Begriff, Funktion und Reflexion von Bildung in der Spätantike[1]
Bildung vermittelt Chancen.
Bildung ist Bildung der Persönlichkeit und als solche zweckfrei.
Mit diesen oder ähnlichen Schlagworten lassen sich in etwa die Fronten der gegenwärtigen deutschen Debatte um Bildung und Universität benennen. Auf der einen Seite stehen, so scheint es, die „Ökonomisierer“, die von universitärer Bildung in erster Linie die Produktion passfähiger Absolventen für den Arbeitsmarkt erwarten; auf der anderen die „Humboldtianer“, die im Sinne eines humanistischen Bildungsideals auf Bildung als Menschenbildung insistieren und betonen, daß die Idee der Universität verlorengeht, wenn Bildung nur Ausbildung ist. Es mag aber sein, daß die Linien dieser Debatte doch nicht ganz so eindeutig verlaufen wie von derartigen Schlagwörtern suggeriert. Zum einen könnte man darauf hinweisen, dass diejenigen, die das humanistische Bildungsideal hochhalten – und das sind meistens wir, die Professoren – mit unserer vermeintlich zweckfreien Bildung doch (trotz W-Besoldung) ganz einträgliche und gesellschaftlich anerkannte Positionen erreicht haben und nicht ganz zu Unrecht stolz darauf sind. Zum anderen: Wer will es unter den Bedingungen der Massenuniversität den Studierenden verdenken, wenn sie von ihrer universitären Bildung zumindest auch eine solide und verwertbare Ausbildung und Chancen auf eine künftige Beschäftigung erwarten? Selbst das ist jedoch zunächst nur eine Unterstellung – das Ideal zweckfreier Bildung ist ja zuletzt selten hörbarer vorgetragen worden als während der jüngsten studentischen Proteste gegen die unter dem Stichwort „Bologna“ firmierende Hochschulreform.
Es scheint also, dass wir es gegenwärtig mit einer eher unübersichtlichen, aber desto interessanteren Gemengelage aus den verschiedensten Positionen und Motivationen zu tun haben. Eine Analyse derselben ist jedoch an dieser Stelle weder meine Aufgabe noch entspricht es meiner Kompetenz. Stattdessen will ich mich im Sinne des für unsere diesjährige Tagung programmatischen Versuchs, der gegenwärtigen Debatte eine historische Dimension zu geben, einer Epoche zuwenden, die ein prononciert klassizistisches Bildungsideal ebenso wie einen intensiven Bildungsdiskurs kennt und eine wenn nicht ähnliche, so doch ähnlich unübersichtliche Gemengelage aufweist, deren Verständnis genaueste Differenzierungen erfordert: der römischen Spätantike. Ich will gleich zu Anfang betonen, dass es mir dabei nicht um eine oberflächliche und anachronistische „Aktualisierung“ geht, die schon daran scheitern würde, dass die Spätantike wie die gesamte Antike keine „Universitäten im deutschen Sinn“ kannte. Ich will nicht suggerieren, dass wir aus dem spätantiken Bildungsdiskurs unmittelbar etwas für die Bildungsdebatte unserer eigenen Zeit „lernen“ können. Mein Ziel ist weit bescheidener: Ich möchte den römisch-spätantiken Bildungsbetrieb, das sich mit ihm in der Wahrnehmung seiner Akteure und Nutzer verbindende Bildungsideal und die dazugehörige „Bildungsdiskussion“, d.h. einige mehr oder weniger kritische Anfragen vor allem von christlicher Seite, in großen Zügen skizzieren und dabei, soweit in diesem Rahmen möglich, jene Differenzierung walten lassen, die für eine historisch-philologische Betrachtung unentbehrlich und (nun kommt doch noch so etwas wie eine Nutzanwendung) auch für aktuelle Debatten erstrebenswert, wegen unserer aller Involviertheit ins Geschehen aber ungleich schwieriger zu erreichen ist.
Bildung in der Spätantike: Die Grundzüge
Die Spätantike (datieren wir sie vorläufig von der Zeit Kaiser Diokletians am Beginn des 4. Jh. bis zum Ende der Antike im 7. Jh.) ist eine Phase vielfältiger politischer, kultureller und natürlich religiöser Transformationen. Sie erlebt die Entstehung einer Staatsform der absoluten Monarchie mit einem straff organisierten, in unzählige Rangstufen oder dignitates eingeteilten Verwaltungsapparat, eine zunehmend ständische Gliederung der Gesellschaft mit der Unterscheidung von honestiores und humiles, die Degradierung der „ewigen Stadt“ Rom von der politischen zur nur noch symbolischen Hauptstadt des Reiches und die Auseinanderentwicklung und schließlich auch staatliche Scheidung des westlich-lateinischen vom östlich-griechischen Reichsteil; sie erlebt in der Philosophie das Aufgehen sämtlicher bisherigen Richtungen und Schulen im Platonismus und auf religiösem Gebiet den Aufstieg des Christentums und die schließliche Christianisierung nahezu des gesamten Imperiums. Entgegen einem verbreiteten, zum Teil sicher auf Edward Gibbon und seine zahlreichen Nachfolger, aber noch mehr auf spätantike kulturelle Eigenwahrnehmung und Metaphern wie die vom „Greisenalter der Welt“ (senectus mundi) zurückgehenden Missverständnis war die Spätantike jedoch keine Epoche des Verfalls oder der Dekadenz. Angesichts unseres Themas wäre es verführerisch, sich den großen Philosophenschulen platonischer Observanz in Athen und Alexandria zuzuwenden, die wir uns nur zu oft nach dem Muster unserer Universitäten vorzustellen geneigt sind. Man würde damit jedoch riskieren, sich von Bildungsideal und Bildungsbetrieb der Spätantike ein völlig schiefes Bild zu machen. Ganz unabhängig von der Organisation der philosophischen Schulen: Philosophische Bildung war die Sache Weniger, die über ausreichend finanzielle Mittel und Muße verfügten sowie nicht zuletzt über einen philosophischen Lebensentwurf. Die Mehrheit (und natürlich reden wir hier, wie stets in der Antike, von den vermögenden oberen und mittleren Schichten) verstand unter „Bildung“ die seit dem Hellenismus traditionelle und seit der späten Republik in Rom eingebürgerte zweistufige Ausbildung in Grammatik und Rhetorik, deren Lernziel zunächst die sichere und fehlerfreie Beherrschung des Lateinischen und die Kenntnis der lateinischen Klassiker und sodann (im Bereich der Rhetorik) die Fähigkeit geschliffener Rede und des zweckrational-überzeugenden Einsatzes von Sprache war. Wer diese zwei Stufen – in der Regel mit Anfang 20 – durchlaufen hatte, galt im spätantiken Sinne als gebildeter Mann (für die Mädchenbildung hat das System kaum Bedeutung) und war für eine Laufbahn im höheren zivilen Beamtenwesen qualifiziert – vir litteratus kann im spätantiken Latein geradezu synonym mit einem erfolgreichen kaiserlichen Beamten stehen. Eine staatliche Organisation, formale Abschlüsse und Qualifizierungsprofile gab es freilich nicht; man verblieb in dem zumeist privatwirtschaftlich organisierten Bildungsbetrieb, solange man es sich leisten konnte und solange man davon zu profitieren meinte.
