Einer der spektakulärsten Pavillons an der Kunstbiennale von Venedig 2013 ist zweifelsohne der chilenische in dem „Artiglierie“ -Bau vom Arsenale. Gleich beim Betreten steht man plötzlich vor einem überdimensionalen auf Lightbox montierten S/W-Foto, das in einem spannenden Flashback den 1946 aus Argentinien heimgekehrten Künstler Lucio Fontana festhält, während er mit unsicherem Schritt auf die Trümmer seines zerbombten Mailänder Ateliers steigt. Eine Treppe führt weiter zu einer typisch venezianischen Brücke, worauf eine bis zum Rande mit Wasser gefüllte Metallwanne platziert ist. Aus den Fluten taucht alle drei Minuten und für nur wenige Sekunden ein Modell aus silbergrauem Harz, das die Bauten auf dem „Giardini“-Gelände reproduziert. Der Zusammenhang zwischen dem dramatischen Bild am Eingang und der faszinierenden Installation ist gleich erkennbar: Es geht um das Thema der Zerstörung als unabdingbare Voraussetzung für das Entstehen des Neuen. Wie die unmittelbare Nachkriegszeit vielen italienischen Künstlern und Intellektuellen wie Rossellini, Visconti, Ungaretti oder Fontana selbst die Chance für eine grundlegende Erneuerung des Kulturlebens in Italien bot, so kann sich ein Neuanfang in der Kunstszene in Venedig erst durch eine radikale Veränderung des Konzepts der Biennale anbahnen. Dies angefangen bei der architektonischen Umgestaltung an dem „Giardini-Gelände“, das zum großen Teil aus der Zeit vor dem 1. Weltkrieg stammt und nun – nach Meinung des bekannten chilenischen Künstlers Alfredo Jaar, der die Installation„Venezia, Venezia“ realisiert hat – völlig überholt ist. Durch diese „poetische Einladung das „Biennale-Konzept neu zu denken “ wird die Fähigkeit der derzeitigen Kunstschau untersucht, sich an den „transnationalen Bedingungen der zeitgenössischen Kultur anzupassen“ und gleichzeitig auf den besonderen „Stellenwert der Diversität“ in unserer Umbruchzeit hingewiesen, in der das Gleichgewicht zwischen armen und reichen Ländern zunehmend in Frage gestellt wird, während sämtliche Wirtschaftssysteme kollabieren.
28 zwischen 1909 und 1988 erbaute nationale Pavillons befinden sich an dem„Giardini“-Gelände. Alle anderen Länder oder gar Kontinente wie das Südamerikanische finden – zu hohen Mietpreisen – ihren Platz im Arsenale oder sind verstreut im gesamten Stadtgebilde mal – wie Irak oder Kuwait – in einem Palast am Canal Grande oder in bescheideneren Locations in der Umgebung . Dem Drang, das altbewährte Konzept der Nationen zu überwinden, folgt – wie kein anderer – der Deutsche Pavillon, der sich diesmal dank eines Tausches mit Frankreich, der bereits Geschichte macht, im französischen Bau befindet, wie der verdrehte Schriftzug an einem Banner neben dem Haupteingang sofort zu erkennen gibt. Im Inneren die Werke vier rigoros nicht-deutscher Künstler. Edel ist sicherlich die Geste, dem in China verfolgten Ai Weiwei einen repräsentativen Raum für seine aus fliegenden Stühlen bestehenden Großinstallation zu bieten. Für viele Besucher aber völlig unverständlich die Entscheidung, keinen einzigen deutschen Künstler aufzunehmen. Die italienische Presse, bei der deutsche Kunstschaffende hohes Ansehen genießen, fragt ironisch, ob der „Typus“ ausgestorben sei oder ob dieser so radikale Ausschluss als „krankhafte Suche nach Exotismus“ zu bewerten sei, noch schlimmer als „Rückfall in die gewohnte Obsession, sich von alten oder neuen Schuldgefühlen befreien“ zu wollen. Gewiß war dies nicht die Wirkung, die Susanne Gänsheimer bei ihrem zweiten Mandat als Kuratorin des Deutschen Pavillons erzielen wollte, nachdem die vorausgegangene „Inszenierung“ vor zwei Jahren auch heftig kritisiert wurde. Eine von vielen geteilte kritische Haltung gegenüber des Konzepts der nationalen Pavillons rechtfertigt in keiner Weise, dass ein Land wie Deutschland, das der Biennale bei ihrer Gründung 1895 als „Internazionale Esposizione d'Arte di Venezia“ Pate stand, völlig abwesend sei. Die besorgte Frage nach möglichen „Identitätsproblemen“ erscheint in diesem Fall mehr als berechtigt.
