„Lenz, Goethes Freund ist hier, aber er ist kein Goethe“ – 50 Tage in Kochberg: Jakob Lenz und Charlotte von Stein

Foto: Stefan Groß

           Es gibt immer Biographien, die divergie­ren wie die von Goethe und von Lenz. Es    gibt besudelte Siege, und es gibt die reine Niederlage. Zusammen sind sie ein Gutteil    der deutschen Literatur. (Volker Braun, 1991)

I.               ANNÄHERUNG

Wer über Lenz und Frau von Stein nachdenkt, sollte stes im Blick haben, wie Johann Wolfgang Goethe zu beiden im Allgemeinen und in besonderen Situationen stand. Die obige Titelsequenz, wonach Lenz nicht Goethe sei, bringt es auf den Punkt: Für Charlotte von Stein war Goethe, wie sie dem Leibarzt und Hofrat Johann Georg Zimmermann bereits im Mai 1776 mitteilt, der alleinige Maßstab. (Müller, Teil 1, S. 200) „Verletzender kann kein Urteil sein“, so Sigrid Damm 2015. (Damm, S. 210)

Dennoch schätzte Frau von Stein den gerade angekommenen Dichter. Man kann von einer beiderseitigen Wertschätzung sprechen. Seinen Förderer Johann Kaspar Lavater ließ der leicht entflammbare Lenz, 14 Tage nach seiner Ankunft in Weimar, (am Rande eines Briefes) wissen: „Deine Physiognomik habe ich mit einem der herrlichsten Geschöpfe auf Gottes Erdboden durchblättert, der Frau v. Stein Goethens großen Freundin.“ (Bd. 3, S. 427)

Wer es heute vorzieht, sich im Internet zu unserem Thema zu unterrichten- so im Portal EPOCHE NAPOLEON – erhält zunächst falsche Lebensdaten zum Dichter Lenz. Anschließend erfährt er kurioserweise, dass Charlotte von Stein in Kochberg die Englischlehrerin für Jakob Lenz gewesen sei. (www. epche-napoleon. net/de /bio/s/ stein01.htmI)

Weit mehr lohnt ein erneuter Besuch am Originalschauplatz im Kochberger Wasserschloss. Im Parterre gibt es dort eine Schautafel „Gäste in Kochberg“. Im obersten Segment wird die Hausherrin von zwei Porträts umrahmt, auf denen Goethe und Lenz zu sehen sind.

Oder man geht zu den Quellen und blickt zunächst auf die postalischen Zeugnisse: Drei Briefe gibt es, die Jakob Lenz an die Hofdame, Gutsherrin, Oberstallmeisterin und Autorin Charlotte von Stein richtete. (Einen vierten können wir hier vernachlässigen, da er nur einen Klinger-Text enthält, den Lenz in der Mitte des Jahres 1776 an Frau von Stein weiterreichte.) (Bd.3, S. 461f.) Von den drei Briefen sind zwei fremdsprachig, abgefasst in Französisch bzw. Englisch. Beide schreibt Lenz im Berkaer „Exil“. Sie umrahmen in gewisser Weise die Kochberger Wochen, die die Hofdame und der Poet im Herbst 1776 gemeinsam verbrachten. Niemals hat Goethe eine so lange Zeit (50 Tage) mit seiner Freundin verbracht.

Einen dritten Brief reichte Lenz im Spätsommer 1777 nach, in dem er Charlotte von Stein knapp von seiner zweiten Schweizer Reise berichtete. Diese sei „an neuen Gegenständen und sonderbaren Schicksalen mannigfaltiger als die erste gewesen.“ (Bd. 3, S., 543f.)

