Willi Achten, Die florentinische Krankheit, Edition Köln (September 2008), 416 Seiten, Gebunden, ISBN-10: 3936791570, ISBN-13: 978- 3936791570, Preis: 19,95 EURO
Kunst und Wahn
Florenz, das sind Santa Maria del Fiore – der Dom, Michelangelos David, die Uffizien, Ponte Vecchio und Palazzo Pitti. Laut einer UNESCO-Statistik besitzt Italien etwa 60 Prozent aller bedeutenden Kunstwerke der Welt; rund die Hälfte davon befindet sich in Florenz. Nirgendwo liegen Kunstgenuss und Lebenslust so nah beisammen. Das lässt jedes Jahr rund sechs Millionen Besucher in die Kulturhauptstadt Europas pilgern. Willi Achten hat seinen Roman „Die florentinische Krankheit“ hier angesiedelt.
Doch allzu leicht wird diese Stadt unterschätzt. „Immer schon täuschen uns Namen.“, erzählt ein Protagonist im Buch erzählen, „Florenz oder Florentina, so hieß die Stadt noch bei den Römern, da denkt man an Flora, die Göttin der Blumen und Gärten, die Mutter des Frühlings. Der Name beschwört die Vorstellung von Damen, die in Hotelgärten zarte Aquarelle aufs Papier bringen. (…) In Wahrheit ist die Stadt hart. Sie hatte von jeher dunkle Seiten, welche die Besucher sich hartnäckig anstrengen zu leugnen. (…) Florenz ist auch die Stadt der Rache. Und die kennt viele Methoden (…) Immer schon gab man sich hier zwischen all der Kunst ungeniert Grausamkeiten hin. Vielleicht ist das Abscheuliche nur die Kehrseite des Schönen.“ So hielt die Stadt von den späten 60ern bis in die 80er Jahre eine Serie von Ritualmorden an Liebespaaren in Atem. Ähnliche Morde geschehen auch in Willi Achtens Roman. Die Opfer sind allerdings Frauen, denen bestimmte Körperteile amputiert werden, offensichtlich animiert durch spezielle Motive der Malerei. Franz Gerber, ein deutscher Neurologe, der ein Schlafentzugsprojekt begleitet, gerät unter Verdacht.
Farbenhören, Stimmenriechen
Ist „Die florentinische Krankheit“ ein Krimi?
Teils, teils, denn der außergewöhnlich vielschichtige Roman des Autor bedient noch weitere Genre. In erster Linie offenbart er eine schamlose, exzessive, zerstörerische, ja kranke Liebesgeschichte. Denn Gerber sucht in dieser Stadt nach seiner ehemaligen Geliebten – Sophia, eine Kunsthistorikerin. Während er durch die Gassen schlendert, liest er immer wieder in deren Dissertation und Tagebuch, das in seinem Besitz ist und das als Wegweiser fungiert. So erschließt sich ihm – und gleichfalls dem Leser – die erotische Ausstrahlung der Bilder und Skulpturen, von denen Florenz so übervoll ist. Auf Sophias Spuren wird er überflutet von den Reizen der Stadt. Zunehmend gleitet er ab in irrlichternde, alptraumhafte Halluzinationen. Ist Gerber dem Stendhal-Syndrom verfallen? Jenem Phänomen, von dem der französische Schriftsteller 1817 als erster berichtete, das sich mit Herzrasen, Schwindel und Verwirrung bemerkbar macht und bis heute immer wieder verstörte Touristen in die Psychiatrie einliefern lässt?
All diese außergewöhnlichen „Florenz-Syndrome“ haben Willi Achten zu einem multiplen Roman – einer Mischung aus Stadtführer und Krimi, Kunst- und Liebesgeschichte – inspiriert. Dabei nimmt er den Leser an die Hand, schlendert mal langsam und bedächtig, dann wieder rasend und gehetzt durch die Straßen der toskanischen Stadt. Die nahezu authentische Melange aus visuellen, akustischen und olfaktorischen Reizen, ein Farbenhören und Stimmenriechen, versetzt den Leser fast wahrhaftig an den Ort des Geschehens mit seinen Reizüberflutungen.
Hinzu kommt ein Vermischen von drei Zeitebenen: Gerbers Romanze mit Sophia, die beinahe paranoide Suche nach ihrem Verschwinden und seine letztendliche „Endstation“ auf der psychiatrischen Station von Santa Maria Nuova. Namen und Orte überschneiden sich immer wieder. „Es sind die Details, die uns verrückt machen…“, berichtet Gerbers Psychotherapeutin. Der Autor vermag derartig suggestiv zu schreiben, dass man meint, selbst von dieser neurologischen Überreizung und einem Gefühl der Irrealität betroffen zu sein. Vielleicht, weil manchmal „das Leben so bizarr und exzentrisch wie die Kunst“ ist. Doch Willi Achten verknüpft die vielen Einzelheiten faszinierend zu einem erstaunlichen Ganzen, bei dem alles mit allem zusammenhängt.
Fazit:
„Die florentinische Krankheit“ offenbart eine bizarre, undurchsichtige Allianz aus Vergessen und Erinnern, Verlust und Schmerz in der Liebe, Kunstgenuss und krankhafte -manie, Zufall und Schicksal. Es ist ein Roman voller Versteckspiele und doppelter Böden, bei dem man zeitweise nicht mehr weiß, wo die Wachheit endet und Schlaf und Traum beginnen. Willi Achten webt einen brillanten Teppich aus imaginären und teilweise surrealistischen Sinnesreizen, Bildung und Spannung par excellence, in einer Stadt, die alles zu binden scheint und „die Welt im Raum verschwinden lässt“.
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