Als „Erzählung in drei Takten“, die sich ganz „auf die Choreografie der linken Hand konzentriert“ entfaltet sich im elegant und funktionell umgestalteten Deutschen Pavillon der dreiteilige filmische Beitrag RAVEL RAVEL UNRAVEL von Anri Sala, der tiefe Emotionen auslöst. Im immer noch sehr englischen Pavillon Gorßbritanniens, wo auch eine Tasse Tee serviert wird, erzählt Jeremy Deller in großformatigen Gemälden unter dem Titel ENGLISH MAGIC besondere Momente in der komplexen wirtschaftlichen, sozio-politischen und kulturellen Geschichte seines Landes. Unter den auffälligsten Werken ein Großbild von Stuart Sam Hughes, in dem ein riesiger William Morris, bekannter Maler und Sozialist der Viktorianischen Periode, die Luxusjacht „Luna“ des russischen Oligarchen Roman Abramovich in die Luft hebt, um sie in die Lagune zu werfen. Die 377 Füße lange Jacht war während der vorausgegangenen Biennale 2011 vor dem Arsenale vor Anker gegangen und sperrte auch durch einen um sie herum gebauten Sicherheitszaun die Sicht auf die Lagune. Neben dem Bild eine Reihe von Aktiencoupons von Firmen, die nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion privatisiert wurden. Das Thema der Übermacht des Geldes und dessen korrumpierenden Einflusses ist ganz besonders im Russischen Pavillon präsent. Dort wird man von einem schauerartigen Goldregen überrascht, der dazu zwingt, den Raum unter einem schützenden transparenten Regenschirm zu betreten. Einlass erhalten lediglich die vermeintlichen Opfer der Verführung, nämlich ausschließlich weibliche Wesen. Vadim Zakharovs Performance in 5 Akten, die den Namen der Göttin trägt, knüpft an den altgriechischen Mythos der DANAE als Allegorie für jede Form von Verführungskunst an. Eine Schrift an der Wand lädt zum Umdenken ein: „Die Zeit ist gekommen unsere Begierde, Zynismus, Verschwendungssucht, Maßlosigkeit, Neid und Dummheit“ zu gestehen. Ein gewaltiger Trümmerhaufen empfängt den erstaunten Besucher in dem von Lara Almarcegui gestalten Spanischen Pavillon. Unvermeidlich der Gedankensprung zur gewaltigen Baukrise, die die Iberische Halbinsel in ihrem eigenen Fundament erschüttert hat.
In drei Videos verdingen sich im Griechischen Pavillon die vielen Gesichter einer ungerechten Umverteilung des Geldes, die nur manche Privilegierten bevorzugt. Einem im Müll wühlenden Afrikaner auf der Suche nach verwertbaren Metallen wird ein Fotograf auf der Suche nach spannenden Sujets in sozial schwachen Vierteln gegenübergestellt. In einem dritten fertigt eine betagte geistig verwirrte Kunstsammlerin herrliche Blumen mit echten 500 -Euro-Scheinen eigenhändig an. Mit der Installation UNEXPLODED BOMBS macht der Ungarische Pavillon auf das Problem der vielen noch irgendwo existierenden nicht detonierten Sprengkörper aufmerksam. Beim Verlassen des Raumes bleibt nur eine quälende Frage: Gleicht nicht unsere Welt selbst einer tichenden Bombe?