Das auffallendste Merkmal an diesem Bildungsgang ist sicher sein rein literarischer, auf die Sprache und die Autoren der klassischen lateinischen Literatur ausgerichteter Charakter. Die uns vorliegenden Zeugnisse (zumeist grammatische und rhetorische Handbücher und Schulkommentare zu den Klassikern, etwa Vergil und Terenz), machen auf uns oft einen einerseits elementaren und andererseits rückwärtsgewandten, ja sklerotischen Eindruck. Der die Spätantike auf literarischem Gebiet auszeichnende Klassizismus hat in der Tat zu ihrem Ruf als Epoche der Dekadenz beigetragen. Doch darf man dabei nicht übersehen, dass im Gefüge der spätantiken römischen Gesellschaft gerade diese Art von Bildung eine präzise und unentbehrliche Funktion hatte. Die spätantike grammatisch-rhetorische Bildung erfüllt, wie vermutlich jede Bildung, nach einem von Konrad Vössing formulierten Schema die sozialen Funktionen der „Integration, Distinktion, Kommunikation und sozialen Promotion“.[2] Ich will dieses Schema noch etwas weiter vereinfachen und zwei für unsere Zwecke vorrangige Gesichtspunkte hervorheben. Erstens: Bildung (lateinisch litterae, griechisch παιδεία) war ein wesentliches Mittel zur Wahrung eines privilegierten sozialen Status oder zum sozialen Aufstieg. So festgefügt das kaiserliche Verwaltungssystem mit seiner rigiden Stufung der dignitates scheint – es war doch sozial durchlässig genug, um die u.U. kostspielige grammatische und rhetorische Ausbildung begabter männlicher Kinder zu einer erfolgversprechenden Investition zu machen. Dies bezeugt uns etwa Augustinus für Region und Klasse seiner Herkunft, die mehr oder weniger vermögenden Schichten der nordafrikanischen Provinz; er selbst brachte es immerhin bis zum Stadtrhetor der westlichen Reichshauptstadt Mailand (rhetor urbis Mediolani), einer Position, die u.a. mit Aufgaben in der kaiserlichen Repräsentation verbunden war, und durfte von da aus auf eine Provinzverwaltung unterer bis mittlerer Stufe und eine vorteilhafte Heirat hoffen – eine Karriere, die dann bekanntlich durch seine Bekehrung ihr Ende fand. Zweitens: Die spätantike literarische Bildung war gerade dank ihrer konservativ-klassizistischen Erscheinungsform eine Art Code, an dem sich die Angehörigen der gesellschaftlichen Eliten gegenseitig erkannten und anhand dessen sich Zugehörigkeit und Nichtzugehörigkeit definieren ließen. Sie war gleichsam eine Art der Gesittung, die es auch in schwierigen Kommunikationssituationen über ideologische Grenzen hinweg erlaubte, für alle Beteiligten gesichtswahrende Formen zu finden und eine gedeihliche Zusammenarbeit etwa zwischen dem paganen Gouverneur einer Provinz und dem christlichen Bischof vor Ort sicherzustellen. Über die praktische Notwendigkeit hinaus lässt sich hier bereits eine Art Ideal des gebildeten Menschen erkennen – ein Bildungsideal im Sinne der humanitas, in dem die grammatisch-rhetorische Bildung und das durch sie vermittelte Bewusstsein für gesellschaftliche Formen als Kriterium des Menschseins in einem emphatischen Sinne fungiert. Man kann dieses Ideal natürlich wegen seines formellen und außermoralischen Charakters kritisieren. Aus christlicher Sicht ist es überdies wegen seiner fehlenden religiösen Rückbindung bedenklich, woraus sich problematische Situationen für kirchliche Würdenträger ergeben konnten, die als Angehörige der Funktionseliten auf die kommunikativ-integrative Funktion der grammatisch-rhetorischen Bildung nicht verzichten konnten. Die höchst unterschiedliche Art und Weise, wie christliche Akteure der Zeit zu diesem Problem Stellung nahmen – bzw. eine Stellungnahme bewusst vermieden –, wird uns sogleich beschäftigen; zunächst betrachten wir jedoch noch etwas genauer das Ineinandergreifen von Idealität und Pragmatismus im spätantiken Bildungsdiskurs.
