Das politische Ideal der Demokratie ist der citoyen (sc. m/w/d citoyenne), der/die/das mündige Bürger, der am Leben seines Gemeinwesens, der res publica, aktiv Anteil nimmt. In der Schweiz, wo über alle möglichen Gesetze auf Kantons- und Bundesebene direkt abgestimmt wird, ist das Prinzip seit langem verwirklicht. Hierzulande steht das Konzept der plebiszitären Demokratie, immerhin in Art. 20,2 GG als Element der Staatsgewalt festgehalten, unter Populismusverdacht, weshalb es nur äußerst sparsam – bei Radwegen in den Innenstädten, aber nicht bei Windkraftparks in der freien Natur – zur Anwendung kommt.Aktivbürgertum – oder partizipatives Demokratieverhalten – kommt im bundesrepublikanischen Parteienstaat am besten durch Mitgliedschaft in einer der Parteien – natürlich nicht in allen ! – zur Geltung. Falls als demokratisch ausgewiesen, ermöglichen sie dem Mitglied zuweilen auch eine politische Karriere, zumindest einen besseren Zugang zu den gehobenen Stellen im öffentlichen Dienst oder in den öffentlich-rechtlichen Rundfunkanstalten. Die große Mehrzahl der Bürger, sofern nicht in einer oder mehreren – parteinahen, meist grünen – NGOs, sprich: in der Zivilgesellschaft, verankert, nehmen am politischen Leben als Konsumenten der Talkshows sowie an den Wahlen teil, wozu sie als der originäre Souverän periodisch aufgerufen sind.
Wer die Wahl hat, hat die Qual, lautet das Sprichwort. Die Zeiten, da es – geprägt durch Herkunft, Klasse, Konfession und Einkommen – relativ feste Parteibindungen gab und das Wählen leichter fiel, sind im Zuge der Individualisierungstendenzen der postmodernen Gesellschaft vorbei. Wer also angesichts der bedrohten Umwelt und der Energiekrise nicht zu den zehn bis fünfzehn Prozent Stammwählern (sc. -innen) der Grünen gehört, tut sich bei der richtigen Stimmabgabe schwer. Als Ratgeber bieten sich die von der Bundeszentrale für politische Bildung (BpB) sowie von den entsprechenden Landeszentralen angebotenen Wahl-O-Maten an. Aus der Addition der Antworten auf bewusstseinsschärfende Fragen – e.g. Cannabisfreigabe: ja/nein/neutral/überspringen – resultieren, am Ende durch einen Klick des Users zu ermitteln, skalierte Parteipräferenzen. Wer bei den Fragen (verh+llt in statements) nicht aufgepasst hat, läuft Gefahr, bei den Extremen und/oder Spinnern zu landen. Er hat sich aus der guten Gesellschaft der demokratischen Parteien selbst ausgeschlossen.
Die demokratische Hilfstechnik (politenglischer Terminus „Tool“) ist inzwischen nicht nur „in fast allen europäischen Demokratien“ verbreitet – so die FAZ v. 16.9.2022, S.8 –, sondern wird neuerdings von den o.g. Bildungszentralen auch bei Direktwahlen zum Amt des/der Oberbürgermeister/ in deutschen Städten zur Verfügung gestellt. Das Tool heißt Kandidat-O-Mat. Eben dies hat bei den in Baden-Württemberg anstehenden OB-Wahlen Unmut hervorgerufen. In Tübingen beschwert sich der – auf eigenem Ticket kandidierende, da als Grüner „umstrittene“ – Amtsinhaber Boris Palmer über die Aufladung der Fragen, die zugunsten seines grünen Konkurrenten präpariert seien. Der frühere grüne Freiburger OB Dieter Salomon macht den neugrün geeichten Wahl-O-Mat für seine Niederlage 2018 mitverantwortlich. Auch der seine Wiederwahl anstrebende CDU-nahe Heidelberger OB Eckart Würzner stößt sich am Thesen-Katalog und kritisiert, dass die – angeblich komplexitätsreduzierenden – Fangfragen der Landeszentrale von – naturgemäß grünlinken – Studenten und Jugendlichen formuliert worden seien.
Derlei Kritik an den „Voting Advice Applications“ (VAA) ruft die demokratiebewussten Politikwissenschaftler Thomas Waldvogel und Michael Wehner auf den Plan. Sie befürworten den Wahl-O-Mat nicht nur als spielerisches Tool zur Wahlinformation, sondern empfehlen ihn insbesondere für Männer mit niedrigem Bildungsgrad und geringen „politischen Effektivitätsüberzeugungen“. Bei allen anderen sitzen die Überzeugungen fester.
Quelle: Globkult