„Den späten Herbst kannst Du in mir besehen:
Die letzten gelben Blätter eingegangen
An Zweigen, die dem Frost kaum widerstehen,
Und Chorruinen, wo einst Vögel sangen.
In mir siehst Du den späten Tag sich neigen,
Das Dunkel in die graue Dämmrung dringen,
Die Nacht mit ihrer Schwärze langsam steigen
Und Todes Bruder, Schlaf, die Welt umschlingen.
In mir siehst Du die Glut von alten Bränden,
Gebettet auf die Asche bessrer Zeiten –
Ein Sterbelager, wo sie muss verenden,
Verzehrt vom Brennstoff eigner Lustbarkeiten.
Siehst Du all dies, wird's Deine Liebe steigern:
Denn was Du liebst, wird Tod Dir bald verweigern.“
Das Sonett 73 von William Shakespeare, ein Gedicht über Liebe und Verlust, nimmt in dem bereits 1965 in den USA veröffentlichten, damals unverständlicherweise kaum wahrgenommenen und heute wieder neu entdeckten, wunderbaren Roman von John Williams (1922 – 1994) eine Schlüsselfunktion ein. Zum einen für seinen Protagonisten, zum anderen fungiert es als roter Faden, als literarisches Rahmengerüst für den gesamten Text. Einen Bogen von über 65 Jahre überspannt der amerikanische Autor in seinem empathischen, leisen Roman, der die Frage aufwirft: Was bleibt nach dem Tod von einem Menschen übrig, der nicht durch großes Getöse auf sich aufmerksam machte?
Erzählt wird der Lebensweg William Stoners, einem Doktor der Philosophie an der Universität von Missouri im Fachbereich Englisch. 1891 auf einer kleinen Farm im tiefsten Missouri aufgewachsen, soll es der Sohn einmal besser haben als seine schon früh gealterten, leblosen Eltern. Sie schicken ihn auf die Universität. Doch das Studium der Agrarwirtschaft bricht er nach einem Einführungskurs in englischer Literatur und eben jener Begegnung mit dem Sonett des großen englischen Dichters ab, um sich fortan ausschließlich der Geisteswissenschaft zu verschreiben. Hier wird er sich erstmals seiner selbst bewusst. „Die Vergangenheit schälte sich aus dem Dunkel, in dem sie blieb, und die Toten erhoben sich, um vor ihm zum Leben zu erwachen; beide, die Vergangenheit und die Toten, mischten sich in die Gegenwart und unter die Lebenden, wodurch Stoner einen intensiven Moment lang eine Vision von Dichtigkeit überkam, in die er fest eingefügt war und der er nicht entkommen konnte, der er auch gar nicht entkommen wollte.“ Durch die Literatur lernt er zu sehen. Sie wird ihm zur Heimat, gibt ihm einen Platz und Hort, auch wenn das Leben und die Geschichte in großen, brausenden, zuweilen zerstörerischen Wellen über ihn hinwegzieht.
Wer war William Stoner? „Den Älteren bedeutet sein Name eine Erinnerung an das Ende, das sie alle erwartet, für die Jüngeren ist bloß ein Klang, der ihnen weder die Vergangenheit näherbringt noch eine Person, die sich mit ihnen oder ihrer Karriere verbinden ließe.“ Was auf den ersten Blick wie eine langweilige Beschreibung eines gewöhnlichen, nichtssagenden Lebens aussieht, offenbart allerdings auf den zweiten eine außerordentlich genaue Beobachtungsgabe. Mit Scharfblick fokussiert John Williams seinen Plot auf die zwei Leidenschaften in Stoner Lebens: die Liebe und das Lernen. Allerdings scheitert sein Protagonist in gewissem Sinne bei beiden. Seine Frau, die maliziöse Edith Elaine Bostwick, wird von dem Moment an, da er sie trifft, kalt und abweisend. Ihre Flitterwochen, in denen sie sich ihm mit einer nahezu brutalen Abneigung unterwirft, geraten zur Farce. Schon bald wird mit einem Klang des Unvermeidlichen offensichtlich, „dass seine Ehe scheitern würde, nach einem Jahr hoffte er nicht mehr darauf, dass es je besser werden würde. Er lernte mit der Stille zu leben und nicht auf seiner Liebe zu beharren.“ Gefangen in der leeren Hülle seiner Ehe, „versagt“ er allerdings auch im universitären Gefüge. Stoner wird weder ein großer Lehrer, noch ein bekannter Gelehrter, sondern widmet sich mit scheinbar stoischer Zufriedenheit seiner ersten Liebe: die zur Literatur. Doch fehlt ihm auch hier das Talent, diese auf seine Studenten zu übertragen. Seine tief verwurzelte Zurückhaltung versteckt er hinter einer Fassade der Teilnahmslosigkeit.
Fazit: Nur wenigen, in ihren Grundzügen derart trauriger Geschichten, glückt es trotz alledem so unterschwellig zu triumphieren und zu berauschen wie diesem Roman. John Williams erzeugt in der Beschreibung von Stoners Schicksal auf unnachahmliche Weise eine seltene Welle der Empathie. In einer wunderschönen Sprache und plastischem Stil, der gerade in seiner Zurückhaltung eine immense Eloquenz aufweist, schildert der Autor das bescheidene, aber durchaus lebens- und beachtenswerte Leben eines Mannes und seine zunehmende Entfremdung von der modernen Welt. „Stoner“ offenbart sich als College-, Liebes- und Entwicklungsroman, gehalten in leisen und zaghaften Tönen. Der Roman generiert großartige Charakterstudien, die zum Nachdenken und Hinterfragen anregen. Letztendlich ist das Buch auch eine Liebeserklärung an die Literatur, die Sprache, an das Mysterium des Verstandes und des Herzens. Ein Text, der trotz seines dunklen, trostlosen Timbres jede Zeile wert ist, gelesen zu werden, zudem wenn er so kongenial aus dem Amerikanischen übertragen wurden wie es Bernhard Robben gelungen ist.
John Williams
Stoner
Aus dem Amerikanischen von Bernhard Robben
dtv Verlag (August 2013)
349 Seiten, Gebunden
ISBN-10: 3423280158
ISBN-13: 978-3423280150
Preis: 19,90 EUR
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