„Es gibt kein richtiges Leben im falschen“, konstatierte Christa Wolf bereits 1995 in ihrem Essay „Begegnungen Third Street“, der ihre Erfahrungen, Erinnerungen und Gedanken während ihres Stipendiaten-Aufenthaltes der Getty-Stftung in Los Angeles 1992/93 wiedergibt. Und sie fragt sich: „Falsch leiden sollte es das auch geben oder ist leiden immer echt immer gültig?“
Jetzt hat sie einen viel beachteten und kritisierten Roman veröffentlicht, der in aller Ausführlichkeit um diesen Erfahrungskern herum gewuchert ist und auch mit den Schmerzen zu tun hat, die der Abschied von der DDR bei der Autorin ausgelöst hat.
Obwohl viel gelacht wird in der Lounge des Getty Center, geht Christa Wolf wie sie es beinahe immer tut der Spur der Schmerzen nach, und während sie gegrillten Fisch und Salat isst- es wird viel gegessen und getrunken in diesem Buch – springt das „Tonband in ihrem Kopf“ wieder an, ihre Erinnerungen, ihr Gewissen, ihre Moral. Die Autorin genießt die Sonnenuntergänge am Pazifik, geht gelegentlich auch „shoppen“ und sieht mit Vergnügen „Raumschiff Enterprise“, aber registriert vor allem die krassen Unterschiede zwischen Arm und Reich, das Fehlen jeder Alternative zum amerikanischen „way of life“ und die agressive amerikanische Politik. Mit Brecht gesprochen gleicht für sie Los Angeles eher der Hölle als einer Engelsstadt. Der Kapitalismus mit seinen schnellen Fortschritten, dem Effizienz- und Profitdenken macht ihr Angst und uns. Sie muss sich wieder einmal eingestehen, dass ihre Wünsche und die der meisten Menschen nicht in die gleiche Richtung gehen. Obwohl sie mit vielen Menschen im Center der Stiftung Kontakt hat, führt Christa Wolfs Prosa in Gedanken und Träumen immer wieder zurück in das Land, das sie geliebt hat, in das kleinere Deutschland ihrer Kindheit und Jugend, ihrer Kämpfe und Krisen und für dessen Erneuerung sie noch während der Wendezeit 1989/90 plädierte. Als „literarische Internistin“ und Autorin mit Weltruhm geriet sie zwischen die Fronten aller politischen Systeme, umstritten im Osten wie im Westen und dann angefeindet im wiedervereinten Deutschland, auch weil ihr das Wort vom Unrechtsstaat nie über die Lippen kam.
Hass schlug ihr entgegen, als die Öffentlichkeit exakt zu der Zeit, als sie sich in Kalifornien aufhielt, von der Existenz einer „Täterakte“ erfuhr: Christa Wolf hatte in den Jahren 1959 bis 1962 als „IM Margarete“ für die Stasi gearbeitet, allerdings niemanden belastet und auch keine Verpflichtungserklärung unterzeichnet. Damals war die Dreißigjährige, die sich durch Literaturkritiken einen Namen gemacht hatte, Redakteurin bei der Verbandszeitung „Neue Deutsche Literatur“ und als solche „hinsichtlich des Kampfes gegen die ideologische Diversion auf dem Gebiet der Literaturabwehrmäßig wertvoll.“ Tatsache ist, dass die Beobachterin selbst zur Beobachteten wurde, wie die meisten der 130 Seiten dieser schmalen „Täter“-Akte belegen und später als Schriftstellerin von 1968 bis zum Ende der DDR zusammen mit ihrem Mann bespitzelt wurde wie die 42 Ordner umfassende „Opfer“-Akte dokumentiert.
Das Schwierigste beim Schreiben ihres neuen Romans sei die Erinnerung an die Stasigeschichte gewesen, sagt die heute 81-jährige, die sich vielleicht auch deshalb den schützenden Mantel des Dr. Freud zugelegt hat, weil sie sich der quälenden Frage stellen musste, wie sie die Episode als IM vergessen konnte. Die Journalistenschelte holt sie in Kalifornien mit aller Macht ein, und die Auseinandersetzung mit der eigenen Vergangenheit gibt wieder einmal das Grundmuster für ihre Prosa.
Wie sehr die Reibung am Regime, aber auch die politische Nähe das Schreiben der loyalen Dissidentin im anderen Deutschland beflügelte, belegt die Tatsache, dass keines ihrer nach 1989 erschienenen Bücher den Rang jener, die sie zuvor verfasste, erreichen konnte. Das trifft auch auf ihren neuen Roman zu, andessen Schluss ein Engel die Autorin begleitet, eine märchenhafte Erlösung, die so gar nicht zur gedanklichen Substanzund zum Ernst dieses Buchespassen will. Am Ende Leichtigkeit statt Larmoyanz, Kitsch statt Krise? Der Leser, der sich mit viel Geduld durch den Roman gearbeitet hat, ist überrascht.
Der Weg dorthin, der über einen ständigen Wechsel von Erlebnis- und Gedankenwelt, von Traum und Wirklichkeit, Gegenwart ( in der Ich-Form) und Vergangenheit (in der Du-Form), fremden und eigenen Erfahrungen, eine Mischung aus Autobiografischem und Fiktionalem führt, erfordert zwar eine außerordentliche sprachliche Meisterschaft, widerspricht aber dem, was einen Roman normalerweise ausmacht: Handlung und Spannung. So endet der intellektuelle Flirt mit dem Mitstipendiaten Peter Gutman auch nicht in einer Liebesgeschichte sondern ist im Grunde die Konfrontation der Autorin mit einem männlichen Double, das klärt und tröstet. Die bohrende Selbstbefragung der Christa Wolf, ist sie nach 14 Jahren Arbeit an ihrem neuen Buchabgeschlossen? Die Autorin hat viel deutsche Geschichte – drei selbst durchlebte Staats- und Gesellschaftsformen – abgearbeitet in der „Stadt der Engel“, Emigrantenschicksale im „New Weimar unter Palmen“ nachempfunden und einen anderen Blick auf sich selbst vom äußersten Rand der westlichen Welt hinzugewonnen. Sie weiß nach diesem Buch mehr von sich als vorher, den „blinden Fleck“ (des kollektiven und des individuellen Bewusstseins) aber habe sie vielleicht nur eingegrenzt.
Christa Wolf:. Stadt der Engel oder The Overcoat of Dr. Freud. Suhrkamp Verlag, 416 Seiten, 24,80 Euro
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