Die Konvergenz von Karriere und Bildung: Macrobius
„Der Aufstieg zu den höchsten Ämtern wird häufig durch Bildung befördert“[3] – mit diesen Worten gratulierte der römische Senator Q. Aurelius Symmachus dem Dichter Ausonius brieflich zum Amt des Konsulats. Damit ist einerseits pragmatisch die sozial promovierende Funktion der litterae explizit festgestellt; andererseits ergäbe ein solcher Satz in einem Gratulationsschreiben kaum Sinn, wäre damit nicht auch die ideale Seite der Bildung des Adressaten angedeutet, die seinen Aufstieg als einen verdienten erscheinen lässt. Dasselbe Ineinander finden wir in einem der interessantesten Dokumente nichtchristlicher spätantiker Bildung, den Saturnalien des Macrobius. Neben der breiten Darstellung von Bildungsinhalten führt uns dieses Werk den mit ihrer Hilfe erreichbaren gesellschaftlichen Rang ebenso wie das damit verbundene Ideal vor Augen und liefert uns so gleichsam ein Selbstporträt des gebildeten Heiden im 4. und 5. Jh. n. Chr. Die wohl um 430 (das Todesjahr des Augustinus) herum verfassten Saturnalien sind ein Dialog in der Tradition der Symposionsliteratur. Im Dezember des Jahres 383 treffen sich mehrere namhafte Angehörige der römischen Senatsaristokratie, u.a. der soeben genannte Symmachus, um das Saturnalienfest – das römische Karneval – fern von den Belustigungen des gemeinen Volkes mit kultivierten Gesprächen zu verbringen.Das Niveau der von den Dialogpartnern ausgebreiteten Wissensinhalte ist weitgehend das der Sprach- und Realienkunde des spätantiken Grammatikunterrichts – passend zu dem Widmungsträger des Werks, dem im Teenageralter befindlichen Sohn des Macrobius, dessen Unterrichtung es nach Angabe der Vorrede vorzüglich dienen soll. In diesem Sinne hat der Verfasser die Dialogform zweifellos auch wegen des entscheidenden pädagogischen Vorteils gewählt, dass sie die grammatischen Stoffe nicht nur präsentieren, sondern die sich nach spätantiker Vorstellung mit ihnen verbindenden Funktionen und Ideale gleichsam in Aktion zeigen kann. Die am Dialog beteiligten Personen sind nicht nur dank ihres schier unermesslichen Wissens beeindruckende Persönlichkeiten. Vor allem zeichnen sie sich durch unerschütterliche Stilsicherheit und hohe gegenseitige Wertschätzung aus sowie durch die Fähigkeit, auch in kritischen Situation weder die Contenance noch das Gesicht zu verlieren – mit einem Wort, durch perfekte aristokratische Umgangsformen. Bildung ist hier deutlich das integrierende Element eines elitären Kreises. Besonders plastisch wird das dadurch, dass Macrobius als Kontrastfigur zu den Hauptunterrednern einen Störenfried namens Euangelus eingeführt hat, dessen Wissen eher durchschnittlich und dessen Persönlichkeit unausgeglichen ist und der den Wert der von den anderen vertretenen Bildung immer wieder polemisch in Frage stellt. Die Dialogregie des Macrobius gibt den positiv gezeichneten Hauptunterrednern stets die Gelegenheit, auf diese Attacken mit souveränem Lächeln zu reagieren und einen Wissenstrumpf aus dem Ärmel zu ziehen, der den Angreifer mühelos zum Schweigen bringt.
Die idealisierten Hauptfiguren des Macrobius gehören nicht zufällig der Senatsaristokratie, der angesehensten und vermögendsten sozialen Klasse Roms, an; Euangelus ist dagegen nicht nur ungebildet, sondern auch von gesellschaftlich eher obskurem Rang. Wer einem Symmachus nacheifert, befriedigt damit also auch sein Streben nach Ansehen, Reichtum und möglicherweise sogar nach politischer Macht – und die Pädagogik des Macrobius suggeriert einen Tun-Ergehens-Zusammenhang, nach dem sich die Befriedigung solcher Bedürfnisse für einen im Sinne seines Ideals gebildeten Menschen gleichsam von selbst ergibt. Es sei dahingestellt, wie realistisch diese Vorstellung im spätantiken römischen Kontext gewesen ist; in jedem Fall dient Bildung bei Macrobius in kaum verhüllter Weise der Konservierung gesellschaftlicher Privilegien.