Besondere Beachtung verdienen die fremdsprachigen Schreiben vom frühen September sowie vom November des Jahres 1776. (Den zweiten Text datierte Lenz irrtümlich auf 1775.) „Sie sprechen davon“, heißt es im ersten Brief an Charlotte von Stein, „mich meiner Einsamkeit zu entreißen – und geben dafür ebenso beredte Gründe an. Haben Sie, Madame! als Sie diese Zeilen schrieben, auch wohl bedacht, welche Wirkungen sie auf mich haben würden?“ Lenz spricht von seiner „Bitterkeit“, von Menschen, die sich „einstmals Freunde“ nannten und nun „glaubten, sich alles gegen mich erlauben zu dürfen.“ Er nutzte die Kappe des Hofnarren, um seine Kümmernisse zu überspielen. „ … ich öffne Ihnen mein Herz. Ich erkläre mich für schuldig an all den kleinen Streichen, all den Tricks, deretwegen Sie mir am letzten Abend so lebhafte Vorwürfe machten, ich werde Ihnen sogar nichts weniger erklären als den Wechsel meines Verhaltens,…“ Dies lässt der Dichter die gestrenge Hofdame in der Briefmitte wissen. Am Ende des Schreibens teilt er mit, dass „ihre Freundschaft mich überreden will, und trotz der Ehre, die ich darein setze, einem Hofe zu gefallen, der gegenwärtig die Augen von ganz Deutschland und sogar unserer Nachbarn auf sich zieht, habe ich Ehrgeiz genug, um nicht mehr den Narren machen zu wollen. Das sind die Gefühle, mit denen meine neue Laufbahn zu beginnen ich mich nicht enthalten kann.“ (Bd. 3, S. 886) Dieses Zeugnis zeigt, dass die Hofdame den Freund Goethes schriftlich in das Kochberger Wasserschloss einlud. Zum anderen wird deutlich, welche kurz- und langfristigen Erwartungen und Hoffnungen, die sich letztlich als trügerisch erwiesen sollten, der Dichter mit dieser Offerte verband.

Die vierunddreißigjährige Charlotte von Steins verbrachte (nebst Gefolge) mit dem neun Jahre jüngeren Jakob Lenz im Herbst 1776 reichlich acht Wochen auf Schloss Kochberg. Es waren wohl die harmonischsten und glücklichsten seiner Thüringer Zeit, auch wenn Lenz in Weimar, vor allem in Berka als Dichter produktiver war. Seinem Straßburger Freund Johann Daniel Salzmann teilte er am 23. Oktober mit: „Ich bin in Kochberg bei der liebenswürdig­sten und geistreichsten Dame, die ich kenne. (Bd. 3, S. 504)

 

II.             KOCHBERGER WOCHEN

Mitte Oktober 1776 sprach Lenz noch von Goethe als seinem „Freund“. Dies kann nicht darüber hinwegtäuschen, dass diese Freundschaft seit Lenzens Abreise nach Kochberg brü­chiger wurde. Obgleich sich Goethe (im Brief an Charlotte von Stein vom 10. September) Nachrichten aus Kochberg von ihr und ihrem Englischlehrer entschieden verbat, schreibt ihm der glückliche Lenz wenige Tage später einen Brief, dessen Ränder er mit noch nicht identifizierten Porträtskizzen versah. Er bat um weitere Lektüre. „Schick doch auch sonst was mit für Frau v. Stein, etwa Jungs Autobiographie von der ich ihr erzählt habe.“ Da „Heinrich Stillings Jugend“ ohne Wissen des Autors erst 1777 durch Goethe zum Druck befördert wurde, kann Lenzens Schülerin den Text wohl nur im Manuskript gelesen haben. Zudem teilte Lenz dem „lieben Bruder“ mit, die „Frau von Stein findt meine Methode [des Englischunterrichts] bes­ser als die Deinige.“ (Bd. 3, S. 495) Auch wenn dies sachlich wohl zutraf – Lenz ver­fügte als Hof­meister über mehrjährige Lehrerfahrung-, war es undiploma­tisch formuliert, musste Goethe verletzen.

Die Dokumente aus jenen Wochen sprechen davon, wie Len­zens Unterricht aussah, der wohl im Wohnzimmer der Steins (im Blauen Salon) stattfand. Beide lasen gemeinsam Shakespeare, wobei sie Ausgaben von Lewis Theobald und William War­burton benutz­ten. Keineswegs hat Lenz seine Lehrtätigkeit als Alibibeschäftigung aufge­fasst. Dem Freund in Weimar verrät der Hauslehrer sein methodi­sches Vorgehen. „Ich lasse sie nichts aufschreiben als die kleinen Binde­wörter die oft wieder kommen; […] wie man eine Muttersprache lernt. Auch bin ich unerbittlich ihr kein Wort wiederzusagen was den Tag schon vorgekommen und was mich freut ist, daß sie es entweder ganz gewiß wie­derfindt oder wenigstens auf keine falsche Bedeutung rät, sondern in dem Fall lieber sagt, daß sies nicht wisse, bis es ihr das drittemal doch wieder einfällt.“ (Bd. 3, S 495) So wird verständlich, warum Lenz rückschauend von Charlotte von Stein als seiner „begeisterten Schülerin“ spricht, die ihn wie keine sonst „angefeuert“ habe. (Bd.3, S. 892)

Ein in Weimar befindli­ches Blatt zeigt den Dichter und Lehrer zugleich als Zeichner. (Katalog 1999, S. 251) Gelegentlich, bei­spielsweise auf Brief- und Manuskripträndern zeichnete Lenz. Aus seiner Moskauer Zeit (1781-1792) gibt es eine Fülle kaum ausgewerteter Skizzen, die vor allem seine vielfältigen Reformprojekte betreffen. (Katalog 1996, S. XLVII)

Eine Landschaftsskizze vom 18. Oktober 1776 bildet die „Bruchau“ ab, ein (noch heute unbebautes) Flurstück bei (Groß-) Kochberg , welches sich die oft krän­kelnde Charlotte von Stein, die sieben Kinder zur Welt gebracht hatte, in jener Zeit als Begräbnisstätte vorstellte.

