Hans Keilson ist eine Jahrhundertgestalt. Am 12. Dezember 2014 würde er 105 Jahre alt werden (er starb am 31. Mai 2011). Bis ins hohe Alter hinein war der Arzt, Psychoanalytiker, Pädagoge und Schriftsteller geistig sprühend und voller Lebensenergie. Bereits als 23-Jähriger publizierte er eine bemerkenswerte Erzählung („Das Leben geht weiter. Eine Jugend in der Zwischenkriegszeit“). „Gerade noch rechtzeitig, um verboten zu werden“, merkte Keilson einmal ironisch an. Als Jude wurde er verfolgt, floh aus Deutschland in die Niederlande und arbeitete dort in der Untergrundbewegung. Nach dem Krieg schlug er eine Laufbahn als Psychoanalytiker ein. Mehrere Jahrzehnte lang widmete er sich auf der Basis der freudschen Schriften schwer traumatisierten jüdischen Kindern und Jugendlichen.
Kurz nach dem Krieg – Keilson überlebte die Nazizeit, seine Eltern hingegen wurden in Birkenau ermordet – verfasste er seine zweite größere Erzählung – „Komödie in Moll“ – auch wenn das in ihr enthaltene Thema alles andere als lustig ist. Angesiedelt ist diese in den Niederlanden mitten im Zweiten Weltkrieg. Viele Niederländer versteckten damals einige Tausende Juden, hielten sie in Hinterkammern und Mansarden verborgen und ernährten sie mit „schwarzen“ Lebensmittelkarten. So auch Wim und Marie, das junge Ehepaar der Erzählung. Sie nehmen den älteren Nico bei sich zu Hause auf und retten ihn dadurch vor der unvermeidlichen Deportation. Ein dreiviertel Jahr geht alles gut. Doch dann wird Nico krank und stirbt an einer Lungenentzündung. Das junge Paar wird dadurch vor eine schier unlösbare Aufgabe gestellt: Wohin bringt man die Leiche, ohne selbst aufzufliegen. Der hinzugezogene Arzt, Keilsons Alter Ego, ist eingeweiht und hilft, dem toten Juden die größtmögliche Seriosität zuteilwerden zu lassen. Doch ein kleiner, aber entscheidender Fehler macht aus den Helfern selbst Verfolgte. „Wim und Marie waren nicht ängstlich von Natur. Als sie den Entschluss fassten, jemanden bei sich zu verstecken, hatten sie das Risiko, das sie damit auf sich nahmen, ziemlich deutlich vor Augen – bis zu einem gewissen Maße, soweit man ein Risiko a priori einschätzen kann. Denn es fällt unter die Kategorie 'Überraschung', und diese ist eben nicht im Voraus zu berechnen.“
Keilson, dessen literarisches Werk lange als Geheimtipp galt und der auch heute noch viel zu wenig bekannt sein dürfte, hat in einer tragisch-bizarren, ja beinahe makabren „Lustspielsituation“, die ganz von seiner eigenen illegalen Untergrundtätigkeit geprägt ist, die Rollen seiner Protagonisten verändert. „Er hatte sich gegen den Tod zur Wehr gesetzt, der von außen kam. Da hatte ihn jener von innen geholt. Wie in einer Komödie, in der man den Auftritt des Helden, der die Auflösung bringt, von rechts erwartet. Und er kommt von links aus der Kulisse.“ Eindrucksvoll vermag der Autor das lange Warten, die Angst, gleichzeitig aber auch den Übergang zu Alltäglichkeiten, wiederzugeben. Besonders das stille Portrait des im Verborgenen lebenden Nico gelingt ihm klar und präzise: „Er war nie ein Stubenhocker gewesen, jetzt musste er es sein. Es kam ein Frühling, ein Sommer, ein Herbst … hinter der Gardine. Nicht immer war das weite Land, der Himmel, das Meer in der Ferne ein Trost, eine Labe fürs Auge. Zu oft, nur zu oft das Tor, das verschlossen blieb.“
Die Prosa des Deutsch-Niederländers entfaltet – wenn man einen Vergleich anstreben möchte – den gleichen unentrinnbaren Sog, in den auch Kafka-Leser unumgänglich gezogen werden. Der rote Faden bleibt trotz seiner leisen, beinahe pathoslosen Langsamkeit und allen vermeintlichen Abschweifungen stets vorhanden. Keilsons Text erzeugt trotz seiner mutmaßlichen Schwerelosigkeit, eine unheimliche Unruhe und zieht den Leser in eine fast manische Suche nach Erklärungen: „In Vorgänge dort, wohin die Sprache nicht reicht“.
Fazit: „Erinnerungen stiegen auf, nicht nur die des eigenen, persönlichen Lebens, Geschichte wurde Gestalt, Vergangenes sprach die blutige Sprache eines Geschickes. Und Grauen, Grauen, so überwältigend, wie nur etwas sein kann, was aus dem Vergessen aufsteigt.“ Hans Keilson ist mit „Komödie in Moll“ ein feingeistiges, spannendes, unglaublich realitätsnahes und zuweilen mit bitterem Humor durchtränktes kleines Kammerspiel gelungen, das an eine unrühmliche Zeit erinnert. Er mahnt, ohne mit dem erhobenen Zeigefinger zu wedeln. Diesen Autor sollte man gelesen haben.
„Bücher kann man wieder neu auflegen. Von Büchern gibt es schließlich Archivexemplare. Von Menschen nicht.“ (Hans Keilson)
Hans Keilson
Komödie in Moll. Erzählung
Fischer Taschenbuch Verlag (November 2010)
96 Seiten, Broschur
ISBN-10: 3596191890
ISBN-13: 978-3596191895
Preis: 6,95 EUR
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