Schule“ (1870) und „Herder nach seinem Leben und seinen Werken dargestellt“ (1877). Ein Jahr nach seinem Tod erschienen aus dem Nachlass seine Erinnerungen „Aus meinem Leben“ (1902).
Von der DDR-Germanistik wurden, ein halbes Jahrhundert nach seinem Tod, seine wissenschaftlichen Impulse aufgegriffen. In der Zeitschrift „Sinn und Form“ veröffentlichte 1954 der in Königsberg/Preußen geborene Philosophieprofessor Wolfgang Harich (1923-1995) einen Aufsatz „Rudolf Haym, seine philosophische Entwicklung“ und 1955 das Werk „Rudolf Haym und sein Herderbuch. Beiträge zur kritischen Aneignung des literaturwissenschaftlichen Erbes“.