Im Einklang mit einem gewissen Zeitgeist und zweifelsohne dem Irrationalen huldigend – vordergründig durch die Wahl dreier Leitfiguren wie Carl Gustav Jung, Rudolf Steiner und Aleister Crowley – besticht die Ausstellung im zentralen Hauptpavillon durch die Eleganz der Gestaltung und die Ästhetik vieler Werke, manche davon von New Comer, Dilettanten oder unbekannten Künstlern stammend. Hier greift der junge Biennale-Kurator Massimiliano Gioni (39) auf eine Idee des italo-amerikanischen Autodidakten Marino Auriti zurück, der 1975 Projekte für seinen „Enzyklopädischen Palast“ beim US-Patentamt einreichte: ein „imaginäres Museum“, das das gesamte Wissen der Menschheit in einer Sammlung der bedeutendsten Entdeckungen – vom Rad bis zum Satelliten – hätte aufbewahren und katalogisieren sollen. Im Mittelpunkt dieser Werkschau steht das Buch, allem voran Jungs „Rote Buch“, einer wertvollen, bisher nur wenigen Adepten zugänglichen Miniatur-Handschrift, in der der berühmte Psychoanalytiker seine selbst-induzierte Visionen und Träume aufzeichnete und die eine Überlegung über Bilder aus dem Unterbewusstsein einleitet, die sich durch die gesamte Schau durchzieht. Es geht um das Buch als vom Untergang bedrohte „Spezies“, mal „Zufluchtsort“, mal „Fluchtweg ins Reich der Phantasie“, ein „Ort des Wissens“ und „Mittel zur Selbsterkenntnis“ zugleich. Meisterwerke der zeitgenössischen Kunst wie die hieratischen Figuren von Marisa Merz oder die sinnlich-makaberen Gestalten von Maria Lassnig – beide mit dem Goldenen Löwen ausgezeichnet – veredeln die heterogene Kombination mit historischen Funden, Trouvailles oder künstlichen Manufakturen, die die diesjährige Kunstschau charakterisieren. Gionis „Suche nach Verbindungen mit anderen Welten“ inspiriert auf eindrucksvoller Weise die Multi-Channel-Video-Installation „The Workshop“ des jungen Tel Aviver Gilad Ratman, in der sich eine kleine Gemeinschaft auf eine epische Reise von Israel nach Venedig begibt. Wie Höhlenforscher drängen sich die Expeditionsteilnehmer durch unterirdische Gänge auf einem Weg, der im Verborgenen verläuft und „frei, unbekannt, unsichtbar“ bleibt, ohne auf politische oder sprachliche Barrieren zu stoßen. Bei ihrer Ankunft verwandeln sie den Israelischen Pavillon in einem Workshop und modellieren ihren Körper aus dem Ton, den sie aus Israel mitgenommen haben. Eine halb wahre halb imaginäre Geschichte, die in eine tiefsinnige Reflexion über die Biennale als utopisches Modell für die Vernetzung der Nationen mündet. Weiter geht es mit dem uferlosen Themenkomplex auch im Arsenale, wo die Besucher bereits am Eingang auf eine imposante Rekonstruktion von Auritis entworfenen Museumsturm mit 136 Etagen seines „Enzyklopädischen Palastes“ stoßen. Dort hat die Künstlerin Cindy Sherman eine Art „Ausstellung in der Ausstellung“ konzipiert, die sich als ein Mix aus Puppen, Marionette, Idolen, Skulpturen, Gemälden, Fotos, religiösen Abbildungen bis hin zu Arbeiten von Gefängnisinsassen definiert. Insgesamt 30 Künstler zeigen sich im ersten Abschnitt der glorreichen, teilweise Jacopo Sansovino zugeschriebenen Kriegsschiffswerft der Venezianischen Republik. Der aktuelle Umbau in größere durch weiße Wände unterteilte Lofts verwandelt zwar den Raum in eine elegante museale Einrichtung, lässt gleichzeitig die magische Atmosphäre des Ortes völlig verschwinden. Zwei Jahre nach dem Aufsehen erregenden kreativ-chaotischen Experiment von Vittorio Sgarbi bringt Kurator Bartolomeo Pietromarchi den Padiglione Italia in geordnete Bahnen mit seiner Schau VICE VERSA. In sechs Räumen und dem anliegenden Garten mit jeweils zwei Künstlern am Ende vom Arsenale findet eine ideale Reise durch die heutige Kunst statt, die nicht auf die Gegensätzlichkeit der Strömungen und Generationen setzt, sondern sich wie ein Dialog zwischen alten, z.T. bereits verstorbenen Meistern und aufstrebenden Jungen entfaltet. Immer stärker ist im Arsenale die Präsenz der außer europäischen Länder. Neu vertreten in dieser Edition sind u.a. der preisgekrönte Angola-Pavillon und die vom Untergang bedrohte Pazifik-Insel Tuvalu. Ideal eingebettet in dem idyllischen Ambiente von Forte Marghera warnt