Auffallend ist, dass das Bildungsideal – oder genauer, das Bildungs- und Gesellschaftsideal – des Macrobius durch und durch säkular ist. Zwar haben die Saturnalien eine gewisse religiöse Grundierung im Sinne des die meisten nichtchristlichen Gebildeten der Zeit auszeichnenden herabgetönten philosophischen Monotheismus, doch scheint diese Religiosität (die, nebenbei bemerkt, nicht bei allen Dialogpartnern gleich ausgeprägt ist) eher Bestandteil als Voraussetzung der Bildung zu sein. Jede antichristliche Polemik fehlt, selbst Kenntnis des Christentums scheint zu fehlen; der Grund dafür ist vermutlich die Überzeugung des Macrobius und seiner Dialogfiguren, dass das Christentum, sollte es einmal im Stil des Euangelus lästig werden, leicht von einer Position der überlegenen Bildung her zu disziplinieren wäre und ansonsten eine Auseinandersetzung nicht lohnt. Mit anderen Worten: Ein Christ, der als Gesprächspartner akzeptabel ist, wird sich seinerseits an die Kommunikationsregeln des spätantiken Bildungsdiskurses halten und religiös motivierte Brüskierungen vermeiden. Mit dieser Annahme wird Macrobius für große Teile der alltäglichen Kommunikation unter Gebildeten sogar richtig gelegen haben, und vermutlich ist das einer der Gründe für das Beharrungsvermögen des spätantiken Bildungssystems, das trotz fortschreitender Christianisierung bis ans Ende der Antike stabil bleibt und erst mit dem Zusammenbruch der staatlichen und urbanen Strukturen erlischt. Doch hören wir auch andere Stimmen – nach Lage der Dinge sind es die der Kirchenväter, die über die Jahrhunderte natürlich lauter tönen als die eines Macrobius oder Symmachus, deren Positionen jedoch (und das muss eine historisch sein wollende Interpretation berücksichtigen) zu ihrer Zeit nicht notwendigerweise mehrheitsfähig gewesen sind. Andererseits standen diese Männer jedoch durchaus im praktischen Leben und mussten aufgrund ihrer Tätigkeiten als Bischöfe und Priester Strategien im Umgang mit dem gängigen spätantiken Bildungsdenken und mit den in ihm verwurzelten Menschen entwickeln. Die dabei implizit oder explizit zum Ausdruck kommende Bildungsreflexion differiert freilich je nach Wirkungsintention und Adressatenkreis und kann vom offenen Protest gegen das tradierte Bildungsideal bis zur subtilen Modifikation reichen. Ich will versuchen, dies anhand der Kirchenväter Augustinus und Hieronymus (beide etwa eine Generation älter als Macrobius) exemplarisch vorzuführen.
Eine theologisch-moralische Kritik: Augustinus
Augustinus, der doctor gratiae und wohl einer der wirkungsmächtigsten Kirchenlehrer aller Zeiten, war nach seiner Bekehrung und einem kurzen Zwischenspiel die meiste Zeit seines Lebens Bischof in der nordafrikanischen Hafenstadt Hippo Regius.[4] Seine christliche Ethik ist durch einen strengen Intentionalismus geprägt: Nicht die äußere Handlung, sondern nur die innere Motivation ist einer moralischen Beurteilung zugänglich; und gute innere Motivationen ermöglicht – jedenfalls nach dem mittleren und späten Augustinus – allein die Gnade Gottes. „Nur der Glaube rechtfertigt“ (vgl. Galater 2,16), aber der Glaube selbst ist bereits eine göttliche Gabe. Für unsere Zwecke ist die Bildungsreflexion Augustins deswegen von besonderem Interesse, weil sie Gesichtspunkte, die in dem insgesamt zur Indirektheit neigenden Charakter des spätantiken Bildungsdiskurses (siehe Macrobius) allenfalls implizit vorkamen, direkt und bisweilen schroff thematisiert und weil kritische Aussagen – jenseits des traditionellen christlichen Verbalradikalismus im Stile Tertullians – bei ihm ein philosophisch-theologisches Fundament erhalten.
Augustinus zeichnet im ersten Buch seiner „Bekenntnisse“, der Confessiones, bekanntlich ein beklagenswertes Bild von seiner durch den literarischen Unterricht beim grammaticus geprägten Jugend.[5] Aus der Perspektive des Bischofs und Autors war der junge Grammatikschüler Augustinus von äußerlichen und unwesentlichen Dingen abhängig, während ihm der Zugang zu dem Wichtigsten fehlte: zu Gott und zu sich selbst. Das Ergebnis war ein Zustand von Sündhaftigkeit und Unglück. Inwiefern trug der Grammatikunterricht zu diesem Zustand bei? Augustinus stellt ihn pointiert dem Elementarunterricht im Lesen und Schreiben gegenüber:
Nun aber soll mein Gott in meiner Seele rufen, und deine Wahrheit soll mir sagen: so ist es nicht, so ist es nicht; besser ist gewiss jene frühere Ausbildung. Denn schau, ich bin eher bereit, die Irrfahrten des Aeneas und alles Derartige zu vergessen als das Lesen und Schreiben. […] Sie sollen nicht gegen mich anschreien, die ich nicht mehr fürchte, während ich dir bekenne, was meine Seele will […]; nicht gegen mich anschreien sollen die Verkäufer und Käufer der Grammatik, denn wenn ich ihnen die Frage vorlege, ob es wahr sei, was der Dichter sagt: dass Aeneas einmal nach Karthago gekommen sei, so werden die weniger Gelehrten von ihnen antworten, dass sie es nicht wissen, und die Gelehrteren werden sogar sagen, dass es nicht wahr sei (Augustinus, Confessiones 1,22).
