Leben und Existenz

Ich lebe und Sie leben. Soviel scheint gewiss. Doch womit endet unser Leben? Sagen wir, unser Leben ist dann zu Ende, wenn wir tot sind, so haben wir ein philosophisches Problem. Sind wir nämlich tot, so sind wir nicht mehr. Der landläufige Gebrauch des Wortes „sein“ führt in die Irre. Sage ich: Mein Nachbar „ist“ tot, so unterstelle ich unwillkürlich, dass ihm eine Eigenschaft zukommt. Wobei ich mich doch gerade deshalb des Wortes „tot“ bediene, um mitzuteilen, dass er aufgehört hat zu sein.

Offenbar ist das Hilfsverb „sein“ nicht geeignet, das zu transportieren, was wir mitteilen wollen, wenn wir sagen, jemand sei tot. Eine sprachliche Alternative ist der Ausdruck „existieren“. Statt zu sagen, „Mein Nachbar ist tot“, müsste ich demnach sagen: „Mein Nachbar existiert nicht mehr“. Prüfen wir diese Aussage auf ihre Tragfähigkeit hin. Ist nicht schon die Frage „Wo ist der Tote?“ geeignet, unsere Rede von seiner Nichtexistenz zu widerlegen? Zweifelsohne befindet sich in der Nachbarswohnung ein Leichnam. Aber dies ist eben nur der Körper eines Verstorbenen, der Körper des nicht länger existierenden Nachbarn.

Was muss einem lebenden Wesen widerfahren, soll es aufhören zu existieren? Und was kann einem lebenden Wesen widerfahren, ohne dass es aufhört zu existieren? Man nehme mir einen Fuß, ein Bein, Arme und Beine, den gesamten Körper. So lange mein Gehirn bei entsprechender Versorgung mit Nährstoffen und Reizen Bewusstsein realisiert, werde ich existieren. Verschlechtert sich im Falle einer Alzheimer-Erkrankung der Zustand meines Gehirns, werde ich irgendwann kein selbstbewusstes Wesen mehr sein, sondern nur mehr ein selbst-loses Wesen. Gleichwohl werde ich es sein, der da fortexistiert. Und kein anderer. Ich lebe nicht nur so lange, wie ich denke, sondern solange, wie mein Gehirn der Ort von Empfindung und Wahrnehmung ist.

Hören wir in dem Augenblick auf zu existieren, da unser Gehirn kein – wie immer basales – Bewusstsein mehr realisiert, so kann nicht gänzlich ausgeschlossen werden, dass wir vorübergehend nicht existieren. Nehmen wir nämlich an, dass unser Gehirn in bestimmten Schlafphasen, während einer Bewusstlosigkeit, in der Narkose oder im tiefen Koma keinerlei Bewusstsein hervorbringt, so existieren wir für die Dauer dieser vollständigen Bewusst­seinslosigkeit genau dann nicht, wenn zutrifft, dass wir essentiell das von unserem Gehirn realisierte Bewusstsein sind. Ob unser Bewusstsein jemals vollständig erlischt ohne endgültig zu erlöschen, ist unter Neurologen und Anästhesisten strittig. Sollte es so sein, dass unser Bewusstsein niemals vollständig erlischt, bevor es endgültig erlischt, so existieren wir kontinuierlich bis zum Eintritt des „Tod“ genannten Ereignisses. Sollte es hingegen so sein, dass unser Bewusstsein allnächtlich vollständig erlischt, so wäre unsere Existenz eine diskontinuierliche: Wir existierten vorübergehend nicht, um abermals zu existieren, sobald unser Gehirn wieder Bewusstsein realisiert. Tiefer Schlaf wäre in der Tat Todes Bruder – ersterer vorübergehende, letzterer endgültige Nichtexistenz.

Machen wir ein Gedankenexperiment: Ein über alle Maßen empörter Leser dieser Zeilen zerstöre mein Gehirn in einer Schlafphase, in der es keinerlei Bewusstsein realisiert. Folglich zerstörte er mein Gehirn zu einem Zeitpunkt, da ich nicht existierte. Wann starb ich? Ich hörte auf zu existieren, als mein Gehirn eine Weile nach dem Einschlafen keinerlei Bewusstsein mehr realisierte. Ich legte mich in dem Glauben schlafen, nur vorübergehend nicht existieren zu werden. Als ich nicht existierte, wurde mein Gehirn, die conditio sine qua non meiner Existenz, zerstört. Folglich hörte ich endgültig zu existieren auf – in landläufiger Ausdrucksweise: ich verstarb –, als mein Gehirn irgendwann nach dem Einschlafen aufhörte, Bewusstsein zu realisieren. Durch die Zerstörung meines Gehirns wurde ich, der ich nicht existierte, nicht getötet. Allerdings wurde bewirkt, dass ich, der ich nicht existierte, niemals wieder würde existieren können.

Wenn es so ist, dass es kein Subjekt gibt, welches tot „ist“, eben weil der Tod das end­gültige Ende der Existenz jenes Subjekts bedeutet, dem man Eigenschaften zuschreiben könnte, so bedeutet dies, dass wir niemals tot sein werden. Denn niemals werden wir nicht­seiend sein. Folglich gibt es auch keine Toten, sondern nur die Körper Verstorbener.

(Zur Homepage des Autors: www.akerma.de)

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Über Karim Akerma 76 Artikel
Dr. Karim Akerma, 1965 in Hamburg geboren, dort Studium u.a. der Philosophie, 1988–1990 Stipendiat des Svenska Institutet und Gastforscher in Göteborg, Lehraufträge an den Universitäten Hamburg und Leipzig, Tätigkeit als Übersetzer aus dem Englischen, aus skandinavischen und romanischen Sprachen. Wichtigste Publikationen: „Verebben der Menschheit?“ (2000), „Lebensende und Lebensbeginn“ (2006) sowie "Antinatalismus - Ein Handbuch" (2017).

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