Interdisziplinär und voller Überraschungen: Comicforschung
Der diesjährige „Internationale Comic-Salon“ vom 3. bis 6. Juni 2010 hat das Medium Comic wieder in die Medien gebracht. In Erlangen, das die Veranstaltung alle zwei Jahre beherbergt, fanden sich anlässlich des Comic-Salons nach Angaben der Veranstalter mehr als 25.000 Besucher ein. Der Comic-Salon besteht aus einer Vielzahl von Veranstaltungen, die zum einen in der zentralen Heinrich-Lades-Halle stattfinden, zum anderen an den unterschiedlichsten Orten in der gesamten Stadt wie Galerien, Buchhandlungen und Cafés. In diesem Jahr waren ungefähr 30 Ausstellungen zu verschiedensten Themen über die Stadt verteilt. So veränderte sich das Stadtbild erheblich: am auffälligsten durch die „Cosplayer“, die sich anziehen wie die Helden ihrer Lieblingscomics, vor allem der Mangas; hier hat sich schon seit einigen Jahren eine Parallelwelt der meist jugendlichen) Fans gebildet, die auch zur Belebung der Buchmessen in Leipzig und Frankfurt erheblich beiträgt. Bemerkenswert ist aber zudem, dass auch in diesem Jahr wieder offensichtlich die ernsthafte Reflexion über die Bildgeschichten viele Besucherinnen und Besucher nach Erlangen führte. Die angebotenen Führungen durch Ausstellungen waren gut besucht und das Comic-Podium, das sich in Vorträgen, Gesprächsrunden und Podiumsdiskussionen mit vielen Aspekten der Comic-Kunst und des Comic-Markts auseinander setzte – unter anderem mit einer Vortragsreihe über Comic und Politik – fand alleine weit über 2.000 Interessenten. Dieser Programmteil des Comic-Salons wurde wesentlich von der Deutschen Gesellschaft für Comicforschung (ComFor) gestaltet und beinhaltete Vorträge zu den politischen Dimensionen der Comic-Kunst, vor allem zur Auseinandersetzung mit dem Totalitarismus. Hier sprachen beispielsweise Ralf Palandt über „Braune Comics?! Bilder vom rechten Rand der Gesellschaft“ und Guido Weißhahn über „Geballte Faust und rotes Herz. Politische Comics in der DDR“; Martin Frenzel hielt einen Vortrag mit dem Titel„Über ‚Maus‘ hinaus. Holocaust und NS-Verbrechen im Comic: Von Berni Krigsteins ‚Master Race‘ bis Mikael Holmbergs ‚26.november‘“. Es ist auffallend, dass hier sehr sachlich und auf hohem Niveau diskutiert wird. Die Szene, die offensichtlich nicht nur aus ältlichen Sammler-Nerds oder jugendlichen Kostümfetischisten besteht, ist um Professionalisierung bemüht, der Comic wird historisch und systematisch aufgearbeitet und die Protagonisten der Forschung in diesem Bereich müssen methodologisch nicht hinter ihren Kollegen aus anderen Wissenschaftsbereichen zurückstehen. Anläßlich dieser neuen Beispiele für eine intensive seriöse Beschäftigung mit dem Comic ist es vielleicht sinnvoll, sich zu fragen, seit wann es diese Erforschung des Comics schon gibt.
Ich beschränke mich hier auf den deutschsprachigen Raum, in dem erst die Beschäftigung mit Literaturformen außerhalb des klassischen Kanons in den 60er Jahren auch der Comicforschung das Feld bereitete. Man könnte sagen: als die Pop-Kultur zu einer Selbstverständlichkeit geworden war und damit ihre Historisierung beginnen konnte, begann auch die Erforschung des Mediums Comic. Öffentlich kam das zum Ausdruck mit der Ausstellung, die die Berliner Akademie der Künste 1970 präsentierte: “Comic-Strips – Geschichte, Struktur, Wirkung und Verbreitung der Bildergeschichten“. Mit dieser Ausstellung war ein Colloquium verbunden, das von Dezember 1969 bis Januar 1970 ging. Im Jahr darauf, 1971, erschien eine der ersten großen Bestandsaufnahmen des Mediums, nämlich „Comics. Anatomie eines Massenmediums“ von Reinhold C. Reitberger und Wolfgang J. Fuchs. Dieser Publikation erster wissenschaftlicher Beiträge zum Comic war vorausgegangen, dass in den 60er Jahren erste Comics erschienen waren, die explizit an ein erwachsenes Publikum gerichtet waren. Als stilbildend muss hier wohl „Barbarella“ von Jean-Claude Forest aus dem Jahre 1964 genannt werden. Indem auch ältere Leser sich mit dem Medium zu beschäftigen begannen, eröffneten sich auch mehr Möglichkeiten für die Forschung.