Lenzens Graphit auf Büttenpapier (212 mal 355 mm) sollte im Kulturstadtjahr 1999 in der neu eröffneten Ausstellung des Weimarer Goethe-Nationalmuseums zu sehen sein. Der Verfasser dieser Zeilen hat in einer (im Katalog nachzulesenden) Miszelle die kleine Zeichnung und das dazugehörende Gedicht von Lenz vorgestellt. (Katalog 1999, S.251) In der Expostion war die Skizze Lenzens dann nicht zu finden. Für sich genommen scheint dies unerheblich zu sein. Wesentlicher ist, dass 1999 in Weimar erneut eine Chance vertan wurde, Lenz ein „Gesicht“ zu geben. Auch die präsentierten Erstdrucke des „Hofmeister“ und der Schrift „Verteidi­gung des Herrn W. gegen die Wolken von dem Verfasser der Wolken“ änderten daran wenig.

Lenzens erstes Ge­dicht der Kochberger Wochen steht auf dem unteren Teil der Bleistiftzeich­nung, eigenhändig und mit einer Feder in Braun geschrieben. Der lyrische Text ist als Kopie in der heutigen Kochberger Dauerausstellung zu sehen. Das dort auch gezeigte Faksimile von Lenzens zarter Skizze ist indessen so verblasst, dass der Besucher nichts erkennen kann.

Ach soll soviele Trefflichkeit
So wenig Erde decken
In diesem dürren Moosekleid
Mit kümmerlichen Hecken?
Ist dieses schlechte Kissen werth
Dass hier dein Haupt der Ruh begehrt? (Katalog 1999, S. 251)

Die Widmung auf der Rückseite ist pikanterweise Goethe zugedacht: „a place in Kochberg called / the Bruchau / the tomb of Lady St.: / from Lenz to his Friend / Goethe.“ („Ein Ort in Kochberg / genannt / die Bruchau / das Grab der Lady St: / von Lenz für seinen Freund / Goethe.“)

Die Tatsache, dass Lenz diesen Zusatz in der Fremdsprache schrieb, verweist ein weiteres Mal auf seine Arbeit als Englischlehrer der Frau von Stein. (Der Dichter erhoffte sich, wie angedeutet, für den Winter eine ähnliche Arbeit am Weimarer Hof. Nicht aber Lenz, sondern erneut Gothe wirkte fortan als Englischlehrer der Hofdame.) (Bd.3, S. 508)

 

III.           ABSCHIED VON KOCHBERG

Am 30. Oktober 1776, dem letzten Tag, den Lenz auf dem Steinschen Sommersitz verbringen durfte, schrieb er der Hausherrin einen Abschieds­text. In die Literaturgeschichte ist das vierstrophige Gedicht unter dem Ti­tel „Abschied von Kochberg“ eingegangen, obgleich weder die in Berlin, noch die in Düsseldorf befindlichen Manuskriptfassungen einen Titel auf­weisen. Lenzens Text ist erst 1891 durch Karl Weinhold ein Titel ge­geben worden. (Weinhold, 1891)

Sigrid Damm spricht in ihrem Lenz-Buch „Vögel, die verkünden Land“ (1985) nicht nur ausgiebig über Lenzens Kochberger Zeit, sondern ihr Buch wurde zu Teilen an diesem Ort geschrieben. Auch ihr hundertseitiger Lenz-Essay, als Nachwort zu ihrer dreibändigen Lenz-Ausgabe (1987) konzipiert, entstand im Frühjahr 1985 vollständig auf dem Steinschen Anwesen.

