Am 1. Dezember 2016, auf den Tag genau am fünften Todestag der 1929 in Landsberg an der Warthe, jenseits der Oder also, geborenen DDR-Schriftstellerin Christa Wolf (1929-2011), die am 13.Dezember 2011 auf dem Dorotheenstädtischen Friedhof in Berlin-Mitte beigesetzt worden war, erschien im Berliner Suhrkamp-Verlag ein umfangreicher Band von immerhin 1040 Seiten (einschließlich Nachwort, Literatur- und Quellenverzeichnis sowie Personenregister) mit 483 Briefen Christa Wolfs, die freilich nur einen Bruchteil der rund 15 000 hinterlassenen Briefe ausmachen, die im Archiv der Berliner „Akademie der Künste“ lagern.
Dieser Briefband, den die Germanistin und Archivarin Sabine Wolf (nicht mit der Autorin verwandt!) kenntnisreich mit Anmerkungen versehen hat, ist nicht das erste Buch, das aus dem Nachlass kommt. Vorher schon erschienen die Aufsatzsammlung „Rede, dass ich dich sehe“ (2012), die beiden Erzählungsbände „August“ (2012) und „Nachruf auf Lebende. Die Flucht“ (2014) und das Tagebuch „Ein Tag im Jahr im neuen Jahrhundert. 2001-2011“ (2013), der von Ehemann Gerhard Wolf edierte Nachfolgeband des Tagebuchs „Ein Tag im Jahr. 1960-2000“ (2003).
Die breit gestreute Auswahl ihrer Briefpartner und ihre Bereitwilligkeit, jeden Brief, auch wenn es nur Anfragen von Lesern, Studenten und Schülern waren, zu beantworten, sind erstaunlich. Vor allem aber war sie, darin ihrem Vorbild Anna Seghers vergleichbar, neugierig auf Menschen, auch wenn sie in anderen Gesellschaftssystemen lebten. Als sie am 17. April 1952 ihren ersten, hier abgedruckten Brief schrieb, an die Redaktion der SED-Zeitung „Neues Deutschland“ mit der Anrede „werte Genossen“, und ihre Mitarbeit anbot, war sie 23 Jahre alt, war drei Jahre zuvor, im DDR-Gründungsjahr 1949, SED-Mitglied geworden, studierte noch Germanistik bei Hans Mayer in Leipzig und hatte 1951 ihren Mitstudenten Gerhard Wolf geheiratet.
Die Rezension zu Emil Rudolf Greulichs (1909-2005) Roman „Das geheime Tagebuch“ (1951), die dann am 20. Juli erscheinen sollte, hatte sie gleich mitgeschickt. Der Brief, eine bescheidene Anfrage, unterzeichnet „mit sozialistischem Gruß“, zeigt aber auch das Selbstbewusstsein der Leipziger Studentin: „Ich bin noch kein Literaturkritiker, sondern studiere noch und will erst einer werden.“ Im Jahr 1952 glaubte sie noch fest an die Zukunft des Sozialismus in Deutschland, von den möglichen Erschütterungen ihres Weltbilds durch die Aufstände des 17. Juni 1953 und vom Herbst 1956 in Umgarn oder durch den Bau der Berliner Mauer am 13. August 1961 zeugt kein Brief in diesem Band. Immerhin ließ der Roman „Der geteilte Himmel“ (1963) erkennen, wie tief sie berührt war von der Abriegelung der innerdeutschen Grenze!
Im Lauf der Jahre, nachdem sie mehrere vieldiskutierte Romane veröffentlicht und einige Auszeichnungen, darunter den DDR-Nationalpreis 1964, empfangen hatte, wurde ihr Auftreten immer mutiger und selbstbewusster. So beklagte sie sich am 20. September 1970 bei der DDR-Zollverwaltung in Ostberlin, dass ihr vom Luchterhand-Verlag in Neuwied/Rheinland zugeschickte Westrezensionen ihres Romans „Nachdenken über Christa T.“ (1968/69) beschlagnahmt worden wären und erreichte tastsächlich bei Bruno Haid (1912-1993), dem Stellvertreter des Kulturministers, dass ihr 1974 eine „Sondergenehmigung“ zum Empfang westdeutscher Zeitungsartikel erteilt wurde. Am 11. März 1975 schrieb sie zwei zornige Seiten an Politbüromitglied Kurt Hager (1912-1998), um sich wortreich über den intriganten Kulturfunktionär Alexander Abusch (1902-1982) zu beschweren. Mehrere Briefe richtete sie seit 1977 an den SED-Generalsekretär Erich Honecker (1912-1994) und setzte sich für die Freilassung verhafteter Schriftsteller wie Jürgen Fuchs (1950-1999) oder festgenommener Oppositioneller wie Bärbel Bohley (1945-2010) und Ulrike Poppe (1953) ein. In ihrem Brief vom 27. Januar 1988 machte sie den Staatsratsvorsitzenden eindringlich darauf aufmerksam, dass nach der Luxemburg-Liebknecht-Demonstration vom 17. Januar über 100 Gegendemonstranten verhaftet worden wären.
