David Blackbourn: Die Eroberung der Natur – Eine Geschichte der deutschen Landschaft. Aus dem Englischen von Udo Rennert. München (Pantheon): 2008. 592 Seiten. EURO (D) 16,95. ISBN: 978-3570550632.
Das jüngste Werk David Blackbourns, des Harvard-Historikers, durch Udo Rennert im Ganzen kompetent ins Deutsche übersetzt, ist lesenswert aus mehreren Gründen. Erstens wird deutsche Geschichte unter ökologischer Perspektive erzählt, als Geschichte nicht bloß der Umweltbewegung in Deutschland, sondern der ideellen und materiellen Formung deutscher Landschaften. Diese Sicht ist erhellend, weil ‚Natur’ seit der Romantik für Deutschlands Geisteswelt eine herausgehobene Rolle spielt (‚deutscher Wald’ etc.). Bei Blackbourn werden die geistes- und wirtschaftsgeschichtlichen Hintergründe des deutschen Nahverhältnisses zum Land, zur Scholle, im schlimmsten Fall zu „Blut und Boden“ erschlossen. Eine gefühlte – und literarisch oft artikulierte – Distanz zum urbanen Prinzip, zu Kosmopolitismus, Agora und Salon, zu ‚Judentum’ und ‚westlicher’ ‚Zivilisation’ bildet die Kehrseite besagter kultureller Dominante; dies zumindest zwischen spätem 18. Jahrhundert und 1945. David Blackbourn stellt jene Phänomene erstmals im Zusammenhang dar – methodisch durchdacht und theoretisch anspruchsvoll, doch ohne die ‚Sonderwegsthese’ zu bemühen oder geschichtsphilosophischen Spekulationen die Ehre zu geben. Neben Heinz Schlaffers Kurzer Geschichte der deutschen Literatur und Herfried Münklers Die Deutschen und ihre Mythen zählt Blackbourns Studie zu den anregendsten jüngeren Darstellungen deutscher Geistesgeschichte.
Zweitens werden bislang unverstandene Merkwürdigkeiten durchschaubar gemacht: Dass Vegetarier in der Führungsspitze des nationalsozialistischen Deutschland überzufällig häufig vertreten waren und strenge Tier- und Naturschutzgesetze nach 1933 vergleichsweise hohe Priorität hatten. Dergleichen Anliegen, die heute als links gelten, sind damals rechts gewesen, und Blackbourn macht dies unaufdringlich, aber in unübertroffener Klarheit, begreiflich. Sein kuriosester Belegfall: Das „Avocado-Syndrom“ – „grüne Schale, brauner Kern“ (399) – jener Protagonisten der Umweltbewegung im Deutschland der Nachkriegsjahre, deren vormalige nationalsozialistische Affinitäten bis in die Ausdrucksweise weiterwirkten.
Drittens fällt ein erhellendes Schlaglicht auf in der Nachkriegszeit hoch geachtete Literaten nach Art Hans Künkels, Karlheinz Gehrmanns oder ‚der’ preußischen Heimatdichterin Agnes Miegel – und deren subkutan slawophoben Metaphernvorrat. Die Leistung ‚neuer Heimatdichter’ – Blackbourn nennt Günter Grass, Horst Bienek, Peter Härtling, Siegfried Lenz – tritt vor diesem Hintergrund umso deutlicher hervor:
„[…] ihre Werke hatten größeres moralisches Gewicht, weil sie die deutschen Verbrechen im Osten anerkannten, die eigentlichen Gründe für Flucht und Vertreibung. Die von ihnen geschilderten Landschaften im Osten waren ebenfalls überzeugender, da sie keine zeitlosen Gemälde waren, auf denen Deutsche der Natur begegneten, andere Menschen jedoch nicht vorkamen, sondern Landschaften, die einer komplexen ethnischen und sprachlichen Realität gerecht wurden.“ (385)
Viertens werden selten beachtete Zusammenhänge deutscher Besatzungspolitik in Polen und Russland sichtbar gemacht. Die „Lebensraum“-Idee im Verbund mit hochfliegenden Plänen zur ‚ökologischen’ Neuordnung des Landes – einschließlich Vertreibung, Versklavung oder Ermordung der eingesessenen Bevölkerung – wird ausführlich dargestellt. Besonders lehrreich und verstörend zeigt sich der Abschnitt über Techniken der Landgewinnung: Flussbegradigung und Urbarmachung von Sümpfen waren zunächst, bis ins frühe 20. Jahrhundert, wirtschaftlich und demographisch begründet: moralisch unverfängliche Peuplierungspolitik. (Bekannteste Beispiele in Deutschland: Friedrichs des Zweiten Kultivierung des Oderbruchs und Johann Gottfried Tullas ‚Korrekturen’ am Flusslauf des Rheins.) Im Zweiten Weltkrieg diente dieselbe Technologie zur ‚Befriedung’ besetzter Gebiete: In Sumpfgebieten (z. B. am Pripjet östlich Brest-Litowsk) hatten sich tausende Verfolgte und Widerstandskämpfer versammelt: Landgewinnung wurde umgemünzt zu Vernichtungszwecken. Die letzten verbliebenen Sümpfe in Deutschland wurden nach 1945 trocken gelegt – um Vertriebenen aus ‚deutschen Ostgebieten’ Siedlungsmöglichkeiten zu schaffen: ‚Innere Kolonisation’, seltsam verspätet.
Wenn es einen Kritikpunkt gibt – abgesehen von der teils unidiomatischen, in Belangen der Kasus gelegentlich idiosynkratischen Übersetzung –, so betrifft er Blackbourns holzschnittartige, vergröbernde Darstellung der deutschen Vertriebenen samt deren Erinnerungspolitik. Mag er das sentimentale, von revisionistischen Anwandlungen durchsetzte Gedenken an ‚Deutschlands Osten’ mit vollem Recht geißeln – seine Einlassungen zur scheinbar gelungenen Integration in die westdeutsche Nachkriegsgesellschaft und den, wie Blackbourn meint, erheblichen politischen Einfluss der Vertriebenenverbände können spätestens durch Kosserts Kalte Heimat (2008) als widerlegt gelten. Freilich: Die Eroberung der Natur handelt von Vertriebenen nur am Rande. Sie ist im Ganzen prächtig gelungen: ein Meisterwerk kenntnisreicher, kluger Anverwandlung von Geschichte.
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