In Gänze zitiert Damm in ihrer Biographie Lenzens bereits genannten Kochberg-Text, allerdings als einstrophiges Gedicht mit dem nicht autorisierten Titel. Der Erzählton suggeriert, die Autorin habe die Fassung mit der Handschrift verglichen. Dies war – wie etwa der Le­sefehler „weise Hand“ für „weiße Hand“ zeigt – nicht der Fall: „Lenz setzt sich, nimmt einen Bogen, den Federkiel und schreibt mit seiner schönen klaren Schrift: ‚Abschied von Kochberg’. Es ist ein Gedicht. Über einhundertsiebzig Jahre wird es von der Familie Stein aufbewahrt werden. 1953 taucht es in einer Autographen-Auktion auf. Zweieinhalb Blatt, fünf­unddreißig Zeilen.“ (Damm, 1985, S. 238)

Dieses zweite Kochberg – Gedicht ist zweifelsfrei der innigste Text Lenzens für Charlotte von Stein. Er setzt mit „So soll ich dich verlassen, liebes Zimmer“ ein.

Magnus Klaue ist zuzustimmen, dass Lenzens zweites Kochberg – Gedicht weit mehr als eine „ästhetisch uninteressante Gelegenheitsarbeit“ ist. (Klaue, 2003, S. 247)

Dieser vergleichsweise lange lyrische Text, geprägt durch zahlreiche religiöse Metaphern, soll hier nicht umfassend betrachtet werden. Einiges jedoch sei schlaglichtartig hervorgehoben: Lenzens Kochberger Abschiedstext ist zu großen Teilen ein Lobgesang auf die verehrte Gastgeberin. In der Eingangsstrophe wählt der Dichter noch zurückhaltend die dritte Person Singular. (Dies gilt indessen nicht, wenn man „Zimmer“ als „Frauenzimmer“ liest, wie dies im 18. Jahrhundert nicht unüblich war. Dieses (Frauen-) Zimmer wird mit Du angesprochen. (Klaue, 2003, S. 249f.) In der dritten Versgruppe begegnet uns nun eindeutig das vertrauliche Du. Spannung erhält das Gedicht dadurch, dass Lenz alter­nierend von der Frau und von sich spricht. Gleich zu Gedichtbeginn wird Shakespeares Name genannt. Anders als in dem oben bereits zitierten Brief an Goethe, in dem der hofmeisternde Poet dem Freund seine Lehrmethode erläutert, spricht dieser im lyrischen Text da­von, wie sich Nähe zu der verehrten Frau über die Lektüre Shakespear­scher Texte herstellt.

Und ihr entzücktes Ohr der Sphären Wohllaut hörte.
Wenn sie mit Shakespeare ihren Geist umfing
Ha zitternd oft für Furcht und Freude
Der Engel Lust im süßen Unschuldskleide
In die Mysterien des hohen Schicksals ging. (Bd.3, S. 205)

Namentlich im letzten Gedichtpart ist von Lenzens eigener Krise, aber auch von den seelischen und gesundheitlichen Kümmernissen der Charlotte von Stein die Rede. Von ihrer schwindenden Lebenslust, gar von Todessehnsucht, ihren „blassen Lippen“ erfahren wir. Die Schlussstrophe führt beider Schicksale zusammen. Deutlich betont der Dichter zugleich den Kontrast. Während der Frau, dem „Himmelskind! wieder einmal der Freuden / Un­zählige“, die „Lust zum Leben“ wiedergeschenkt wird, ahnt Lenz, ohne dies verhindern zu können, was ihm bevorsteht:

Ich aber werde dunkel seyn
Und gehe meinen Weg allein (Bd.3, S. 205)

Auch wenn Goethes Name im Gedichttext nicht genannt wird, ist der Geliebte der auch von Lenz verehrten Frau vor allem zu Beginn des Gedichts (welches wir hier vor allem biographisch auslegen) anwesend. (Klaue, 2003) Lenz schreibt in der fünften Verszeile gleich doppelt von dem Freund, der letzt­lich auch Rivale ist: „Wenn sich ihr Herz nach ihm nach ihm empörte“ Gegen Ende der ersten Strophe sieht sich der lyrische Sprecher wiederum neben jemandem, dem weit mehr Glück beschieden ist:

Auch ich sah ihren Pfad, auch mir
War es vergönnt ein Röschen drauf zu streuen
Zur Priesterin des Gottes sie zu weihen (Bd. 3, S. 205)

Da der Dammschen Ausgabe die Berliner Handschrift zugrunde liegt, ist in ihr folgender Zusatz aus der Düsseldorfer Handschrift nicht zu finden: „den letzten Tag in Kochberg / in dem Zim­mer der Frau / v. Stein gemacht; niemand / als ihr selber vorzulesen.“ (In „Vögel, die verkünden Land“, der Lenz Biografie von 1985, hat Sigrid Damm diese wichtige Ergänzung aufgenommen. /S. 238/ ) Damm vermutet, dass Lenz das Abschiedsgedicht „an jenem Sekretär“ schrieb, „in den Goethe Namen und Datum seines ersten Besuchs eingeritzt hat.“ (Damm 2015, S.218)   Diese Formulierungen von Lenz und seiner Biographin verweisen auf die Intimität der Verse, die zunehmend elegischer wer­den. (Goethe hat, dies sei beckmesserisch ergänzt, die Daten seiner Besuche in den Schreibsekretär nicht eingeritzt, sondern mit Tinte auf das Holz geschrieben.)