Das ausschweifende Verzeichnis ihrer Briefpartner (S.986-1040) zeigt dem Leser, dass sie auch gute Kontakte ins „kapitalistische Ausland“ hatte, nach England, Österreich, in die Vereinigten Staaten und besonders nach Westdeutschland. Mit amerikanischen Germanisten, die sie zu mehrwöchigen Gastvorlesungen eingeladen hatten, stand sie in ständiger Korrespondenz, nachdem sie zuerst 1974 ans Oberlin College nach Ohio gereist war. Häufig liest man in ihren Briefen von Aufbrüchen zu Lesungen und Vorträgen in ferne Länder, die dem gewöhnlichen DDR-Bürger bis zum Rentenalter verschlossen waren. Westbücher bekam sie zu jeder Zeit über ihren Verlag oder direkt mit „Sondergenehmigung“ zugestellt. Die Zensur hatte sie kaum zu fürchten, da der SED-Staat mit ihrem Wirken als sozialistische Schriftstellerin die Hoffnung auf den Literaturnobelpreis verband, womit der Unrechtsstaat DDR gewaltig aufgewertet worden wäre. Sie war privilegierter „Reisekader“ in Literatur, der immer, trotz aller Anfechtungen, zu diesem Staat stand.
Das konnte man schon man schon 1963 ihrer „Republikflucht“-Erzählung „Der geteilte Himmel“ entnehmen und ihrem wirklichkeitsfremden Aufruf „Für unser Land“ vom 28. November 1989, womit sie den gescheiterten Sozialismus retten wollte. Immerhin war sie, anders als Hermann Kant, aufgeschlossen für das Leid ihrer Kollegen, die staatliche Verfolgungen und Veröffentlichungsverbote erlitten hatten. Der Lyriker Ulrich Schacht (1951), der im Frauenzuchthaus Hoheneck geboren wurde und als oppositioneller Theologiestudent drei Jahre im Zuchthaus Brandenburg saß, ehe er freigekauft wurde, hat, noch vor dem Mauerfall, mit Christa Wolf in Hamburg ein Gespräch unter vier Augen geführt und von seinem Schicksal erzählt. Sie war, berichtete er später, erschüttert darüber, was ihm widerfahren war, obwohl sie noch wenige Stunden zuvor während einer Lesung ihren Staat verteidigt hatte. Zweifellos hat auch Christa Wolf unter ihrem Staat gelitten! Als die Lyrikerin Sarah Kirsch im Sommer 1977 ausreisen durfte, schrieb sie an den Schriftstellerverband: „Meine Hoffnung ist erschöpft.“ Und nach Paris berichtete sie 1979 aus einem Hotel in Frankfurt/Main: „Hier umgibt mich eine schneidende Fremd heit.“
Den russischen Germanisten Lew Kopelew (1912-1997), der 1981 von Moskau nach Köln ausgebürgert wurde, hatte sie 1965 während eines Besuchs bei der von ihr bewunderten Anna Seghers kennen gelernt. Ihren ersten Brief nach Moskau schrieb sie am 28. November 1969, nachdem im Sommer zuvor ihr von der Partei heftig kritisierter Roman „Nachdenken über Christa T.“ ausgeliefert worden war. Der Brief vom 17. März 1984 (neun Seiten!) ging schon nach Köln, wobei anzuerkennen ist, dass sie, anders als Anna Seghers, Freundschaften nicht abbrach, wenn der Briefpartner zum „Klassenfeind“ übergewechselt war; immerhin hatte Lew Kopelew zehn Jahre im Straflager verbracht und darüber das Buch „Aufbewahren für alle Zeit“ (1976) veröffentlicht. Aber auch mit dem Leningrader Literaturwissenschaftler Efim Etkind (1918-1999) blieb sie in Verbindung, nachdem er 1974 nach Paris emigriert war. Briefe an „Dissidenten“ nach Russland , das wird gelegentlich angedeutet, hat sie nicht der Post anvertraut, sondern reisenden Freunden mitgegeben haben. Briefe ins westliche Ausland verschickte sie von Westberliner Postämtern.
