Leserbrief zum Tod Franz Josef Degenhardts

Der am 14. November in Quickborn bei Hamburg verstorbene Rechtsanwalt, Protestsänger und Schriftsteller Franz Josef Degenhardt (1931-2011), der am 3. Dezember seinen 80. Geburtstag hätte feiern können, war 20 Jahre vor dem Mauerfall auch mit dem Ostberliner „Liedermacher“ Wolf Biermann befreundet, der am 15. November in Hamburg seinen 75. Geburtstag feiern konnte. Irgendwann um 1970 besuchte der Verfasser der „Schmuddelkinder“ den seit Dezember 1965 unter Berufsverbot stehenden Biermann in der Ostberliner Chausseestraße und schmuggelte dann ein in einer Streichholzschachtel verstecktes Tonband mit unveröffentlichten Biermann-Liedern nach Westberlin, die dann als Schallplatte unter dem Titel „Der Biermann kommt“ erschienen sind. Die Freundschaft zerbrach, als Degenhardt auf SED-Positionen einschwenkte und seine früheren Ansichten widerrief!
Zur Zeit des kurzlebigen „Prager Frühlings“ 1968 nämlich war Degenhardt wie Biermann Anhänger des Reformkommunismus Alexander Dubceks, der die Revolution „auf eine neue Stufe“ zu heben versuchte. Nachlesen kann man das alles in dem Lied „Zu Prag“, einer Hymne auf den „Prager Frühling“. Dann kam der 21. August 1968, als in der Nacht die Truppen des „Warschauer Pakts“ von drei Himmelsrichtungen in die Tschechoslowakei einrückten und die „Konterrevolution“ mit ihren Militärstiefeln niedertrampelten. Der damals nach Prag ausgebürgerte DDR-Schriftsteller Manfred Bieler(1934-2002) rief in der Nacht noch einen Freund in Ostberlin an und hielt den Telefonhörer aus dem Fenster, damit er die rasselnden Panzerketten hören konnte.
Nach dem Einmarsch geriet Degenhardt unter den Einfluss der westdeutschen Kommunisten von der DKP und näherte sich deren Positionen an. Nun verdammte er den Reformkommunismus als „Konterrevolution“, revidierte seine ideologischen Positionen und wurde 1978 DKP-Mitglied. Seinem Lied „Zu Prag“ hängte er eine letzte Strophe an, worin er seine Empörung von 1968 widerrief. Nachzulesen ist das in Heinz Ludwig Arnolds Anthologie von Degenhardt-Liedern, erschienen 1979 bei Bertelsmann in München. Seine DDR-Nähe hat sich ausgezahlt: Sein Roman „Brandstellen“ (1974) wurde 1978 von der DEFA verfilmt!

Über Jörg Bernhard Bilke 263 Artikel
Dr. Jörg Bernhard Bilke, geboren 1937, studierte u.a. Klassische Philologie, Gemanistik und Geschichte in Berlin und wurde über das Frühwerk von Anna Seghers promoviert. Er war Kulturredakteur der Tageszeitung "Die Welt" und später Chefredakteur der Kulturpolitischen Korrespondenz in der Stiftung ostdeutscher Kulturrat.

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