Charakteristisch für Lenz seit seinen Sesenheimer Liedern ist, dass das lyrische Subjekt mit Blick auf Goethe aus der Defensive, gewissermaßen als Mann im Schatten stehend, spricht. (Vonhoff, 1990, S. 238f.) Und so wundert es auch hier nicht, wenn es sich in der dritten Versgruppe einen „Strauchelnden“ nennt.

Lenzens erwähnter Hinweis war für Goethe gedacht, der das Gedicht seiner Freundin zusandte, es ihr aber aus verständlichen Gründen nicht vorliest, wie Lenz es sich gewünscht hatte. Gekonnt beiläufig schreibt Goethe in ruhiger klarer Schrift der Freundin mit Bleistift auf Lenzens Gedichtmanuskript:

Aus meiner Hütte
Es ist ein so schöner Tag
Und habe Arbeit
Und bin still
Allen Seegen!  (Düsseldorfer Handschrift)

Der zweite Lenz-Brief an Charlotte von Stein, in englischer Sprache verfasst, ist eine Rückschau auf die Kochberger Wochen. Lenz, deutlich um Worte ringend, fertigt zwei Fassungen an, von denen die erste, Fragment gebliebene als verschollen gilt, während sich die zweite im Nachlass von Fritz von Stein, dem jüngste Sohn der Hofdame, fand. In beiden Fassungen entschuldigt sich der Dichter dafür, dass er Weimar so schnell verlassen habe, ohne sich gebührend verabschiedet zu haben.

Das zweite Schreiben, aus dem wir hier länger zitieren, zeigt weit mehr die Zerrissenheit des vormaligen Kochberger Gastes. Zu Beginn und am Ende verwendet Lenz hofübliche Floskeln. Lediglich im Mittelteil ist zu erfahren, wie es tatsächlich um Lenz bestellt war. „Ich bitte Sie tausendmal um Verzeihung, liebe Madam!, daß ich Weym. verlassen habe, ohne mich von Euer Gnaden zu verabschieden und Ihnen den Dank für all die verpflichtenden Liebenswürdigkeiten, die mir bei meinem Aufenthalt in Kochberg erwiesen wurden und die sich mir mit unauslöschlichen Buchstaben ins Herz gegraben haben, zu wiederholen, einen Dank, den ich nie hinreichend abstatten kann. Es ist höchst wahr, ich konnte nur einmal in meinem Leben auf so entzückende Weise beglückt werden, die, hätte ihr Zauber ein paar Tage länger gedauert, mich all meine Verbindungen hätte vergessen lassen und in den zweifelsfreien Glauben versetzt, ich befände mich in einer anderen Welt. Ich fühlte all mein Fähigkeiten gesteigert durch Ihre Gegenwart und hielt mich selbst für ein höheres Wesen, so wie ich sicher war, dafür, nahe den Einflüssen Ihres Genius, in allem, was ich unternahm, den Nachweis zu erbringen. Wundern Sie sich daher nicht über die Ungeschliffenheit und Kraftlosigkeit der Ausdrücke meines Briefes, da ich mein ganzes Englisch vergessen habe, werde ich doch nicht mehr von einer so begeisterten Schülerin angefeuert, deren bloße Gegenwart und deren Bemühung um diese Sprache mich in allem verbesserte, was ich sie lehren . konnte und was, um die Wahrheit zu sagen, gewinnbringender für mich war, als alle meine Belehrungen für sie sein konnten. (…)

Ich bitte Sie, Ihrem hochgeschätzten Gatten und der ganzen Familie meine Grüße zu übermitteln, und indem ich mir selbst mit einigen Antwortzeilen schmeichle, da Sie mir die Erlaubnis hierzu gaben, bin ich mit der aufrichtigsten Verehrung, Madam, Ihr ergebenster gehorsamster Diener Lenz.“ (Bd.3, S. 892f.)