Diese, die wissenschaftliche Aufbereitung, ist nur eine Seite der beginnenden Comicforschung. Die andere Seite ist mit dem Ausdruck „Fanliteratur“ zu bezeichnen. In der Beschäftigung mit den Comics spielt diese eine wichtige Rolle und der Comicforscher Eckart Sackmann hat in seinem hervorragenden Übersichtswerk „Die deutschsprachige Comic-Fachpresse“ aus dem Jahr 2000 materialreich gezeigt, wie zu Beginn der 70er Jahre Fan- und Fachzeitschriften entstehen, in denen Begeisterte von ihrem Hobby erzählen und dabei immer systematischer und zielgerichteter das Material sichten und diskutieren. Es handelt sich um eine Professionalisierung durch konsequentes Verfolgen der eigenen Leidenschaft im öffentlichen Rahmen in der Tradition der sogenannten „dilettanti“. Wenn wir diese Entwicklung wissenschaftsgeschichtlich einordnen, dann können wir sagen, dass es ab einem gewissen Zeitpunkt dazu kommt, dass sich die Tätigkeiten Einzelner vernetzen, dass Institutionen entstehen, die dem Hobby einen ganz neuen Rahmen bieten. Deutschland vollzieht hier ungefähr 20 Jahre später eine Entwicklung nach, die man in den USA seit den 50er Jahren verfolgen kann.
Deutlicher Ausdruck dieser Beschäftigung mit dem Medium in Deutschland ist die Gründung der INCOS, der Interessengemeinschaft Comic-Strip im Jahr der Akademie-Ausstellung, also auch 1970. Im Gründungsprotokoll können wir lesen: „Die INCOS bezweckt die kritische Beschäftigung mit dem Phänomen Comic-Strip in all seinen Erscheinungsformen und Wirkungsbereichen.“ 1971 erschienen die ‚INCOS-Nachrichten # 1‘. Nicht verwechseln sollte man diese Vereinigung mit dem Berufsverband der Comic-Zeichner, ICOM, der seit 1981 besteht. Ein weiteres Symbol für die zunehmende Verschränkung von Comic-Fanszene und Comicwissenschaft ist der 1. Deutsche Comic-Kongress, der 1973 in Berlin abgehalten wurde. Während in der zweiten Hälfte der 60er Jahre erste Einzelpublikationen erschienen, beginnt in den 70ern also das übergreifende Gespräch und eine umfassendere Sekundärliteratur zum Comic entsteht. Bemerkenswert für die Entstehung der Comicenthusiastenszene ist, dass sie in gewisser Weise auf den Strukturen der Science-Fiction-Szene aufsetzte. Auch die Science Fiction war in Deutschland nach dem Krieg eher als Schundliteratur betrachtet worden und arbeitete sich erst langsam aus diesem Ruf heraus. Vielleicht gab es hier eine Solidarität der „Underdogs“, vielleicht ergaben sich aus der Gemeinsamkeit der Vertriebsstrukturen Gemeinsamkeiten, da auch die Science Fiction-Literatur zunächst über Heftchen am Kiosk vertrieben wurde. In jedem Fall wäre die Weiterentwicklung der Fanszene im Comicbereich nicht möglich gewesen ohne die Verbindungen, Zeitschriften und Veranstaltungen, die Science-Fiction-Leser schon geschaffen hatten. So entstand auch die schon erwähnte INCOS aus einer Gruppe von Berliner Science-Fiction-Begeisterten.
Als eines der Beispiele für die Professionalisierung der Fan-Literatur sei die „Deutsche Comic-Bibliographie“ von Peter Skodzik aus dem Jahre 1978 erwähnt. In ihr wurden 18.700 Einzelpublikationen aus dem Zeitraum 1946 bis 1970 erfasst. Allerdings dauert es noch bis in die 80er Jahre bis auch Methodenbewusstsein und Abgrenzung gegen andere Wissenschaftsbereiche der Comic-Forschung eine klarere Kontur geben. Höhepunkte der bisherigen Professionalisierungsbemühungen stellen die Gründung der Arbeitsstelle für Graphische Literatur 1990 an der Universität Hamburg und die Gründung der Deutschen Gesellschaft für Comicforschung (ComFor) 2005 dar. Im Umkreis der ComFor wird auch das „Jahrbuch Comicforschung“ herausgegeben, das wichtige Beiträge sammelt, die auf wissenschaftlichem Niveau vor allem den deutschen Comic behandeln. Damit ist auch in Deutschland die seriöse Beschäftigung mit dem Medium endlich deutlich sichtbar und institutionalisiert in Gang gekommen; es bilden sich Forschungs- und Diskussionsstrukturen heraus. Institutionell sind die die schon erwähnte Arbeitsstelle für Graphische Literatur an der Universität Hamburg, angesiedelt am dortigen Institut für Germanistik, von Bedeutung sowie das Wilhelm-Busch-Museum in Hannover, das Institut für Jugendbuchforschung an der Universität Frankfurt sowie das Museum für Komische Kunst (wenngleich sich letzteres mehr auf Karikaturen konzentriert).