Ihrem Leipziger Professor Hans Mayer (1907-2001), bei dem sie 1953 ihre Staatsexamensarbeit über Hans Fallada (1893-1947) geschrieben hatte, blieb sie auch als erfolgreiche DDR-Schriftstellerin verbunden. Am 21. März 1963 bedankte sie sich für die Einladung zu einer Lesung an der Karl-Marx-Universität aus ihrem Roman „Der geteilte Himmel“ (1963), die schließlich am 7. Mai stattfand. Obwohl er im Spätsommer 1963 während einer Reise nach Westdeutschland „Republikflucht“ begangen hatte, schrieb sie ihm am 10. November 1984 nach Tübingen und fragte ihn, ob er wüsste, dass der am 24. Februar 1984 auf einer Insel in der Themse bei London verstorbene Uwe Johnson (1934-1984) heimlich 1980 als „Mr. Johnson“ mit einer englischen Reisegruppe Mecklenburg im Bus bereist hätte. In ihrem letzten Brief an ihn vom 13. März 2000 gratulierte sie ihm zum 93. Geburtstag am 19. März und lobte seine „geistige Frische“.
Hier nun muss Sabine Wolf, der Bearbeiterin dieses Briefbandes, ein kräftiges Lob gespendet werden. Was sie hier, vermutlich in jahrelanger Arbeit, an Fußnoten und Anmerkungen erstellt hat, ist eine DDR-Literaturgeschichte in nuce über fast 60 Jahre. Auszuschöpfen ist das in einer Rezension kaum!
Dennoch muss angemerkt werden, dass manche Fragen nach wie vor ungeklärt bleiben. Ein Beispiel dafür ist der frühe Roman „Der geteilte Himmel“, der, zwei Jahre nach dem Mauerbau veröffentlicht, vom Rhein bis zur Oder gefeiert wurde als Zeugnis neuer Offenheit junger DDR-Autoren, die die deutsche Teilung unter einer anderen Perspektive sahen als die Partei und dafür kritisiert wurden. Martin Reso hat in seinem Sammelband „`Der geteilte Himmel` und seine Kritiker“ (1965) die Diskussion über das Buch auf 304 Seiten dokumentiert. Heute aber, 25 Jahre nach dem Untergang des SED-Staates, muss man fragen dürfen, ob Christa Wolf nicht, wie es auch Brigitte Reimann in ihrem Roman „Die Geschwister“ (1963) vorgeführt hat, DDR-Bürger, die den ungeliebten Staat verlassen wollen, kriminalisiert und zu „Staatsfeinden“ erklärt wie den Chemiker Dr. Manfred Herrfurth, den Protagonisten des Romans. Er hat klar erkannt, dass der „Kapitalismus“ der Planwirtschaft weit überlegen ist und überschreitet deshalb die Grenze nach Westberlin. Rita Seidel dagegen kehrt aus Westberlin, wo sie sich „auf schreckliche Weise in der Fremde“ gefühlt hatte, nach Halle-Ammendorf zu den Waggonbauern zurück, rationale Gründe für diese Entscheidung werden nicht genannt. Es ist, wie bei Anna Seghers, ein Gefühlssozialismus, der die Entschlüsse der Figuren prägt. Wer diesen Weg nicht mitgeht, sondern zum „Klassenfeind“ überläuft, hat sich für das Gestern entschieden! Wer den „Arbeiter- und Bauernstaat“ verrät und flieht, wird dem Strafrechtsergänzungsgesetz vom 11. Dezember 1957 unterworfen und mit Gefängnis bestraft.
Ungeklärt bleibt auch das Verhältnis zu Thomas Nicolaou (1937-2008), der seit 1949 als Sohn griechischer Kommunisten in Ostberlin lebte und Gedichte schrieb. Er hat, wie nach dem Mauerfall 1989 bekannt wurde, jahrelang als inoffizieller Mitarbeiter „Anton“ für die „Staatssicherheit“ gearbeitet und zahlreiche Schriftsteller, darunter auch Christa Wolf, in ihren mecklenburgischen Häusern in Neu Meteln und Drispeth ausgehorcht; ihm hat sie lange, vertrauensselige Briefe geschrieben. Warum sie sich mit Stasi-General Markus Wolf (1923-2006) geduzt hat, wie Marianne Birthler berichtete, muss auch noch ergründet werden.
Christa Wolf „Man steht sehr bequem zwischen allen Fronten. Brief 1952-2011“, herausgegeben von Sabine Wolf, Suhrkamp-Verlag, Berlin 2016, 1040 Seiten, 38.00 Euro
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