 

  1. SIGRID DAMMS DOPPELTER BLICK

Die Zahl der Bücher, Editionen und Aufsätze über Goethe und Charlotte von Stein ist kaum zu erfassen. Eine gesonderte Studie zu Lenz und der Frau von Stein gibt es, soweit ich sehe, nicht. (Vgl. Förster Stahl, 1996) Sigrid Damm war es, die sich diesem Thema aus verschiedenen Perspektiven annahm. 1985 erschien ihr Lenz-Buch, das ihr in Ost und West den Durchbruch als Schriftstellerin brachte. Drei Jahrzehnte später legte sie den Band „Im Sommerregen der Liebe“ vor, in dem auch sie sich mit Goethe und der Frau von Stein befasst. In ersterem Band nimmt sie den Blickwinkel Lenzens ein, im zweiten rückt Goethe, über den Damm zuvor bereits vier Bücher geschrieben hatte, ins Zentrum ihres Interesses. Zum Faktischen der Kochberger Herbstwochen gibt es dreißig Jahre später kaum Neues. Im Atmosphärischen, in den Bewertungen und Akzentuierungen stoßen wir auf feine Unterschiede.

Hier, zur Erinnerung, einige Momentaufnahmen, die Damm 1985 vermerkt:

Am 4. April 1776 trafen sich Lenz und Goethe in Weimar zum ersten Mal. Die Stein erreichte sehr bald ein Zettel: „…darf ich heute früh mit Lenzen kommen…?“ Und so fand der Antrittsbesuch mit dem Freund bereits am fünften Tag des Monats in der Teichgasse 8 statt. (Damm, 1985, S. 185)

Goethe teilt seiner Freundin Wochen später mit, dass Lenzens (erste) „Eseley“ vom 24. April (ein Verstoß gegen die Etikette eines Hofballs – U.K.) ein „Lachfieber gegeben habe.“ (Damm, 1985, S. 194)

Wieland veranstaltet am 14. Mai in seinem Garten einen Leseabend, bei dem Lenzens Texte im Mittelpunkt stehen sollen. Goethe schlägt vor, dass Charlotte von Stein dahin mitkommt. (Damm, 1985, S.188)

Ende Juni fühlt sich Lenz bekanntermaßen am Hof überflüssig, zumal Goethe als Geheimer Legationsrat nunmehr voll in die Regierungsarbeit eingebunden war. Jakob Lenz geht in seine „Einsiedelei“ nach Berka.

In einer „angespannten Situation“ zwischen Goethe und der Hofdame hatte Charlotte von Stein Anfang September den Wunsch, Lenz nach Kochberg einzuladen. „Aber warum lädt sie ihn auf ihr Schloß nach Kochberg ein?“, fragt Sigrid Damm. „Mag sein die neue fremde Welt der Gedanken und Gefühle, die sich ihr mit Goethe geöffnet, möchte sie besser verstehen.“ „Oder nein, vielleicht ist es einfach Laune, Mitleid. Oder Langeweile, die Sucht nach Unterhaltung, Abwechslung, nach einer Berühmtheit; sie kann es sich leisten.“ Oder sie will sich, vermutet Damm weiter, vor Hofklatsch schützen, eventuell den werbenden Goethe eifersüchtig machen. Die genauen Motive der Charlotte von Stein sind nicht bekannt. (Vgl. Damm, 1985, S. 227) Überliefert ist Goethes Tagebucheintrag vom 10. September 1776: „Früh war Lenz da wegen Kochberg. Reine Trauer des Lebens.“ Als hätte er allein über Lenz zu befinden, schreibt Goethe am gleichen Tag: „Ich schick Ihnen Lenzen, endlich hab ich’s über mich gewonnen.“. Tief gekränkt setzte er fort: „O Sie haben eine Art zu peinigen wie das Schicksal, man kann sich nicht darüber beklagen, so weh es thut. Er soll sie sehn… Er soll mit Ihnen seyn – mit ihnen gehen… Sie lehren, für Sie zeichnen, Sie werden für ihn zeichnen, für ihn seyn. Und ich – zwar von mir ist die Rede nicht, und warum soll von mir die Rede seyn“– (Damm, 1985, S. 227) Auch dieser Brief ist als Faksimile in der Kochberger Dauerausstellung zu sehen. Lenz habe, nach Aussagen Goethes im Brief an Charlotte von Stein, den Wunsch gehabt, man solle „Geduld mit ihm haben“ und bittet nur „ihn in seinem Wesen zu lassen.“ (Damm 1985, S. 228) Vier Tage später, am 16. September, schreibt Goethe an die Stein, um „seine Überlegenheit“ wissend: „Lohns Gott was Sie für Lenzen thun.“ (Damm, 1985, S. 240)

Die Hausherrin hatte ihre drei Söhne mit in Kochberg. Ohne Quellen zu nennen, schreibt Damm behutsam: „Sie freuen sich sicher über Lenzens Ankunft. Eine Abwechslung, einer, der zu phantastischen Spielen bereit ist, der ihnen erzählen wird, dessen Soldatenpuppen im Mantelsack sie sofort entdecken.“ (Damm 1985, S. 232) Lenz, auch wenn er sich später wieder als „gehorsamster Diener“ bezeichnet, gehört, meint Damm, in den Kochberger Wochen zur Steinschen Familie.