Dass und wie sich die Comicforschung in Deutschland erst relativ spät etablierte, das ist sicherlich auch mit dem Kulturbruch der nationalsozialistischen Diktatur zu erklären. Neben dem Jazz waren die Comics ein äußerst ungern gesehener kultureller Gast in Hitlers Reich. Und die Verfemung der Bildergeschichten sank tief ein ins deutsche Gemüt – so tief, dass noch nach dem Krieg öffentlich Comics verbrannt wurden bzw. öffentliche Leihbibliotheken anboten, den „Schund“ gegen richtige Literatur einzutauschen. Die Comics wurden – berechtigt oder nicht – zum Symbol für die Verflachung und Amerikanisierung Deutschlands, eine Art ästhetische reeducation.
Gerade die gebildeten Schichten, in denen eigentlich die intellektuelle Neugier hätte gepflegt werden können, sperrten sich gegen die Anerkennung und befürchteten eine die Entstehung einer Generation von Analphabeten durch die Bilderschriften. Auch die 1954 gegründete „Bundesprüfstelle für jugendgefährdende Schriften“ spielte hier nicht immer eine glückliche Rolle.
Woher kommen nun eigentlich die Comicforscher? Aus dem oben Gesagten, zusammengenommen mit der schlichten psychologischen Einsicht, dass Verbotenes besonders reizt, lässt sich ableiten, dass viele Comic-Enthusiasten gerade von der Tabuisierung zu einer intensiveren Auseinandersetzung mit dem Medium gebracht wurden. Wie sind sie aber fachlich einzuordnen? Man findet neben den Fans Soziologen und Kunsthistoriker ebenso wie Sprach- oder Literaturwissenschaftler, in neuerer Zeit auch Medienwissenschaftler. Es ist interessant, zu verfolgen, wie sich – je nach der fachlichen Herkunft – die Themen und Methodiken unterscheiden. Natürlich neigen die Literaturwissenschaftler dazu, vor allem Erzählstränge und -strategien zu untersuchen, Kunsthistoriker dazu, das einzelne Bild zu betrachten bzw. Zeichenstile zu beschreiben. Die Themenfelder sind ebenfalls sehr unterschiedlich: Zusammenhänge zwischen dem Comic und gesellschaftlichen Tendenzen werden untersucht (so fand vor kurzem, ebenfalls in einer Evangelischen Akademie, nämlich in Bad Boll, eine Tagung zum Thema „Rechtsextremismus und Comics“ statt), einzelne Künstlerpersönlichkeiten wie Jean Giraud, auch Moebius genannt, Hugo Pratt, Will Eisner, Hal Foster, Chris Ware, Jacques Tardi oder Carl Barks dargestellt; die nationalen Comic-Kulturen analysiert oder Publikationsstrategien von Verlagen oder Zeitungen untersucht. Ein Beispiel für letzteres ist die Erforschung des Comic-Strips in Zeitungen durch Bill Blackbeard, der die größte Sammlung von Comics aus Zeitungen zusammengetragen hat; diese Sammlung ist heute Bestandteil der San Francisco Academy of Comic Art.
Auch Fachzeitschriften sind von zunehmender Bedeutung. Hier sei eigens erwähnt (und gelobt!) die Zeitschrift „Reddition“, die jedes Heft als Dossier zu einem bestimmten Künstler oder Themenkreis gestaltet. Unabhängig davon gibt es zahllose „Fanzines“, als Magazine für Fans, die jeweils ihre Spezialthemen behandeln wie z.B. die Zeitschrift Bastei-Freunde für Veröffentlichungen des Bastei Verlags oder die Veröffentlichungen der diversen Hansrudi Wäscher-Clubs. Eine große Bedeutung für die Dokumentation der Comic-Landschaft hatte die Zeitschrift „Comixene“, die von 1974 bis 1982, dann Mitte der 90er erschien und nun seit einigen Jahren in veränderter Form wieder auf dem Markt ist.
Auch in der Verlagsszene gibt es mittlerweile Spezialverlage für die Comic-Sekundärliteratur, so beispielsweise den vor kurzem gegründeten Bachmann Verlag in Bochum oder das Unternehmen comicplus+. Man kann also sagen, dass die wissenschaftlichen Bemühungen auf einem immer breiteren publizistischen Fundament ruhen. Das wird entscheidend für die nächsten Jahre sein: Gelingt es der Comicforschung endgültig eine breite interessierte Öffentlichkeit einerseits und die wissenschaftliche community der für sie wichtigen Fächer andererseits zu erreichen? Wird sie sich professionalisieren ohne die Sichtbegrenzungen der verschiedenen wissenschaftlichen Fächer zu übernehmen? Nimmt sie ihre Chance zur Interdisziplinarität wahr? Bewahrt sie kritische Distanz zu den Forschungsmoden und „Diskursen“, die die Karrieren im Wissenschaftsbetrieb bestimmen? Wird es weiterhin ein produktives Miteinander von Fan und Forscher geben? Beim nächsten „Internationalen Comic-Salon Erlangen“ wissen wir mehr…
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