Es soll nicht in Abrede gestellt werden, dass damit auch Fiktionalitätskritik intendiert ist. Wesentlich für das Verständnis dieses und anderer vergleichbarer Texte scheint mir jedoch das gewollte Paradoxe und bewusst Provozierende der augustinischen Sprechweise zu sein. Die Kulturtechniken des Lesens und Schreibens werden mit Blick auf ihre elementare Nützlichkeit positiv mit den literarischen Studien kontrastiert, die lediglich Fiktives zu bieten haben – eine befremdliche Gegenüberstellung, die immer noch zu oft (sei es im Positiven oder Negativen) dem heiligen Zorn des Kirchenvaters mit dem flammenden Herzen zugeschrieben und nicht mit Blick auf ihre höchst kalkulierte Wirkung auf den Leser betrachtet wird. Paradoxie ist ein von Augustinus in den Confessiones immer wieder eingesetztes rhetorisches Mittel, eine Art Verfremdungseffekt, der die gewohnheitsmäßigen, gemeinhin unreflektierten Haltungen und Wertungen des Lesers in Frage stellen und ihm zu einer neuen, von Konventionen unbeeinflussten und entschieden christlichen Perspektive verhelfen soll. Entscheidend ist das Stichwort „Wahrheit“, mit dem der Text bereits einsetzt. Der Begriff ist von höchster theologischer Bedeutung, insofern die „im“ Menschen gegenwärtige, sich „rufend“ bemerkbar machende Wahrheit Gottes für die zweite Person der Trinität steht, für Christus, der in Augustins philosophischem Denken durch seine Gegenwart in der menschlichen Seele Grund und Kriterium für jede dem Menschen mögliche Erkenntnis ist. Vor diesem Hintergrund ist der Kern von Augustins Vorwurf gegen die Grammatiker nicht oder doch nicht in erster Linie, dass die mythologische Erzählung von Aeneas’ Ankunft in Karthago, die man bei ihnen auswendig lernte, keine historisch verbürgte Tatsache ist. Der Vorwurf würde in derselben Weise treffen, wenn alle Erzählungen der Aeneis historisch richtig wären oder wenn statt der mythologischen Dichtung Vergils das historische Epos Lucans Schullektüre wäre. Die Grammatiker geben offen zu, dass sie über die historische Richtigkeit der vergilischen Erzählung nicht Bescheid wissen oder dass sie sie sogar für falsch halten; Wahrheit ist ein Gesichtspunkt, der für das Funktionieren ihres Unterrichts ohne Relevanz ist. Damit, so Augustinus, versperrt der Grammatikunterricht den Zugang zu der in unserem Inneren vernehmbaren Wahrheit, konkret: zur Gotteserkenntnis und den Grundsätzen eines ethisch richtigen Lebens.
Das wäre eine völlig überzogene Kritik, wenn sie sich nur gegen den Schulunterricht und seine Inhalte, wie eben die Vergillektüre, richtete. Man versteht diesen und ähnliche Texte Augustins indessen m.E. nicht richtig, wenn man unberücksichtigt lässt, dass ihre eigentliche Stoßrichtung die gesellschaftliche, sozialisierende oder im ungewollten oder zumindest nicht ausdrücklich gewollten Sinne erzieherische Wirkung dieses Unterrichts ist, mit anderen Worten: eben jene Züge der spätantiken Bildung, die im zeitgenössischen Bildungsdiskurs verschwiegen oder allenfalls angedeutet wurde und gemeinhin hinter dem idealisierenden Charakter dieses Diskurses verschwand. Im diametralen Gegensatz zu einem Macrobius, der der literarischen Bildung per se einen moralischen Nutzen zuschrieb, behauptet Augustinus, dass die Grammatik nicht nur nicht moralisch neutral ist, sondern sogar moralisch deformierend wirkt. Wie sich das konkret vollzieht, sagt er uns in seinem Bericht über die Erziehung zur Fehlervermeidung. Fehler zu vermeiden, war eines der ausdrücklichen Lernziele des Grammatikunterrichts; und die wichtigsten, in den Quellen immer wieder genannten Fehler waren die falsche Aussprache („Barbarismus“) und die falsche grammatische Fügung („Solözismus“). Wenn allerdings sprachliche Richtigkeit die einzige Norm ist, nach der sich das erzieherische Handeln richtet, dann, so Augustinus, verkümmert notwendig das moralische Empfinden der Schüler. Der Lehrer vermittelt durch sein Verhalten Werte, auch ohne es ausdrücklich zu wollen.Verursacht durch die Belange des Unterrichts, ergibt sich bei den Schülern eine inhaltliche Festlegung der ethischen Grundbegriffe „gut“ und „schlecht“ auf äußere, nicht-moralische Werte: Im sozialen Kontext der Grammatikschule ist derjenige Schüler ‚gut’, der kein höheres Lob als das seiner guten Aussprache und Ausdrucksfähigkeit kennt und den keine Kritik härter trifft als die an seinen sprachlichen Fähigkeiten. In dieser Wertsetzung bestärkt ihn der Erfolg, den er damit erzielt, wenn er etwa seinen Mitschülern als Vorbild präsentiert wird (vgl. Confessiones 1,28). Bedenkt man nun noch die Bedeutung des Grammatikunterrichts als Vorbereitung auf das gesellschaftliche Leben, so wird man – so jedenfalls Augustins Argumentation – überall und gerade an den Schaltstellen der Gesellschaft Menschen begegnen, die die Werte dieses Unterrichts verinnerlicht haben und ihr Selbstbewusstsein und Überlegenheitsgefühl allein aus ihrer sprachlichen Kompetenz beziehen, während ihnen der Gedanke moralischer Kompetenz fremd ist. Das ist nichts anderes als ein mit höchster analytischer Schärfe und höchstem moralischen Anspruch vorgenommenes negatives Psychogramm der Idealfiguren spätantiken Bildungsdenkens, die uns bei Macrobius begegnet sind, und der zahlreichen Mitglieder der spätantiken Gesellschaft, für die dieses Ideal das Ziel aller Wünsche war.