In die Kochberger Zeit fallen zwei wichtige Besuche. Während Charlottes Ehemann und ihr Freund dem Schloss fern bleiben, erscheinen Johann Gottfried Herder, der kurz zuvor seine Weimarer Antrittspredigt gehalten hatte, und der Herzog Carl August. Erstmals begegnete Lenz seinem Anreger und Mentor Herder. Es muss ein großer Moment für beide gewesen sein, auch wenn die Quellen dazu schweigen. (Kaufmann, 1999)

Durch einen Lenz-Brief an Salzmann (vom 23. Oktober 1776) wissen wir: „Der Herzog hat neulich hier einen sonderbaren Zufall gehabt: er fiel von einem Floß im Schloßgraben ins Wasser, ich sprang nach und hatte das Glück, ihn ohne Schaden, heraus zu ziehen.“ (Damm 1985, S. 235) Lenzens „lebensrettende“ Tat relativiert sich, wenn man weiß, dass der (heute mächtig verkrautete) Wassergraben – nach meinen Recherchen – eine Tiefe von ca. 1,20 Meter hatte.

Das Ende der Kochberger Episode Lenzens kam abrupt: Nachdem Lenz mit Charlotte von Stein, den Kindern und dem Hauslehrer Kestner Kochberg am letzten Oktobertag verlassen hatte, notiert Goethe. „Stein angekommen mit ihr zu nacht gessen.“. Von Jakob Lenz erfahren wir: „Nachts Tanz bis früh 3. Lenz fand ich.“ Am nächsten Tag aßen Lenz und Goethe im Gartenhaus zu Mittag. Jakob Lenz ging „gegen Abend fort“ – zurück in seine Berkaer „camera obscura.“ (Damm, 1985, S. 240)

Nicht wenige Forscher, auch Schriftsteller gehen davon aus, dass Lenzens Ausweisung aus Weimar (nach seiner zweiten „Eseley“, Ende November) indirekt mit Charlotte von Stein zu tun habe. (Klaus, 1995) Auch der Schriftsteller und gelernte Germanist Volker Ebersbach hat mit „dichterischer Phantasie , die Stein als den eigentlichen Grund dieser ‚Eseley‘ ausgemacht.“ (Klaus, 1995) Jochen Klaus bezieht sich auf Ebersbachs „Fünf Etüden über eine Eseley. Goethe und Lenz.“ (Winsen/Luhe und Weimar, 1994.)

Der Psychoanalythiker K. R. Eissler vertritt in seinem zweibändigen Goethebuch, das bereits 1963 in englischer Sprache erschien, eine andere These, die gleichfalls durch keine Quelle zu stützen ist. (Ihr hat sich übrigens der Goethe-Kenner Peter Hacks angeschlossen.) Wir vernachlässigen, dass im Folgenden einige Zeitangaben unstimmig sind: „…als Charlotte von Stein,…, einen Streit mit Goethe hatte, wurde er (Lenz-U.K.) eingeladen, sechs Wochen mit ihr auf ihrem Gut zu verbringen; so hatte ihn das Schicksal wieder zu einem Stellvertreter Goethes bei einer Frau gemacht. Doch acht Wochen später ereignete sich ein Zwischenfall, von dem die besonderen Umstände nicht bekannt sind, der aber den weiteren Aufenthalt Lenzens in Weimar unmöglich machte.

Die meisten Autoren glauben, daß er eine Anspielung auf das Verhältnis von Goethe zu Charlotte von Stein machte. Entgegen der vorherrschenden Meinung vermute ich, daß

Lenz Goethes Zuneigung zur Herzogin aussprach…Es würde nicht überraschen, wenn der gewitzte Beobachter Lenz dieses Geheimnis entdeckt hätte. Wenn meine Annahme richtig ist, hatte er einen sehr viel heikleren Punkt berührt als Goethes Verhältnis zu Frau von Stein.“ (Eissler, Bd.1, 1987,  S. 64.)

