Leben wir in einer mythischen oder logischen Welt?

Was haben wir heutzutage mit dem „Mythischen“ zu tun? Leben wir nicht in einer „logischen“ und wissenschaftlichen Lebenswelt? Der Begriff „Mythos“ hat keinen Seltenheitswert aus. Ganz im Gegenteil: fast überall ist „er“ auffind- und lesbar, adelt sowohl Werbeprodukte als auch (historische) Persönlichkeiten. Aber was eigentlich das Wort „Mythos“ in der Urform bedeutet, stellt für den Normalverbraucher selbst einen Mythos dar. Was ist unter „Mythos“ zu verstehen? Und wie lässt sich der „Mythos“ vom „Logos“ differenzieren?
Wenden wir uns zuerst einer Definition aus André Lalandes Vocabulaire technique et critique de la philosophie zu. Im Folgenden beziehen wir uns ausschließlich auf A. und B. seiner Erläuterung des Mythos:

MYTHE […]
A.Récit fabuleux, d´origine populaire et non réfléchie, dans lequel des agents impersonnels, le plus souvent les forces de la nature, sont représentés sous formes d´êtres personnels, dont les actions ou les aventures ont un sens symbolique. […]


Lalandes Ausführung kann folgendermaßen übersetzt werden: Bei einem Mythos handelt es sich um eine sagenhafte Erzählung, von volkstümlicher Herkunft und gekennzeichnet durch Irrationalität, in welcher unpersönliche Kräfte, sehr oft auch Naturkräfte, in personifizierter Form dargestellt werden und deren Handlungen und Abenteuer symbolische Bedeutung haben. Lalande schreibt weiter:

B.Exposition d´une idée ou d´une doctrine sous une forme volontairement poétique et
narrative, oú l´imagination se donne carrière, et mêle ses fantaisies aux vértités […]

(Der Mythos ermöglicht aber auch die) Darstellung einer Idee oder einer Lehre in poetischer oder erzählender Form, wo die Phantasie „im Vordergrund steht“, Phantasie und Wahrheit „vermischt“ sind. Lalande führt als Beispiele dafür das Höhlengleichnis Platons an. Es scheint evident, daß sich auf die meisten, auch auf die in den weiteren Kapiteln angeführten, Philosophen und ihr Mythosverständnis die obigen Definitionen anwenden lassen, diese aber noch immer sehr „schwammig“ zu sein scheinen. Versuchen wir deshalb zum besseren Verständnis einen Vergleich. Ich habe mich entschlossen, bei der abendländischen Kultur zu verweilen und wende mich daher, wenn auch nur rudimentär, zu Analogiezwecken der Urform der darstellenden Kunst, der griechischen Tragödie zu. Sie hat mehr mit dem (griechischen) Mythos als mit der (post)modernen Tragödie gemein – mehr, als manvielleicht vorab zu glauben bereit ist.
In beiden, sowohl im Mythos wie in der Tragödie, steht die Handlung im Vordergrund, gilt die Aufmerksamkeit dem Geschehen und nicht, wie vor allem in den tragischen Dramen des 20. Jahrhunderts, der emphatischen Individualität des Protagonisten. Im Mittelpunkt steht also das Individuum inklusive seiner spezifischen, charakterlichen Konzeption, mit dessen Gebrechen oder Stärke das Stück geschlossen wird. Ganz anders in der Antike, wo sich sowohl Mythos als auch Tragödie durch Überindividualität als auch durch Tendenz zur Handlungsregulierung und –motivation auszeichnen.
Wenden wir uns gleich der Überindividualität zu. Unbestreitbar, da wohlbekannt, haben Mythos und Tragödie eine schier unüberschaubare Menge an unterschiedlichsten Charakteren parat, z.B.: Odysseus, Ödipus, Dionysos, Elektra u.v.a. Diese haben natürlicherweise ihre Bedeutung, aber einen der erzählten/gezeigten untergeordnete. Ob sie durch historische Realität brillieren können, ist nicht wirklich entscheidend; vielmehr bedeutsam ist ihr Vermögen, Handlungen zu setzen, da diese im Zentrum stehen. Das Individuum, als einzelner Mensch verstanden,ist nur insofern wichtig als er Handlungen in Gang setzt und begeht oder, wenn man den Mythos in anderer Weise auslegen möchte, er als Mittel zur Allegorisierung dient. Das Individuum selbst ist als Handlungsauslöser ersetzbar, kann als allegorische Variable für eine kollektive, psychische oder kosmische etc. Kraft eingesetzt werden – Überindividualität ist sein Kennzeichen. Strittig ist in diesem Fall nur, was der Protagonist z.B.: der Odyssee verkörpern sollte – das Material allein zu dieser Thematik scheint (?) unendlich.
Kommen wir nun zur vorher genannten Tendenz zu Handlungsregulierung und –motivation. Es ist nötig, auf diesen Punkt, wiederum vergleichend, einzugehen. Beginnen wir mit der griechischen Tragödie und ihrer Bedeutung für die Menschen des Altertums. Wenn man Aristoteles trauen darf, war die klassische Tragödie, über die er auch selbst theoretisierte, nicht (nur) als Kunstgenuss gedacht, sondern verfolgte die Intention einer subjektiven UND kollektiven „karthasis“, d.h. also einer Art von seelisch-geistiger Regeneration bzw. Reinigung. Sie hatte also eine psychologische Funktion, aber auch eine die Gemeinschaft regulierende – indem sie möglicherweise manche Handlungen motivierte, andere abschwächte und regulierte. Heutzutage ist es sehr schwer nachvollziehbar, wie und mit welchen Absichten Tragödien (oder aber auch Mysterienspiele) abgehalten wurden. Auch jüngere Versuche auf dem Gebiet der klassischen Tragödie wieder Fuß zu fassen bzw. sie wiederzubeleben, d.h. eine „moderne“ Tragödie nach klassischem Vorbild zu schaffen, sind (auch nach Meinung der meisten Dramatiker selbst) gescheitert.
Versuchen wir nun Analogien zwischen Tragödie und Mythos zu finden. Wie wir oben festgestellt haben, spielt die Überindividualität unter denselben Aspekten, wie oben gezeigt, eine große Rolle im Mythos. Wie steht es aber mit dem handlungsregulierenden und -motivierenden Faktor? Ich bringe an dieser Stelle eine historische Anekdote über Alexander den Großen, der, wie Generationen vor und nach ihm Homer und seine Epen samt enthaltener Mythen(gestalten) verehrte. Alexander beschäftigte sich vor allem mit Homers´ Ilias, für deren Auslegung es auch eigens ausgebildete Lehrer gegeben haben soll, und bewunderte insbesondere die Mythengestalt des Achilleus:

„Für ihn begeisterte sich der Königssohn vor allem, wollte wie er >>immer der Beste sein und den anderen weit überlegen<< und liebte Homers >>Ilias<< so sehr, dass er sie auf seinen späteren Feldzügen stets neben seinem Dolch unter dem Kopfkissen liegen hatte. Entsprechend hoch hielt er auch die Tugenden der homerischen Helden: Mut bis zur Verwegenheit, brennendes Verlangen nach Ruhm und bedingungslose Treue.“

Zu Alexanders Zeiten war auch Troja längst zu einem touristischen Pilgerziel geworden; auch Alexander legt angebliche einen Kranz auf Achilleus´ Grab nieder. Der Einfluss von Homers Mythen darf nicht unterschätzt werden – insbesondere die Bedeutung der mythischen Gestalten für das (alltägliche) Leben der Griechen.
Es scheint fast so, als trüge jeder Mythos noch zusätzlich seine Tugenden und seine eigene Moral in sich. Vielleicht wurde aber auch der gesamte Moralkodex oder das „Tugendideal“ einer Kultur, in diesem Fall der griechischen, durch seinen Mythenkomplex ausgedrückt und verbreitet – der Mythos als normierendes und sozialisierendes Medium?
Um den Vergleich abzuschließen muss auch auf einen bedeutenden Unterschied zwischen Tragödie und Mythos hingewiesen werden: Während Raum und Zeit im Rahmen des Mythos wederBedeutung noch besondere Aufmerksamkeit zukommen, vielmehr erscheint dieser durch eine spezielle Art von Raum- und Zeitlosigkeit gekennzeichnet zu sein, sind diese für (den Aufbau) der Tragödie tragende Komponenten.
Treten wir noch einmal einen Schritt zurück und begutachten wir wiederum Lalandes Definition B. von Mythos; diese dürfte wohl die aktuellere Verwendungsform sein: Lalande zufolge kann also mithilfe des Mythos eine Idee bzw. einer Doktrin dargestellt werden, jedoch in einer speziellen Weise, in welcher die Phantasie den Vorzug erhält. Das rudimentäre, alltägliche Verständnis des mythos scheint eine Verbindung zwischen Denken/Philosophie und Mythos kategorisch abzulehnen. Aber: Ist der Mythos als philosophische Methode und Erklärungsmedium widerspruchsvoll? Ernst Topitsch meint in seinem Buch Erkenntnis und Illusion dazu:

„Man pflegt dem Auftreten dessen, was üblicherweise als Philosophie bezeichnet wird, eine besondere Bedeutung für die geistige Entwicklung der Menschheit zuzuschreiben. Hier hat nach einer verbreiteten Auffassung der menschliche Geistsich aus der Befangenheit in den mythischen Überlieferungen befreit und damit eine neue Stufe der Erkenntnis und des Selbstbewußtseins erreicht. Doch schon der Versuch, mythisches und philosophisches Denken voneinander abzugrenzen, stößt auf sehr erhebliche Schwierigkeiten.“

Und weiters schreibt er über die Verwebung von mythischem und philosophischem Denken:

„Das höchste Weltprinzip, der oft mit Zeus gleichgesetzte Logos, regiert und verwaltet (dioikei) die Welt wie ein Königsgott des altorientalischen Mythos […], das Universum gleicht einem durch die vortrefflichsten Gesetze geordnetem Staat. […].“

Die Frage nach der Differenz zwischen Logos und Mythos gestaltet sich nun langsam schwieriger, die Grenzen scheinen nun langsam zu verschmelzen. Die Vorstellung von einem Entwicklungsschritt, im Sinne eines Fortschritts, vom Mythos zum Logos bekommt einen schalen und verwirrenden Beigeschmack.

Literatur

FINK, Gerhard: 2004. Jugendjahre eines Helden. Krieger, Philosophenschüler und beinahe verstoßener Sohn. IN: Geschichte. Alexander der Große. 11/2004. Nürnberg: Johann Michael Sailer VerlagGmbH & Co. KG.
LALANDE, André: 171991. Vocabulaire technique et critique de laphilosophie. Presses universitaires de France.
TOPITSCH, Ernst: ²1988. Erkenntnis und Illusion. Grundstrukturen unsererWeltauffassung. Tübingen: Mohr.

Über Hirn Lisz 48 Artikel
Dr. Lisz Hirn (geboren 1984) studierte Geisteswissenschaften sowie Gesang und Kunst in Graz, Wien und Paris. Sie ist als Philosophin, Schriftstellerin, Consultant in der Jugend- und Erwachsenenbildung tätig und als freiberufliche Künstlerin an internationalen Kunstprojekten und Ausstellungen beteiligt.

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