Die Confessiones bieten also eine drastische, das spätantike Bildungsdenken zur Kenntlichkeit entstellende Bildungsreflexion, die – übrigens in durchaus sokratischer Weise – auf die innere Verunsicherung eines in diesem Bildungsdenken verhafteten Lesers zielt. Natürlich ist diese Verunsicherung kein Ziel an sich; die Lektüre der Confessiones soll keine innere Leerstelle hinterlassen, sondern im Denken des Lesers Raum für die wahre, christliche Philosophie schaffen. Dieser protreptische und, wenn man so will, missionarische Zug von Augustins Bildungskritik ist deutlich erkennbar in solchen Texten, die von konkreten Begegnungen Augustins mit Absolventen des in den Confessiones kritisierten Bildungsbetriebs – Christen wie Heiden – zeugen: seinen Briefen. Die Briefe führen uns klar vor Augen, dass Augustinus sich den scharfen, an wunde Punkte rührenden und Unausgesprochenes explizit machenden Tonfall der Confessiones, der einen eklatanten Bruch der ungeschriebenen Regeln des Umgangs unter Gebildeten darstellte, nur aufgrund einer zweifachen Autorität leisten konnte: zum einen seiner Amtsautorität als Bischof, zum anderen aber, weil er selbst ein im spätantiken Sinne hochgebildeter Mann war, dem – zumindest in seinem nordafrikanischen Umfeld – niemand das Wasser reichen konnte. Wir finden in seinem Briefcorpus immer wieder Zeugnisse dafür, wie Korrespondenten sich ihm auf der Ebene des Bildungsdiskurses, d.h. auf der Basis der spätantiken Kommunikationsregeln, zu nähern versuchen. Natürlich sind seine Reaktionen in diesen Fällen nur ausnahmsweise von derselben Drastik wie in dem literarisch-überpersönlichen Text der Confessiones. Je nach gesellschaftlichem Rang des Briefpartners waren – auch kirchenpolitische – Rücksichten zu nehmen; im Interesse der Einwirkung auf das Gegenüber ist der Ton in aller Regel recht verbindlich. Dennoch kenne ich kein Beispiel, in dem sich Augustinus den ihm vom Gegenüber nahegelegten Regeln einfach fügt. Spätestens nach einigen höflichen einleitenden Zeilen wird die christlich-ethische Perspektive eingenommen, und Tonfall und Thema wechseln zu einer schonungslosen Analyse der Motive und Intentionen des Briefpartners.
Bildung als Vehikel der christlichen Mission: Hieronymus
Eine ganz andere Art des Umgangs mit der Bildung und mit den Gebildeten finden wir bei Augustins etwas älterem Zeitgenossen Hieronymus, dem Übersetzer des Alten Testaments aus dem Hebräischen und größten Bibelphilologen der antiken lateinischen Christenheit.[6] Der Adressatenkreis seiner exegetischen Schriften und insbesondere seiner Briefe war die christliche Fraktion der stadtrömischen Senatsaristokratie, die er für das strenge monastische Asketentum östlichen Stils und das mönchische Virginitätsideal zu gewinnen suchte. Er hatte es also in noch weit höherem Maße als Augustinus mit Adressaten zu tun, die von ihrer gesellschaftlichen Stellung und ihrer ganzen Sozialisation her Vertreter eben jener Bildungsideologie und jenes aristokratischen Bildungsideals waren, dessen Selbstporträt wir bei Macrobius kennengelernt haben. Es war trotz des Christentums dieses Personenkreises und trotz ihrer unbezweifelbaren Sympathien für das Mönchtum zu erwarten, dass das Bildungsdenken, mit dem sie großgeworden waren und das das integrative Element ihrer sozialen Klasse darstellte, in innere und äußere Konflikte mit ihrem neuen, christlichen Bekenntnis geriet – man muss sich erinnern, dass im 4. Jh. individuelles Christentum zumeist die Folge einer Bekehrung im Erwachsenenalter war. Und dass insbesondere die unliterarische Sprache der lateinischen Bibelübersetzung für an Vergil und Cicero geschulte Personen ein ernstes Bekehrungshindernis war, bezeugen uns nahezu alle lateinischen Kirchenväter. Hieronymus hatte es also mit einem selbstbewussten, anspruchsvollen und in mancher Hinsicht schwierigen Publikum zu tun, und er stellte seine protreptisch-missionarische Strategie darauf ab. Zunächst kam es darauf an, auf seine Leser den Eindruck eines würdigen Gesprächspartner zu machen, mit anderen Worten: sich als einen hochgebildeten Schreiber mit geschliffenen Manieren in Szene zu setzen. Hieraus erklären sich die häufigen und recht ostentativen Zitate aus der klassischen lateinischen Literatur, die Hieronymus in seinem eigenen Umfeld, dem Mönchtum, manche Kritik eintrugen, die aber für seinen Umgang mit einem durch Grammatikunterricht sozialisierten Publikum unverzichtbar waren. Doch erschöpft sich seine Strategie darin nicht. Hieronymus versteht es vielmehr, seinen Adressaten in einer ihren höchsten literarischen Ansprüchen genügenden Form nahezulegen, dass die Bildung, aus der sie ihr Selbstbewusstsein beziehen, letzten Endes nur eine elementare ist, die für die wahre Bildung nicht mehr als eine notwendige Voraussetzung etwa vom Range des Lesen- und Schreibenkönnens ist – und wahre Bildung ist für den Bibelübersetzer und Philologen Hieronymus selbstverständlich die biblische Gelehrsamkeit. Das ist Hieronymus‘ Botschaft, die noch aus den bildungsbeflissensten seiner Briefe spricht und mit der er seine auf ihre traditionelle Bildung stolzen Adressaten immer wieder von neuem in eleganter und doch deutlicher Form konfrontiert. Nehmen wir das folgende Stück aus einem Brief an die römische Aristokratin Marcella, in dem Hieronymus die eben skizzierte Position nicht nur biblisch mit einem Pauluszitat beglaubigt, sondern ihr durch eine höchst amüsante, spätantikem literarischem Geschmack genau entsprechende Pseudo-Bescheidenheit alles Anstößige nimmt:
Du weißt ja, ich habe mich so lange bei hebräischer Lektüre aufgehalten, dass ich im Lateinischen Rost angesetzt habe und mir sogar beim Sprechen manche unlateinischen Zischlaute dazwischenkommen. Verzeih mir also den trockenen Ton. Der Apostel sagt: „Auch wenn ich in der Sprache ungebildet bin, so bin ich es doch nicht im Wissen“ (2. Korinther 11,6). Ihm fehlte beides nicht, aber das eine leugnete er demütig ab; mir fehlt beides, weil ich jede lobenswerte Fähigkeit, die ich als Knabe hatte, verloren und das Wissen, das ich haben wollte, trotzdem nicht erlangt habe; ich habe – Äsops Fabel vom Hund – Großes erstrebt und dabei auch das Geringere eingebüßt (Hieronymus, Epistulae 29,7,2).