Drei Jahrzehnte später zeigt Sigrid Damm, die im Übrigen wenig geneigt ist, Eisslerschen Thesen zu folgen, in dem Buch „Sommerregen der Liebe – Goethe und Frau von Stein“ sehr deutlich, wie stark Goethe die Einladung Lenzens nach Kochberg traf, kränkte und zu „Herzensdruck“ führte. Anfangs schreibt der Zurückgestoßene: „ Warum soll ich dich plagen! Liebstes Geschöpf! – Warum mich betrügen und dich plagen und so fort.“ Folgender kryptische Satz stünde, meint Damm, für Goethes Zerrissenheit: „Wir können einander nicht seyn und sind einander zu viel…“ Nach einer durchwachten Nacht ringt er mühsam um Worte. „Ich will dich nicht wiedersehen – Nur – weißt alles – ich hab mein Herz – Es ist alles dumm was ich sagen könnte.“ Später heißt es: „Ich seh dich eben künftig wie man Sterne sieht! – denck das durch.“ (Damm, 2015, S. 210)

Die Stein revidiert ihren Entschluss nicht, mit Lenz nach Kochberg zu reisen. Goethe spürt, dass er vorerst in Kochberg nicht erwünscht ist. „Wort und Blick verstund“ er. Seiner Freundin berichtet er bereits am 12. September, kurz nach ihrer Abreise, von seinen Vergnügungen im Hause Imhoff. Er ging noch einen deutlichen Schritt weiter. In Tiefurt traf er ihren Mann, der als guter Tänzer galt. „Ihr Mann war guter Humor, machte possierliche Streiche mit der Oberhofmeisterinn. Ich hab die Hofleute bedauert, mich wundert daß nicht die meisten gar Kröten und Basilisken werden.“ Damm setzt fort. „Man stelle sich Charlotte beim Lesen dieser Zeilen vor… die Äußerung der möglichen Verwandlung in Kröten und Basilisken in unmittelbarer Nähe zur Erwähnung ihres Ehemannes muß sie befremden.“ (Damm, 2015, S. 212)

Sigrid Damm zitiert in diesem Kapitel einen galanten Brief des Ehemanns Josias von Stein, einen Liebesbrief nach zwölf Ehejahren. Das Werben des weit jüngeren Goethe um seine Frau kann Josias von Stein nicht entgangen sein. ( Damm, 2015, S. 216)

Fortan schildert Damm auf mehreren Seiten Goethes Wochen ohne Frau von Stein – seine dienstlichen Pflichten wie seine privaten Vergnügungen. Für Goethe enden die quälenden Kochberger Wochen letztlich glücklich. Die Freundin ist es, die ihm am 7. November ein Geschenk macht, das von „liebender Nähe zeugt“. An diesem Tag war Goethe ein Jahr in Weimar – Charlotte von Stein hat dieses Datum nicht vergessen…

Abschließend fragt Sigrid Damm, ob Charlotte von Stein „pädagogisch arbeite“ – mit „Belohnung und Bestrafung“. Das zweite Kapitel im letzten Buchabschnitt endet mit den Worten: „Angezogen- und Abgestoßenwerden, Goethes Herz steht unter Frau von Steins Regierung.“ (Damm, 2015, S. 221)

Lenzens Ende ist bekannt: Ein Jahr nach seinem Weimarer Rauswurf erkrankte er schwer. Im Mai 1792 lag er tot auf einer Moskauer Straße, von „wenigen betrauret, und von keinem vermißt.“ Nachzulesen im INTELLIGENZBLATT der ALLGEM. LITERATUR – ZEITUNG vom 18. August 1792. Dieses Blatt erschien in Jena…(Kaufmann, Katalog 1996, S. XLVI)

(Auch in dem kurzen Prosatext „Geschichte des Felsen Hygillus“ sowie in dem Drama „Myrsa Polagi oder Die Irrgärten“ porträtiert Lenz auf ver­schiedene Weise die Freundin Goethes. ) Anmerkung !!!! ??

 

 

 

 

Finanzen

Über Ulrich Kaufmann 34 Artikel
PD. Dr. Ulrich Kaufmann wurde 1951 in Berlin geboren u. lebt seit 1962 in Jena. Hier hat er nach dem Abitur 1970 Germanistik und Geschichte studiert. 1978 wurde er in Jena über O.M.Graf promoviert u. 1992 über Georg Büchner hablitiert. Von 1978 bis 1980 war Kaufmann als Aulandsgermanist im polnischen Lublin tätig.Von 1999 bis 2016 Gymnasiallehrer für Deutsch u. Geschichte. Er hat 10 Bücher über die deutsche Literatur verfasst.