sie mit ihren weißen Pinguinen vor den verheerenden Folgen des Klimawandels. Hier tritt noch einmal das Thema der Gier auf, versinnbildlicht durch die 6 Meter hohe Installation IN THE NAME OF CIVILISATION, in der ein goldenes Wall Street-Stier mit dem Kopf nach unten an einer Erdöl-Pumpe hängt. Unübersehbar – auch dank seiner Dimensionen im „Magazzino delle Cisterne“ und im „Giardino delle Vergini“ der Pavillon der Volksrepublik China. Unter dem Titel „Transfiguration“ stellen sich 7 namhafte Künstler. Neben einer Auswahl beeindruckender Videos auf riesigen Leinwänden Shu Yong's Installation GUGE BRICKS, die aus auf Chinesisch und Englisch beschrifteten Ziegeln aus transparentem Harz besteht. Originell und für gute Stimmung sorgend die bewegliche Installation des isländischen Künstlers Ragnat Kiavfansson auf den von Sansovino überdachten Wasserbecken der Schiffswerft „Le Gaggiandre“. Täglich zwischen 14 und 18 Uhr und bei jedem Wetter und Temperatur spielt ein kleines Ensemble von jungen Musikern aus dem venezianischen Konservatorium auf einem Segelboot eine nostalgische Melodie, die zur Ruhe und Besinnung animiert. Eine gigantische Rolltreppe führt in das oberste Stockwerk des in zwei Geschossen unterteilten Artiglierie-Bau. Sie führt direkt in den Pavillon der Vereinigten Arabischen Emirate, die sich mit ihrer Videoinstallation WALKING ON WATER von Mohammed Kazem einen sicheren Platz im Gedächtnis der Besucher gesichert haben. Hingeführt entlang eines dunklen Raums blickt der Betrachter aus einer hufeisenförmigen Brüstung auf das offene Meer inmitten eines stürmischen Wellenganges. Im benachbarten Südafrikanischen Pavillon greift Win Botha auf das Thema der Enzyklopädie zurück und präsentiert eine Reihe von viel bewunderten Köpfen und Figuren, die aus Büchern geformt sind. Im unteren Stockwerk befindet sich der zum ersten Mal vertretene Pavillon vom Heiligen Stuhl neben dem Argentinischen, in dem die vielen Gesichter des Mythos Evita Peron opulent ins Szene gesetzt werden. Weitere lateinamerikanische Länder sind im Pavillon des Istituto Italo-Americano vertreten. In „Campo de Color“, eine auf sich wiederholenden Strukturen basierenden minimalistische Komposition der Bolivianerin Sonia Falcone, die durch die Vielfalt der Farben und der Aromen alle Sinne wach ruft, wird die tausendjährige Geschichte der Gewürze und ihrer Rolle in den Wechselbeziehungen zwischen der Alten und der Neuen Welt aufgerollt.
Eine andere, tief bewegende Story wird im Libanesischen Pavillon aufgerollt. In der von Albert Camus „Lettre a un ami allemand“ inspirierten Video-Installation „Letter to a refusing pilot“ geht Filmemacher Akram Zaatari's einem Gerücht nach. Ein israelischer Pilot, dem befohlen worden war, ein bestimmtes Ziel während des 1982 Libanon-Kriegs zu bombardieren, kehrt um und läßt die die Bombe ins Meer fallen als ihm, der auch Architekt ist, klar wird, im Begriff zu sein, eine Schule zu treffen. Der Filmemacher ist – wie es sich herausstellt – der Sohn des Direktors der Schule. Mit seinem Video zwischen Fiktion und Realität will er u.a. eine Erkenntnis weitergeben, nämlich dass „Gegebenheiten mindestens zwei Seiten haben“.
Mit ihren 88 vertretenen Ländern auf dem Giardini -Gelände und im Arsenale, 150 Künstlern aus 37 Ländern sowie einer Reihe so genannter „Collateral Events“ in der gesamten Lagunenstadt verstreut ist die am 1. Juni eröffnete und bis zum 24. November andauernde Biennale d'Arte di Venezia seit 115 Jahren die größte, schillerndste internationale Vitrine der Kunst auf dem Globus. Gleichzeitig aber auch der Ort, an dem sich die kritische Meinung beispielsweise gegen die Arroganz des Geldes, gegen Verletzungen der Menschenrechte, nicht zuletzt gegen die gewaltsame Unterdrückung der Demokratie frei artikuliert. Ein im Eingangsbereich des Türkischen Pavillons angeschlagenes Plakat mit dem Aufruf „Resisti Istanbul“ (Halte durch Istanbul) schlägt eine Brücke zum aktuellen Tagesgeschehen, das an diesem Treffpunkt der globalisierten und immer enger vernetzten Welt traditionell mit besonderer Aufmerksamkeit und Sorge verfolgt wird.
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