Es spricht für die Humorresistenz mancher Philologen, dass man Hieronymus’ Behauptung, er habe Latein mit syrischem Akzent gesprochen, bisweilen buchstäblich genommen hat. Hieronymus gibt uns hier in brillanter Weise zu verstehen, dass seine Stilsicherheit im Lateinischen ebenso wie seine Expertise in der alttestamentlichen Wissenschaft erstrangig ist, indem er genau das Gegenteil sagt. Die Hierarchie der beiden Wissensgebiete ist zudem durch die Assoziation von literarischer Bildung und Knabenalter sowie die Anspielung auf die Phaedrusfabel – fraglos ein elementarer Text des Grammatikunterrichts – deutlich gemacht. Von der bisweilen schroffen, auf Verunsicherung angelegten Kritik Augustins am zeitgenössischen Bildungsideal ist das weit entfernt, doch regt fraglos auch dieser Text zum Überdenken der in Hieronymus‘ Adressatenkreis als selbstverständlich geltenden, den Bildungsbegriff betreffenden Wertsetzungen an. Schematisch gesprochen, ist die Differenz zwischen Hieronymus und Augustinus (vom theologischen Niveau einmal abgesehen) die zwischen Explizitheit und Implizitheit, von frontalem Angriff und Dekonstruktion von innen heraus. Kern der Differenz ist die Frage, wie weit man sich bei der christlichen Nutzung „paganer“ Kulturgüter und insbesondere der paganen Bildung auf das Terrain des Gegners begeben sollte. Ich kann hier nur andeuten, dass dieses Problem in dem langjährigen und keineswegs nur von Harmonie geprägten Briefwechsel zwischen den beiden Kirchenvätern zu der einen oder anderen Verwerfung geführt hat.
Es liegt auf der Hand, dass man eine direkte kritische Thematisierung der sozialen Funktion von Bildung, wie wir sie bei Augustinus kennengelernt haben, bei Hieronymus nicht finden wird. Sie wäre für seine missionarische Strategie schlicht kontraproduktiv gewesen. Es gibt allerdings eine Ausnahme. Gegenüber dem christlichen römischen Senator Pammachius, der sich nach seiner Verwitwung für eine monastisch-karitative Lebensweise entschieden hatte, äußert sich Hieronymus wie folgt:
Die erste Tugend eines Mönchs besteht darin, die Urteile der Menschen zu verachten und stets das Wort des Apostels im Sinn zu haben: „Wenn ich den Menschen noch gefallen wollte, wäre ich nicht Christi Diener“ (Galater 1,10). […] Einen Geist, der eine freie Bildung genossen hat, bezwingt leichter Scheu als Furcht; wen Qualen nicht besiegen, den besiegt bisweilen die Scham. Es ist nicht zu unterschätzen, dass ein vornehmer, beredter und begüterter Mann auf der Straße die Gesellschaft der Mächtigen meidet, sich mit der breiten Masse mischt, sich bei den Armen aufhält und unter die Ungebildeten geht, kurz, dass er nicht mehr Führungspersönlichkeit, sondern Pöbel ist (Hieronymus, Epistulae 66,6,1-2).
Es handelt sich hier um warnende Worte, mit denen Hieronymus seinen Freund auf Gefährdungen aufmerksam macht, denen sein Entschluß zu einem streng christlichen Leben ausgesetzt sein wird. Der Hauptgesichtspunkt ist das, was Hieronymus „Scheu“ (verecundia) oder „Scham“ (pudor) nennt – mit anderen Worten, die Erfahrung, von der eigenen sozialen Gruppe, von der man Anerkennung und Respekt gewohnt war, ausgeschlossen und erniedrigt zu werden. Gerade weil der Zusammenhalt der senatorischen Schicht nicht primär auf finanziellen oder Machtinteressen gründet, sondern auf etwas Sublimerem wie der Bildung, entfaltet er bei vornehmen Gemütern wie Pammachius eine besondere Bindekraft – Hieronymus stellt sich, sicher nicht ganz zu Unrecht, vor, dass es dem Senator leichter fallen wird, sich von seinem Vermögen zu trennen, als sich von der traditionellen klassischen Bildung zu distanzieren. Hieronymus‘ treffende Einsicht, dass die Kultur der spätantiken Gebildeten – wie man nur leicht anachronistisch sagen könnte – eine Schamkultur darstellt, ist dabei bemerkenswert: Sie wird durch das Selbstporträt dieser Schicht, das Macrobius für uns gezeichnet hat, in vollem Maße bestätigt. Das Gegenmittel, das Hieronymus seinem Adressaten anempfiehlt, ist das der christlichen Demut (humilitas): Pammachius soll an die Stelle seiner durch Bildung beförderten Zugehörigkeit zur Elite das symbolische Außenseitertum des radikalen christlichen Asketen setzen (er soll, wie Hieronymus imaginiert, in der Mönchskutte im Senat sitzen) und in Spott und Ablehnung seiner ehemaligen Standesgenossen Bestätigung und Kraft für sein Leben in Christus finden. In einem solchen Kontext, wo das missionarische Ziel des Hieronymus in der Lösung seines Adressaten von seiner Bezugsgruppe besteht, war es missionsstrategisch sinnvoll, die integrative Funktion der Bildung für diese Gruppe ausdrücklich zu benennen und neu, nämlich negativ, zu bewerten. Wenn wir also in so gut wie sämtlichen anderen Briefen des Hieronymus eine derartige Umwertung nicht finden, so liegt das nicht an der mangelnden Einsicht des Autors, sondern an einer differierenden Sprechsituation: In aller Regel versucht Hieronymus die römischen Gebildeten für seine Sicht des Christentums zu gewinnen, indem er ihr Selbstbewusstsein und Selbstbild nicht unterminiert, sondern übernimmt und von da aus Brücken zu seiner eigentlichen Botschaft schlägt. Die Modifikationen, die er dabei vornimmt, sind ernst zu nehmen; dennoch ist festzustellen, dass literarische Bildung von Hieronymus – anders als von Augustinus – im Grundsätzlichen in der gesellschaftlich akzeptierten Weise eingesetzt wird.
Schluss
Versuchen wir abschließend eine Zusammenfassung und einen kurzen Ausblick. Wie wir gesehen haben, ist das spätantike Bildungsideal, wie es sich in den Saturnalien des Macrobius exemplarisch artikuliert, bei Augustinus Gegenstand einer ebenso energischen wie scharfsinnigen und philosophisch-theologisch gestützten Kritik gewesen, während der Umgang des Hieronymus mit demselben Ideal zwar kunstvoll lavierend, aber seinem Profil nach jederzeit klar und explizit christlich ist. Keiner dieser Kirchenväter hat sich also mit der sozialen Funktion von Bildung in der Spätantike und mit der Tendenz, diese Funktion mit einem idealisierenden Diskurs zu verschleiern, ohne weiteres abfinden wollen. Aber haben sie wirklich etwas an ihre Stelle zu setzen? Gewiss propagiert Hieronymus biblische Gelehrsamkeit, und Augustinus entwirft in De doctrina christiana ein positives Konzept „christlicher Bildung“. Doch denkt keiner von beiden in dieser Hinsicht gesellschaftlich oder institutionell. Letztlich werben sie beide für ein entschiedenes, asketisch orientiertes Christentum; und unter dieser Perspektive gehört das Bildungswesen unaufhebbar zur „Welt“, dem Bereich des Daseins, der prinzipiell widergöttlich und mithin unreformierbar ist. Es verwundert daher nicht, dass die spätantike grammatisch-rhetorische Bildung mit ihrer Tendenz zum „Ineinanderfallen von Schulbildung und Bildungsideal“ (Vössing)[7] Bestand hatte, solange die spätantike Gesellschaft selbst bestand – übrigens auch und gerade bei fortschreitender Christianisierung des Imperiums. Als mit zunehmender Erosion der staatlichen Verwaltungsstrukturen die Bischöfe zunehmend an die Stelle weltlicher Funktionsträger traten und das Bischofsamt zum Karriereweg der Oberschichten wurde, wurde auch deren Bildungsideal fast bruchlos übernommen – Zeugnisse aus dem römischen Gallien des 5. Jahrhunderts zeigen uns Bischöfe, die ihrem Bildungsdenken und ihren Umgangsformen nach wie Zwillinge der Protagonisten des Macrobius wirken. Wenn daher am Ende der Antike, bei Cassiodor und Isidor von Sevilla, die Klöster als Bewahrer der antiken Bildung an die Stelle der Schulen treten, so ist das weder der Bildungsreflexion der Kirchenväter noch überhaupt im engeren Sinne bildungsgeschichtlichen Ursachen geschuldet, sondern schlicht dem Ende der urbanen Strukturen, in deren Rahmen die alten Bildungseinrichtungen existiert hatten.
[1] Vortrag, gehalten während der 35. Tagung der Sokratischen Gesellschaft am 30. April/1. Mai 2011 in Würzburg.
[2] K. Vössing, Schule und Bildung im Nordafrika der Römischen Kaiserzeit, Brüssel 1997, S. 595-613.
[3] Symmachus, Epistulae 1,20: Iter ad capessendos magistratus saepe litteris promovetur.
[4] Zur Biographie vgl. P. Brown, Augustinus von Hippo. Eine Biographie, München 22000 (11973; zuerst englisch: Augustine of Hippo. A Biography, Berkeley 22000, 11967).
[5] Vgl. zum Folgenden C. Tornau, Augustinus und das ‚hidden curriculum’. Bemerkungen zum Verhältnis des Kirchenvaters zum Bildungswesen seiner Zeit, Hermes 130, 2002, S. 316-337; ders., Zwischen Rhetorik und Philosophie. Augustins Argumentationstechnik in De civitate Dei und ihr bildungsgeschichtlicher Hintergrund, Berlin/New York 2006, S. 20-35.
[6] Zum Folgenden vgl. C. Tornau, Zwischen Rhetorik und Philosophie (oben Anm. 4), S. 73-105. Zur Biographie des Hieronymus: A. Fürst, Hieronymus. Askese und Wissenschaft in der Spätantike, Freiburg 2003.
[7] Vössing, Schule und Bildung (oben Anm. 1), S. 39-42.
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